In der chilenischen Hauptstadt Santiago ist die Luftverschmutzung seit Jahrzehnten ein großes Problem. Der öffentliche Transport, zum übergroßen Teil auf Buslinien beruhend, hat dies in der Vergangenheit eher verschärft als verringert.
Ein weiterer Nachteil des Bussystems in Santiago war die vollständige Ausrichtung auf "Marktkräfte", was sich darin widerspiegelte, dass die einzelnen Fahrer nach Anzahl der Fahrgäste bezahlt wurden – dadurch hielt sich keiner an Fahrpläne, und es wurde gefahren wie die Henker, um anderen Fahrern möglichst viele Passagiere wegzuschnappen.
von Johannes Ullrich, Santiago de Chile
Die Lösung soll nun in einem neuen ÖPNV-Systems bestehen, dass Busse und Metro (die U-Bahn Santiagos, welche bisher hervorragend war) integriert. Seit Jahren geplant, seit Monaten auf allen Kanälen beworben, verspricht "Transantiago" einen besseren Transport für alle, basierend auf einer Art Metrobusnetz, das heißt einige Buslinien, die sogenannten "Troncales", funktionieren als Rückgrat des Verkehrsnetzes in Regionen ohne U-Bahn-Anschluss. Die Zubringerbusse zu diesen Metrobussen bleiben in ihren jeweiligen Stadtbezirken, so dass Passagiere zwar während der Reise umsteigen müssen, aber theoretisch die einzelnen Busse besser ausgelastet sind und das System insgesamt flexibler wird. Auch die Verschmutzung soll geringer werden, da im Falle der Troncales größere und modernere Busse mit besseren Abgaswerten nach und nach die alten Busse komplett ersetzen sollen.
Aber was sich seit dem 10. Februar, dem Tag der Einführung des neuen Systems, hier in Santiago abspielt, ist ein einziges Chaos: Durch den Wegfall der alten Buslinien, die teilweise durch die ganze Stadt fuhren, müssen sich Hunderttausende Passagiere neue Wege durch die Stadt suchen, und in sehr vielen Fällen wurde die Nahanbindung schlicht vergessen. Wege von weit über einem Kilometer bis zur nächsten Bushaltestelle sind eher die Regel als die Ausnahme, die Busse zirkulieren in einigen Teilen extrem unregelmäßig oder in großen Zeitabständen oder beides, und das Metronetz ist am ersten Schultag nach den Sommerferien (dem 05.03.), also dem ersten Tag, an dem eine normale Passagierzahl erreicht wurde, praktisch kollabiert (vor der Einführung des Transantiago war die höchste an einem Tag gemessene Fahrgastzahl weniger als 1,4 Millionen, während sie an jenem Montag bei über 2 Millionen lag!!). Zur Hauptverkehrszeit sind lange Wartezeiten an Bushaltestellen und U-Bahnhöfen unvermeidbar, und es gibt regelmäßig Unfälle. Gestern erlitt ein 49jähriger in der Metro einem Herzinfarkt.
Der Grund für diese chaotischen Zustände ist schnell benannt: Entgegen der offiziellen Propaganda hat man sich während des gesamten Projekts nicht um die Bevölkerung gekümmert. Es wurden keine Untersuchungen durchgeführt, wann und wo wieviele Fahrgäste zirkulieren, es wurden keine Veränderungen an den Fahrplänen der Metro vorgenommen, es wurden keine Extrawaggons eingesetzt… das einzige, was sich wirklich verändert hat, ist die Struktur der Betreibergesellschaften des ÖPNV in Santiago. Es gibt jetzt nicht mehr mehrere hundert Klein- und Kleinstunternehmern mit oft nur einem einzigen Bus, sondern noch genau zehn "große Fische", die den Markt unter sich aufteilen, staatliche Subventionen erhalten und schon angekündigt haben, nach der Schonfrist für Preiserhöhungen, die bis August diesen Jahres geht, die Fahrpreise anzuheben.
Die Proteste gegen den "Transantiago" nehmen von Tag zu Tag zu: Seit Dienstag, dem 6. März, gibt es neben nachmittäglichen Demos im Stadtzentrum jede Nacht Straßenkämpfe in den Vororten, meist, weil Protestdemos zu Gefechten zwischen nächtlichen Straßenblockierern und der Polizei führen. Aktuell wird die Anzahl der nächtlichen Ausschreitungen in der bürgerlichen Presse mit “über sechs” angegeben. Gestern wurde ein 15jähriger Passant, der sogar laut Polizeibericht an den Protesten nicht beteiligt war, von zwei Gummigeschossen schwer verletzt.
Symptomatisch für die schlechte Qualität des alten Systems ist aber, das fast keineR sich die alten gelben Busse zurückwünscht. In Diskussionen auf der Straße sind die Mehrzahl der Leute aufgeschlossen gegenüber einer Verstaatlichung des ÖPNV. Die chilenische CWI-Sektion Socialismo Revolucionario (SR) beteiligt sich an den