Dmitri Schostakowitsch: Die Erinnerung wach halten

Erster Teil
Schostakowitsch, von 1906 bis 1975 sein ganzes Leben in Russland und der Sowjetunion verbringend, hat große und vielfältige Musik geschaffen. Schostakowitschs Werke sind musikalischer Zeuge, Chronist und Ankläger der Stalinisierung der Sowjetunion. Sie sind allerdings noch mehr – Musik auf der Höhe des 20. Jahrhunderts, von seltener Tiefe, Ironie, Intelligenz, Erschütterung und Hoffnung.

Ich wäre gerne auch weise.

In den alten Büchern steht, was weise ist:

Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit

Ohne Furcht verbringen

Auch ohne Gewalt auskommen

Böses mit Gutem vergelten

Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen

Gilt für weise.

Alles das kann ich nicht:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

(aus: Bertolt Brecht „An die Nachgeborenen“)

 

Gemünzt sind diese Zeilen auf den barbarischer werdenden Kapitalismus, der 1933 seine Herrschaft in Deutschland nur mittels der faschistischen Horden Hitlers aufrecht erhalten konnte. Doch auch der Zeitgenosse Brechts, der sowjetische Komponist Dmitri Schostakowitsch, hätte wohl in der Sowjetunion unter Stalin lebend diesen Worten zustimmen können.

von Ingmar Meinecke

Warum sollen wir uns in einem politischen Journal, einem sozialistischen Magazin überhaupt mit der Musik eines klassischen Komponisten auseinandersetzen? Natürlich kann etwas Allgemeinbildung nicht schaden. Doch gewiss werden wir uns hier nicht mit musikwissenschaftlichen Analysen befassen. Eine Entspannung vom rein Politischen wird gewiss auch so manchem gut tun. Denn der Mensch lebt nicht von Politik allein. Doch gibt es noch zwei weitere wesentliche Punkte, die für die Beschäftigung mit Schostakowitschs Musik und ihrer Entstehung sprechen. Zum Ersten kann uns Schostakowitschs Musik zu einem besseren, tieferen und komplexeren Verständnis der Entwicklung der Sowjetunion führen – beginnend beim Aufbruch der Oktoberrevolution über ihre Vereinnahmung, Verstümmelung und Umkehrung durch Stalin und die Bürokratie, zur Tauwetter-Periode unter Chruschtschow bis schließlich hin zur Stagnation und dem Niedergang der Breschnew-Ära. Sie kann auch unsere Trauer und unsere Wut über die Stalinschen Henker Tausender Arbeiterinnen und Arbeiter und unzähliger Bolschewiki aufs Neue entfachen. Sie kann unsere Gefühle klären. Zum Zweiten gilt es aber aus der Entwicklung der Kunst in der Sowjetunion Lehren zu ziehen darüber, wie sich die Politik der Kunst gegenüber in einer zukünftigen wahrhaft sozialistischen Gesellschaft verhalten soll. Am Beispiel der Person Dmitri Schostakowitsch lässt sich darüber viel sagen.

Über Schostakowitsch wurde in den letzten Jahrzehnten viel diskutiert. Allerhand Leute stritten sich bis auf das Messer darüber, ob er nun ein linientreuer Kommunist sowjetischen Musters wäre oder ein Dissident, der den Bolschewismus innerlich hasste. Diese Debatte diente einer Reihe der Publizisten über weite Strecken wohl mehr dazu, eine bedeutende Leiche in das Lager der eigenen politischen Ansichten zu legen, als wirklich etwas über Schostakowitsch, seine Musik und die Entwicklung der Sowjetunion zu verstehen. Dmitri Schostakowitsch forderte selber immer dazu auf, seiner Musik zuzuhören. Darin sei alles enthalten. Dies ist eine einem Komponisten angemessene Haltung. Denn sein Ausdruck ist nun einmal die Musik. Daher wollen wir hier auch hauptsächlich über seine Musik schreiben. Nichtsdestotrotz sind wir jedoch darauf angewiesen, auch über ihre Entstehung und ihr gesellschaftliches Umfeld zu reden. Daher wird zum Einen eine Reihe von Freunden, Kollegen und Zeitgenossen zu Wort kommen. Zum Anderen werden wir aber auch die „Memoiren des Dmitri Schostakowitsch“ zitieren. Zu diesem Buch muss man jedoch ein paar Anmerkungen machen. Es erschien erstmalig Ende der 70er Jahre nach dem Tode Schostakowitschs in den USA unter dem Titel „Testimony“ – also „Zeugenaussage“. Heraus brachte es ein junger Student Schostakowitschs – Solomon Wolkow. Dieser gab an, gegen Anfang der 70er Jahre mit Schostakowitsch lange Gespräche geführt zu haben, die er dann in Ich-Form auf das Papier brachte. Schostakowitsch soll selbst die Manuskripte durchgesehen haben. Nach Schostakowitschs Tod 1975 schmuggelte Wolkow diese Aufzeichnungen in die USA, wo er sie schließlich veröffentlichte. Dieses Buch löste eine heftige Kontroverse aus, war doch in ihm nichts vom linientreuen Staatskomponisten der Sowjetunion zu finden, als den man ihn im Westen gerne sah. Die Echtheit dieser Memoiren wurde massiv angezweifelt. Wir werden die Debatte um dieses Buch hier nicht nachvollziehen. Auf jeden Fall mehrten sich über die 80er Jahre die Stimmen, die es doch in großen Teilen für authentisch hielten. Zum Beispiel begann der Sohn Schostakowitschs, Maxim Schostakowitsch, nach seiner Emigration 1981 aus der Sowjetunion nach und nach den Inhalt des Buches anzuerkennen. Auch zahlreiche ehemalige Musikerkollegen und -kolleginnen waren dieser Meinung. Allerdings hält die letzte Frau Schostakowitschs, Irina Antonowna Schostakowitsch, an ihrer Ablehnung fest. Die letzte Wahrheit wird sich so nie ganz herausstellen. Wir werden in diesem Artikel aus den Memoiren zitieren. Trotzdem muss man natürlich sehen, dass das Buch hier und dort Einfärbungen von Solomon Wolkow haben wird. Das ist bei einer solchen Form und solchen Entstehungszuständen kaum zu vermeiden. Zum Anderen stammen die Memoiren aus den letzten Lebensjahren Schostakowitschs, einer von Stagnation und Resignation in der Sowjetunion geprägten Zeit – der Ära Breschnew. Hoffnungen der kurzen Tauwetterperiode unter Chruschtschow hatten sich zerschlagen. Das gesellschaftliche Klima schlägt sich natürlich auch auf die Stimmungen und Einschätzungen der Menschen nieder, auch auf die Schostakowitschs. Wir dürfen daher nicht annehmen, dass jede Passage der Memoiren Schostakowitschs Einschätzung und Meinung zu jeder Zeit widergibt. Es ist die Aufnahme der 70er Jahre, nach mehreren Jahrzehnten großer psychischer und physischer Angst, zig Aufführungsverboten und offiziellen Lobpreisungen gleichermaßen und einer doch nicht ganz erstickten Hoffnung auf eine wirklich bessere Gesellschaft, einem Glauben an die Hoffnungen der Jugendzeit. Um diese Entwicklung zu verstehen, kehren wir nun zum Anfang zurück, in die 20er Jahre.

Ein junges Talent nach dem Oktober

Es scheint ein Wunder zu sein, dass es nach der Oktoberrevolution trotz einem erbitterten Bürgerkrieg und der Zerrüttung der Ressourcen des Landes in den Zwanzigern zu einem ungemeinen Aufblühen der Kunst in der Sowjetunion kommt. Filme wie Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ haben selbst heute noch nichts von ihrer Wirkung verloren. Aber nicht nur im Film wurden neue Maßstäbe gesetzt – auch das Theaterleben versuchte neue Wege zu beschreiten. Das alte zaristische Russland hatte für die Masse der Bevölkerung nichts als eine kulturelle Dürre geschaffen, die oft durch religiösen Aberglauben gefüllt wurde. 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten. Allerdings bot gerade dieser Fakt dem Theater oder auch der Plakatkunst nach der Revolution lebhafte Anwendung, denn oft hatten theatralische Vorstellungen oder Plakate die Zeitung zu ersetzen. Innerhalb weniger Jahre entstanden mehr als 3000 Theater und Experimentalbühnen. Regisseure wie Jewgeni Wachtangow, Wsewolod Meyerhold und Alexander Tairow stürzten sich in die Arbeit. Insbesondere Meyerhold war ein Avantgardist im Theater, der dieses auch in den Dienst der Revolution und des Aufbaus des Arbeiterstaates stellen wollte. Er entwickelte sein biomechanisches Theater und griff auch wieder auf volksnahe, vorbürgerliche Traditionen des Theaters wie der Comedia dell arte (im 16. Jahrhundert entstandende italienische Stegreifkomödie) zurück. In der Dichtung gingen ebenfalls insbesondere die Avantgardisten mit der Revolution, zum Beispiel die russischen Futuristen, deren wohl bekanntester Vertreter Majakowski ist. In diesem allgemeinen Klima studierte der junge Schostakowitsch am Petrograder Konservatorium. Ein großer Teil der führenden Komponisten Russlands hatte das Land verlassen, so Rachmaninow, Strawinski und Prokofjew. Der heute leider nicht mehr allzu bekannte Komponist und damalige Direktor des Petrograder Konservatoriums, Alexander Glasunow, war allerdings geblieben. Er wurde Schostakowitschs Lehrer, dem Schostakowitsch zeitlebens in Dankbarkeit und tiefem Respekt verbunden blieb. Schostakowitschs Eintritt ins Konservatorium war nur folgerichtig. Er hatte schon sehr frühzeitig Neigung und Talent gezeigt, sich jedoch am Anfang eher als Pianist betätigt, erprobte sich jedoch auch schon in der Komposition. Eine der ersten Früchte in dieser Richtung war das Klavierstück „Trauermarsch zum Gedächtnis der Revolutionsopfer“. Dies war die musikalische Reaktion eines Elfjährigen auf die Februarrevolution 1917. Die Familie des jungen Dmitri Schostakowitsch war sehr freidenkerisch eingestellt. Der Großvater väterlicherseits war Pole und nahm am Aufstand gegen das zaristische Regime im Jahre 1863 teil und wurde nach Sibirien verbannt. Schostakowitsch bezeugte selbst, dass die Ereignisse des Jahres 1905, der ersten, nicht erfolgreichen Revolution gegen den Zaren, viel Platz in den Gesprächen der Familie einnahmen. Er war der Umwälzung, die die Oktoberrevolution einleitete, offen gegenüber, ohne dass er sich selbst direkt politisch betätigte. Auch musikalisch begann er auf neuen Wegen zu schreiten, ähnlich den älteren Komponisten Strawinski und Prokofjew. Die Erschütterungen der Zeit, die Geschütze und die Qualen des ersten Weltkrieges, der Donner der Revolution schlug sich in einer wesentlich dynamischeren und dissonanteren Musik nieder. Er bewunderte auch sehr Gustav Mahler und Alban Berg. Obwohl sein Lehrer Glasunow gewiss noch aus einer anderen musikalischen Periode kam, so war er Schostakowitsch ein gewissenhafter Lehrer. So erinnert er sich daran, dass Glasunow ihm bezüglich eines Scherzos (ein bewegter und meist heiterer Satz in einer Symphonie) den Rat gab, es sei „die Hauptsache, dass es den Hörer interessiere“. Es müsse anziehend, spannend und unerwartet sein. Diesen Rat hat sich Schostakowitsch offenbar sehr zu Herzen genommen.

Am 12. Mai 1926 gelangte Schostakowitschs Erste Symphonie zur Premiere. Mit dieser beschloss er gerade einmal im Alter von 19 Jahren sein Studium am Leningrader Konservatorium. Sie brachte ihm sofort große Bekanntheit im In- und Ausland ein. In der Tat ist die Erste ein an Farben, Stimmungen, Themen und instrumentalen Umsetzungen ungeheuer reiches Werk, der man auch die jugendliche Kraft ihres Komponisten anhört. Allerdings hatte sich der talentierte Dmitri Schostakowitsch diesen Erfolg auch hart erarbeitet. Er hatte sich mit allen Genres und Formen beschäftigt, hatte schon Lieder geschrieben und nebenbei im Kino als Stummfilmpianist gearbeitet. Diese Arbeit verdient ein paar Worte. Schostakowitsch hat später diese Arbeit als harte Brotarbeit bezeichnet, die er keineswegs aus freien Stücken gemacht hat. Doch er brauchte dringend das Geld, auch um die Behandlung seiner Tuberkulose bezahlen zu können. Selbst seinen Lohn musste er sich beim Besitzer des Kinos hart erstreiten. Filmmusik sollte in seinem Leben später noch eine wichtige, ziemlich widerspruchsvolle Rolle spielen. Aber eventuell hat die Begleitung von Filmen auf dem Klavier zwei wichtige Aspekte seiner Musik zu entwickeln geholfen. Zum Einen die Kunst, Humor, Ironie und Satire in Noten zu setzen, zum Anderen einen erzählenden und darstellenden Charakter in der Musik zu stärken. Damit beginnen die unterschiedlichen Stimmen in der Musik ähnlich wie im Theater miteinander zu streiten, zu kämpfen, zu harmonieren. Ist die Musik wohl unter den Künsten auch die abstrakteste (wenn wir einmal von den mit Worten unterstützten Liedern absehen), so erweitert dieser erzählende Charakter in der Art eines Theaterspiels die Greifbarkeit der Musik doch bedeutend. Auf jeden Fall begann mit harter Arbeit Schostakowitschs Erfolg als Komponist. Er war zu ständiger Arbeit schon verdammt, um Geld zu verdienen. Rückblickend charakterisiert er sich in den Memoiren selber wie folgt: „Ich habe mein Leben nicht als müßiger Gaffer verbracht, sondern als Proletarier. Von Kind an habe ich sehr viel gearbeitet – nicht um ‹mein Potential› zu erkunden – sondern körperlich geschuftet. Ich wäre gern herumflaniert, hätte gern herumgelungert und mich umgeschaut, aber ich musste arbeiten.“ Nach dem Erfolg seiner Ersten Symphonie und einem Misserfolg als Pianist bei einem internationalen Wettbewerb in Warschau entschied er sich wohl endgültig seine Arbeit der Komposition zu widmen und nicht die Laufbahn eines Konzertpianisten einzuschlagen.

Somit hatte die sowjetische Musik in der zweiten Hälfte der 20er einen selbstbewussten und kühnen jungen Komponisten mehr. Es folgten bald zwei weitere Symphonien, 1927 die Zweite und 1930 die Dritte. Beide waren Auftragswerke und hatten einen programmatischen Charakter. Während die Zweite den Untertitel „An den Oktober“ trägt, also der Oktoberrevolution gewidmet ist, so war die Dritte für den 1. Mai als internationalem Kampftag der Arbeiterinnen und Arbeiter geschrieben. Diese Arbeiten experimentieren sehr viel mit den Mitteln. Der junge Schostakowitsch suchte die ihm entsprechende Ausdrucksweise. Beide Werke bestehen nur aus einem Satz und entsprechen damit nicht dem klassischen Aufbau der Symphonie. Die Form der Symphonie galt vielen neuen sowjetischen Musikern als bürgerlich und tot. Werke wie Schostakowitschs Erste Symphonie wurden eher im Rahmen der musikalischen Ausbildung akzeptiert. In der Tat war dem Pathos der Beethovenschen Symphonie die soziale Grundlage entzogen. Denn von den revolutionären und fortschrittlichen Tendenzen des Bürgertums war nichts übrig geblieben. Von dieser Entwicklung war auch Schostakowitsch nicht unberührt geblieben. Die Atonalität der Zweiten gibt dafür ein gutes Beispiel. Beide Symphonien werden heute recht stiefmütterlich behandelt. Sie kommen gewiss musikalisch nicht an die späteren Werke heran. Aber auch ihr programmatischer Charakter sorgt heute eher dafür, sie links liegen zu lassen. Die Zweite Symphonie beinhaltet mehrere Tendenzen. Man hört die Dynamik der Revolutionstage und die dadurch freigesetzte Unruhe wie den Aufbruch in neue Zeiten. Der letzte Satz enthält dann einen Chor „Widmung für den Oktober“, der im damals und zum Beispiel auch bei Majakowski üblichen deklamatorisch-plakativen Stil gehalten war. Er endet mit den Worten:

Das ist unsere Losung,

der Name des neuen Zeitalters:

Oktober, die Kommune und Lenin.

Diese Verse stammten von Alexander Besymenski und waren Schostakowitsch vorgegeben. In ihnen ist neben dem revolutionären Pathos schon eine gewisse Schablonenhaftigkeit der Verherrlichung der Revolution 1917 zu bemerken. Auch der von Stalin massiv aufgebrachte Lenin-Kult warf seine Schatten auf diese Verse.

Schostakowitsch blieb bei diesen Experimenten allerdings nicht stehen, sondern zeigte bald seine Vielseitigkeit. Er verhielt sich nicht avantgardistisch snobistisch, sondern versuchte sich die volle Musiktradition anzueignen, sowohl die hohe Klassik wie die Traditionen der Volksmusik und auch der neuen Unterhaltungsmusik. Dabei hatte er viel seinem Freund Iwan Sollertinskij zu verdanken, der ein wahrer Renaissance-Mensch war, ein Experte auf dem Gebiet des Theaters, der Sprachen und der Musik. Sollertinskij vertrat im Wesentlichen eine ähnliche Auffassung wie Lenin und Trotzki in Bezug auf die bürgerliche Kunst. Man sollte sie nicht einfach hinter sich lassen, sondern sie sich kritisch aneignen. In der Musik empfahl Sollertinskij vor allem das kritische Studium Gustav Mahlers und seiner Symphonien. Denn Mahler sei im Gegensatz zu vielen anderen der Widerspruch zwischen Heroik und Pathos in der Musik und dem immer brutaleren, in Morast versinkendem Kapitalismus bewusst gewesen. Insbesondere machte Sollertinskij den jungen Schostakowitsch mit Mahlers Musik bekannt, die einen sehr bleibenden Eindruck im Schaffen Schostakowitschs haben sollte.

Es gibt auch eine Reihe von Kompositionen sehr populärer Musik, die in der Regel niemand Schostakowitsch zuschreibt. So wettete er 1928 mit dem Dirigenten Malko, dass er innerhalb einer Stunde Vincent Youmans „Tea for Two“ neu orchestrieren könne. Schostakowitsch legte los und hatte nach 40 Minuten eine sehr originelle Orchestrierung auf das Papier gebracht. Diese kam in der Sowjetunion unter dem Namen „Tahiti-Trott“ heraus und wurde bald von vielen Tanzkapellen gespielt. Sie wurde schließlich auch als Musik zwischen den Akten in Schostakowitschs Ballett „Das goldene Zeitalter“ aufgenommen. Bei jeder Vorstellung musste dieses Stück als Zugabe wiederholt werden.

Schostakowitschs musikalische Neugier setzte sich in den 20ern bald äußerst produktiv um. Er schrieb Musik für Aufführungen des Meyerhold-Theaters, ebenfalls Filmmusik, zum Beispiel für „Das neue Babylon“. Er widmete sich dem Ballett und es entstanden „Das goldene Zeitalter“ und „Der Bolzen“. Einen weiteren populären Höhepunkt erreichte seine Musik in einer Gattung, die eine ganze Reihe von Leuten schon als hoffnungslos bürgerlich überholt aufgegeben hatten – der Oper.

Seine erste Oper „Die Nase“ basierte auf einer Erzählung gleichen Namens von Nikolai Gogol. Sie war eine scharfe Satire: Eines Morgens stellt der Bürokrat, Kollegienassessor Kowaljow, bei einem Blick in den Spiegel entsetzt fest, dass seine Nase fehlt. Er stürzt zur Polizeistation und trifft auf dem Weg dorthin die Nase in der Uniform eines Staatsrats, die sich in der Kathedrale unter die Gläubigen mischt. Kowaljow will die Nase zur Rede stellen, diese lehnt ein Gespräch mit dem niederen Beamten aber ab und entflieht. Kowaljow ist nun gesellschaftlich erledigt, denn ohne Nase ist man kein Mensch. Schließlich wird nach der Nase gefahndet, Unruhe entsteht, doch am Ende gelangt Kowaljows Nase wie durch ein Wunder wieder in sein Gesicht. So erlebt Kowaljow das Ausgestoßensein aus der die Nase hochtragenden Bürokratie. Diese absurde Oper zeigte klare Tendenzen gegen die erstarkte Bürokratie in der Sowjetunion mit Stalin an der Spitze. Schon diese Arbeit dürfte Schostakowitsch ins Ziel eifriger Bürokraten gerückt haben. Doch seine nächste Oper, die überaus erfolgreiche „Lady Macbeth von Mzensk“, wurde zum Wendepunkt in seinem Leben als sowjetischer Komponist.

Die Bolschewiki und die Kultur

An dieser Stelle sind wir jedoch gezwungen von der Musik und Person Schostakowitschs kurz abzuschweifen und über die Entwicklung der Sowjetunion nach Lenins Tod und insbesondere die Gestaltung des kulturellen Lebens zu sprechen. Auf dem Gebiete der Kulturpolitik mussten sich die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution schnell orientieren und in hohem Maße improvisieren. Anatoli Lunatscharski wurde Kommissar für das Bildungswesen (Narkompros) in der neuen Regierung. Er war ein kulturell gebildeter Mensch, der sich in der russischen und westeuropäischen Kultur auskannte und ebenfalls große Offenheit gegenüber den Avantgardisten hatte. Man stand nun vor der Aufgabe, die kulturelle Armut auf breiter Front zu überwinden. In Lunatscharskis erstem Dekret über die Volksaufklärung hieß es: „Die arbeitenden Volksmassen, die Arbeiter, Bauern und Soldaten lechzen danach, lesen und schreiben zu können und die verschiedensten Wissensgebiete sich zu erschließen. Sie lechzen aber auch nach Bildung. Diese kann ihnen weder der Staat, noch die Intelligenz, noch irgendwelche Macht außerhalb ihrer Person geben. Schule, Bücher, Theater, Museum usw. können hier nur Hilfsmittel sein. Die Volksmassen werden selbst ihre Kultur bewusst oder unbewusst ausarbeiten. Sie haben ihre eigenen durch ihre soziale Lage geschaffenen Ideen, die sich sehr von der Lage unterscheiden, die bisher die Kultur der herrschenden Klassen und der Intelligenz geschaffen haben; ihre eigenen Empfindungen, ihr eigenes Herantreten an alle Aufgaben der Person und der Gesellschaft …“ Diese Deklaration ließ allerdings Interpretationen zu. Die Vertreter des Proletkults, einer 1906 gegründeten künstlerischen Richtung, waren der Meinung, dass die bürgerliche Kultur zerschlagen werden müsste und eine neue proletarische Kultur zu schaffen sei. Sie zogen daraus die sehr praktischen Schlussfolgerungen, dass vorrevolutionäre Stücke nicht mehr aufzuführen seien, die Musik des 19. Jahrhunderts auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen habe und Bilder der alten Schulen nicht mehr gezeigt werden sollten. Daher nahm die Spitze der Bolschewiki die Auseinandersetzung mit dem Proletkult recht ernst. Lunatscharski wurde von Lenin für zu große Toleranz dem Machtanspruch des Proletkults gegenüber gerügt und dieser schließlich dem Narkompros unterstellt. Lenin selbst war seinem persönlichen Geschmack nach kein Freund der Avantgarde. Allerdings muss betont werden, dass die Maßnahmen gegen den Proletkult nicht aufgrund des persönlichen Geschmacks Lenins oder eines anderen Führers der Bolschewiki eingeleitet wurden, sondern aufgrund der drohenden organisatorischen Vorherrschaft dieser Richtung in der Kunst. Ansonsten beschränkten sich die Bolschewiki auf Kritik und Meinungsstreit in den künstlerischen Fragen. Sowohl Lenin wie Trotzki polemisierten scharf gegen den Proletkult, da sie der Meinung waren, dass die zukünftige Kultur des Sozialismus sich eben auch aus und auf der bürgerlichen Kultur aufbauen werde. Das entsprach auch den Äußerungen Lunatscharskis in seinem Artikel „Kunst der Kommune“ aus dem Jahre 1918: „Dutzendmal habe ich erklärt, das Kommissariat für Volksaufklärung solle in seiner Einstellung zu den einzelnen Richtungen im Kunstleben unparteiisch sein. Was Formfragen anbetrifft, darf der Geschmack des Volkskommissars und sämtlicher Vertreter der Staatsgewalt nicht in Rechnung gestellt werden. Allen Personen und Gruppen im Kunstbereich ist eine freie Entwicklung zu gewähren! Keiner Richtung darf gestattet werden, die andere zu verdrängen, sei sie mit erworbenem traditionellem Ruhm oder mit Modeerfolg ausgestattet!“ Neben Lunatscharski verfolgte insbesondere Leo Trotzki, neben Lenin der populärste Führer der Bolschewiki und Organisator der Roten Armee, das kulturelle Leben genau. 1923 schrieb er sein Buch „Literatur und Revolution“, in dem er die aktuellen Strömungen der Literatur einer genauen Analyse und Kritik unterzog. Trotzki setzte sich darin für eine freie Entfaltung der künstlerischen Richtungen ein: „Unsere Kunstpolitik der Übergangsperiode kann und muss darauf gerichtet sein, den verschiedenen künstlerischen Gruppierungen und Strömungen, die sich auf die Seite der Revolution gestellt haben, das richtige Erfassen ihres historischen Sinnes zu erleichtern, und indem man sie alle vor die kategorische Alternative stellt – für die Revolution oder gegen die Revolution – ihnen in der künstlerischen Selbstbestimmung völlige Freiheit lässt“. Es ist wichtig zu erfassen, dass die Sowjetunion eben noch keineswegs ein sozialistischer Staat war, sondern eine Übergangsgesellschaft, die zumal von einem heftigen Bürgerkrieg unter der Beteiligung von 21 Interventionsarmeen erschüttert wurde. Unter diesen Umständen gab es auch eine politische Zensur, doch versuchten die Bolschewiki diese auf das Allernotwendigste zu beschränken. So schrieb der Literaturkritiker und Bolschewik Alexander Woronski 1923 in seinem Artikel „Über proletarische Kunst und über die Kunstpolitik unserer Partei“ folgendes über die Zensur: „In erster Linie müssen unsere Genossen Zensoren aufhören, sich in die rein künstlerische Bewertung eines Werks einzumischen, dann müssen sie begreifen, dass man von den parteilosen Schriftstellern der Zwischenschichten keine kommunistische Ideologie … verlangen kann. … Man muss sich auf eine einzige Forderung beschränken: Das Werk darf nicht konterrevolutionär sein, aber in einzelnen Abweichungen des Schriftstellers, in der Darstellung der Schattenseiten des sowjetischen Alltags usw. darf man nicht gleich eine konterrevolutionäre Haltung sehen.“

Doch in dem vom Bürgerkrieg ermüdeten Land deuteten sich bald andere Tendenzen an. Ein Großteil der revolutionären Arbeiter war im Kampf gegen die Interventionsarmeen gefallen. Die sozialistischen Revolutionen in anderen Ländern waren nicht erfolgreich gewesen. So blieb das materiell und kulturell rückständige Sowjetrussland allein. Dies war nicht die ursprüngliche Perspektive der Bolschewiki gewesen. Lenin und Trotzki meinten zwar in Russland mit der Revolution beginnen zu können, sie aber nur im internationalen Maßstab beenden zu können. Es begann sich eine neue bürokratische Schicht auf der allgemeinen Armut zu erheben, deren Personifizierung der Generalsekretär der Partei – Stalin – wurde. Die Bürokratie schaltete nach und nach die Arbeiterdemokratie, die Sowjets und die Initiative der Massen aus. Zur ideologischen Deckung wurde eine Art religiöser Kult um den toten Lenin begonnen. Die freie Debatte in der Partei wurde beendet. Die Linke Opposition mit ihrem Führer Leo Trotzki, die gegen die Bürokratisierung kämpfte, wurde aus der Partei geworfen und in die Verbannung geschickt. Dies erforderte, auch das kollektive Gedächtnis zu löschen. So war Leo Trotzki in Eisensteins Film „Oktober“ noch als prominenter Führer der Revolution zu sehen. Stalin und die Bürokratie begannen nun zunehmend auch die Künste unter ihre Kontrolle zu nehmen. Trotzki wurde aus Eisensteins Film heraus geschnitten. Diverse Verbände wurden gegründet, um die Künstler am kurzen Band halten zu können. In der Musik spielte diese Aufgabe die RAPM, die Russische Assoziation Proletarischer Musiker. 1929 kritisierte diese Schostakowitschs Oper „Die Nase“ bereits als „formalistisch“. Dieser Angriff war aber nichts verglichen mit den Attacken, die einige Jahre später folgen sollten. Die Kunst sollte nun zunehmend in den reinen Dienst der Agitation gestellt werden, und zwar der Agitation, die die herrschende Stalinsche Clique bei ihren zig Zick-Zack-Wendungen ihrer mal zögerlichen, mal abenteuerlichen Politik nötig hatte. Machten sich die Avantgardisten am Anfang noch Hoffnung, dass sie die siegreiche künstlerische Strömung sein würden, so wurden Ende der 20er auch sie in die Zange genommen. Selbst der durchaus privilegierte Majakowski machte sich durch kritische Äußerungen bei der Bürokratie unbeliebt. Verzweifelt begann er 1930 Selbstmord. Meyerhold war gezwungen, seine Experimente einzustellen, 1931 sein Theater zu schließen und sich wieder klassischen Stücken zuzuwenden. Aber auch das bewahrte ihn 1939 nicht vor der Verhaftung und seiner Ermordung durch die Stalinschen Henker. In dieser vergifteten Atmosphäre führte Schostakowitsch nun seine zweite Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ auf.

Stalins Rezension: „Chaos statt Musik“

Am 28. Januar 1936 erschien in der Prawda ein Leitartikel mit der Überschrift „Chaos statt Musik“. Darin hieß es: „Vom ersten Augenblick an vergeht dem Zuhörer Hören und Sehen bei dem absichtlich plumpen, verwirrenden Getöse von Tönen. Melodiefetzen, embryonale musikalische Folgen ertrinken, verschwinden und gehen immer wieder unter in Krachen, Knirschen und Kreischen. Dieser ‚Musik‘ zu folgen ist schwierig, sich an sie zu erinnern unmöglich.“ Diese vernichtenden Sätze sprachen das Urteil über Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“. Man ist sich mittlerweile weitgehend einig, dass Stalin selbst diesen Leitartikel diktiert hat. Kurz vorher hatte er die Oper besucht und die Vorstellung vorzeitig in übler Laune verlassen. Dabei war das Stück zu diesem Zeitpunkt schon 83 mal in Leningrad und 94 mal in Moskau sowie im Ausland aufgeführt worden. Es erfreute sich ungemeiner Beliebtheit beim Publikum. Woraus speiste sich dieser extreme Ausfall Stalins? Zum Ersten konnte er mit neuer Musik tatsächlich nichts anfangen, doch im Gegensatz zu Lenin oder Trotzki neigte er dazu, seinen eigenen Geschmack in Gesetzesform zu gießen. Diese Erklärung allein würde aber viel zu kurz greifen. Der konservative und beschränkte Geschmack Stalins und der bürokratischen Clique spiegelten ebenfalls ihr Unverständnis und ihre Ablehnung gegenüber jeglichen Experimenten und Neuerungen in der Kunst, die sie mit dem revolutionären Aufbruch in Verbindung brachten, wider. Allerdings dürfte auch der Inhalt der Oper Stalin in Rage gebracht haben. 1934 war der Leningrader Parteichef Kirow ermordet worden. Stalin nutzte das, um eine Verschwörung seiner politischen Feinde innerhalb der Partei wie der Linken Opposition zu konstruieren. Die Vorbereitungen auf die Schauprozesse gegen die alten Bolschewiki aus Lenins Zeiten liefen auf Hochtouren. Der Terror des Stalinschen Apparates nahm extreme Ausmaße an, jegliche Opposition sollte ein für allemal beseitigt werden.

Nun wurde vor diesem Hintergrund eine Oper mit folgender Handlung gespielt: Die Hauptfigur, Katerina Ismailowa, ist in eine lieblose Heirat mit einem Kaufmann gezwungen worden. Doch sie kämpft für ihre wirkliche Liebe, bringt schließlich ihren kleinbürgerlichen Schwiegervater wie ihren Mann um. Doch Katerina und ihr Liebhaber werden verhaftet und ins Gefängnis und die Verbannung geschickt. Schostakowitschs Sympathie ist eindeutig bei Katerina. Sie wird als Gefangene enger und mitleidloser Umstände gezeigt. Die kleinbürgerlich begrenzte Welt des Stiefvaters gestaltet Schostakowitsch in der Musik mit der rastlosen Unruhe des Geldscheffelns, welches grell ins Groteske getrieben wird. Schon dieses Recht Katerinas auf Liebe und Trennung von der kleinbürgerlichen Welt, die der eines so manchen Bürokraten ähnelte, war völlig entgegengesetzt zu Stalins reaktionärer Frauen- und Familienpolitik. Darüberhinaus werden die Autoritäten und die Polizei als erbarmungslose, erpresserische Gestalten gezeigt. Musikalisch werden sie mittels riesiger Klangmauern von angsterregender Lautstärke und eisiger Härte gezeichnet. Spielte die Handlung formal auch im zaristischen Russland, so verstand das Publikum nur zu gut und erkannte die Schergen der Stalinschen Geheimpolizei wider. Dieses Werk musste also so schnell wie möglich verschwinden.

Doch die Drohung richtete sich auch gegen Schostakowitsch persönlich. Im zitierten Prawda-Artikel stand schließlich der Satz: „Dies ist ein Spiel mit abstrusen Dingen, das sehr böse enden könnte.“ Dmitri Schostakowitsch selbst wie viele seiner Freunde rechneten mit seiner Verhaftung. Eine ungeheure Psychose der Angst, der Lüge und der Verstellung begann das Land zu beherrschen. Die Dichterin Nadeschda Mandelstam schilderte: „Mit jeder neuen Verhaftung wurden überall die Bücher durchgesehen, und die Werke der in Ungnade gefallenen Führer wanderten in den Ofen. In neuen Häusern, wo es keine Öfen und Herde mehr gab, sondern nur noch Zentralheizung, mussten die verbotenen Bücher, Tagebücher, Briefe und andere ‚subversive Literatur‘ in kleine Stücke geschnitten und die Toilette hinuntergespült werden.“ Schostakowitschs Werke wurden von einem Tag auf den anderen kaum noch aufgeführt. Auf Plakaten wurde er als ‚Volksfeind‘ angekündigt. Seine Einkünfte fielen um drei Viertel. Die Vierte Symphonie befand sich schon in der Probe, aber Schostakowitsch zog sie vorsichtigerweise zurück. Sie erlebte erst 1961 ihre Aufführung. Um Schostakowitsch herum verschwanden Kollegen und Freunde. Insbesondere verlor er Ende der 30er zwei nahe Menschen: den Regisseur Meyerhold, mit dem er eine Weile eng zusammen arbeitete, und Marschall Tuchatschewski, den bis dahin unbestrittenen Führer der Roten Armee. Schostakowitsch und Tuchatschewski waren gewiss ein ungleiches Paar. Sie freundeten sich an, als Schostakowitsch 19 war und Musikstudent, Tuchatschewski schon über 30 und auf einem der höchsten Posten der Roten Armee. Schostakowitsch sagt über ihn in den Memoiren: „Er war einer der interessantesten Menschen, die ich kennengelernt habe.“ Doch Stalin fürchtete diesen mutigen, intelligenten Menschen an der Spitze der Roten Armee und beseitigte ihn. Zufälligerweise spielten Tuchatschewski wie Meyerhold beide Violine. Beide äußerten kurz vor ihrer Verhaftung den Wunsch doch lieber Geiger geworden zu sein. So wünschten sich zwei bedeutende Talente, diese Talente lieber nicht zu haben, um überleben zu können. Auch das unterstreicht die Tragödie, die der Stalinsche Terror dem Land zufügte. Doch Schostakowitsch selbst wurde unerwarteterweise nicht verhaftet. Viele sind der Meinung, dass Stalin Schostakowitsch für seine Filmmusik schätzte und ihn daher nicht verhaften ließ. Die innersten Beweggründe des Diktators werden wir aber wohl nie erfahren.

Die Antwort Schostakowitschs

Wie sollte Schostakowitsch als Komponist nun weiterarbeiten? Eine Unmenge Intellektueller und Künstler begann sich anzubiedern und sich gegenseitig in einem Schwall ekelhafter Schimpftiraden zu übertreffen, um zu beweisen, dass man der linientreueste im ganzen Land ist. Alexander Besymenski, der Autor des Gedichtes „An den Oktober“ aus Schostakowitschs Zweiter Symphonie, reimte nun:

 

Der Verräter Trotzki sitzt am Tisch

und wackelt mit seinem Ziegenbart.

Ganz gekrümmt sitzt er da. Das Schicksal ist schwer

und die Zeit unheilschwanger …

Lange feilscht der nichtswürdige Narr

um Dinge aus der Liste fremden Habs und Guts:

für einen Silberling von Serebrjakow

und einen abgegriffenen Fünfer von Pjatakow …

Wagt es nur und steckt euren Schweinerüssel bei uns herein!

 

Einige wenige hatten zumindestens den Mut ihr kriecherisches Verhalten sich selbst gegenüber zuzugeben. Der Schriftsteller Prischwin notierte in seinem Tagebuch, er hätte zum Sekretär des Schriftstellerverbandes Stawski gesagt: „Jetzt muss man die Staatslinie einhalten, … die Stalinsche.“ Er fügte dann im Tagebuch hinzu: „Zu Hause dachte ich darüber nach, was ich gesagt hatte, und so stellt es sich für alle dar: Auf der einen Linie wird man verbannt oder erschossen, auf der anderen, der staatlichen oder Stalinschen, kommt man wohlbehalten davon. Ich hätte also statt ‚Stalinscher‘ Linie einfach sagen können, dass man sich auf der Seite halten muss, wo alles wohlbehalten verläuft. In einem solchen Zustand hat Petrus wahrscheinlich Christus verleugnet. Es wird wohl so gewesen sein.“ Es war gewiss auch etwas Glück, dass Schostakowitsch Komponist und nicht Schriftsteller war. Er zog sich von der Vokalmusik – Oper, Bühne, Gesang – zurück und schrieb reine Instrumentalmusik. Natürlich war er gezwungen, auch Auftragswerke anzunehmen, insbesondere Filmmusik zu teils schrecklichen Streifen. Doch er begann eine musikalische Sprache zu sprechen, die vom Publikum verstanden wurde, doch so, dass die Autoritäten ihm daraus nicht den Galgenstrick drehen konnten.

Den Auftakt dazu bildet die Fünfte Symphonie, auch wenn der letzte Satz der Vierten schon in diese Richtung geht. Sie trifft die Lüge des „glücklichen Lebens“, das Stalin offiziell verkündete, ins Herz. Der Dirigent Kurt Sanderling dirigierte später die Fünfte selbst viele Male. Er war in den 30ern als Emigrant vor den Hitler-Faschisten in die Sowjetunion geflüchtet. Er besuchte damals die erste Moskauer Aufführung der Fünften 1937 und schilderte in einem Interview 1992 seine Eindrücke: „… wir blickten uns schon nach dem ersten Satz bedeutungsvoll an: Würden wir nach dem Anhören dieser Symphonie verhaftet werden, allein nur deshalb, weil wir dieses Werk überhaupt gehört hatten? … die überwältigende Mehrheit der Hörer verstand durchaus, worum es ging, und das war vielleicht der Grund ihres überwältigenden Erfolges. Sie brachte haargenau die Gefühle zum Ausdruck, die uns alle damals bewegten. Einziger Grund zum Missverständnis ist vielleicht der Schluss des Werkes. Er konnte als Parteitagsjubel missgedeutet werden. Aber der ‚herausgeprügelte‘ Jubel, ganz ohne Zweifel zu hören, ist als trotzige Selbstbestätigung zu hören, als Sieg gegen und nicht für das Regime.“ Die Fünfte ist ein Werk mit einem so tiefen emotionalen Gehalt, der sich in Kenntnis des Terrors der 30er Jahre noch verstärkt. Kontrastiert wird diese tiefe Tragik durch den parodistischen, sehr bissigen zweiten Satz. Und war es nicht eine tragische Parodie, dass Stalin die neue Verfassung als „demokratischste Verfassung der Welt“ feierte, während unzählige einfache Menschen und aufrechte Kämpfer für den Sozialismus in den Kellern des NKWD (dem Stalinschen Geheimdienst) und den Lagern Sibiriens verschwanden? Wir hören mit dem letzten Satz den bestellten Parteitagsjubel von lauter verängstigten, hysterischen Marionetten nur zu deutlich.

Schostakowitsch hat die Opfer der Stalinschen Schlächter vor dem Vergessen bewahrt. Hat Leo Trotzki mit seinem Buch „Verratene Revolution“ uns eine Analyse des Geschehens in der Sowjetunion, die Erkenntnis des Verstandes über das auf den ersten Blick kaum Verstehbare gegeben, so hat Schostakowitsch mit seiner Fünften diese Jahre emotional festgehalten. Er hat aktiv dazu beigetragen, gegen das Vergessen zu kämpfen. Mit einem Auszug aus den Memoiren wollen wir diesen ersten Teil des Artikels über Dmitri Schostakowitsch beenden. Er schrieb: „Die Menschen leiden, quälen sich, denken – soviel Verstand, soviel Talent. Und kaum sind sie tot, werden sie vergessen. Wir müssen alles tun, um die Erinnerung an diese Menschen wachzuhalten. Wie wir uns ihnen gegenüber verhalten, so wird man sich eines Tages auch uns gegenüber verhalten. Wir müssen uns erinnern, wie schwer es auch sein mag.“

Ingmar Meinecke ist Mitglied im Bundesvorstand der SAV. Er lebt in Leipzig.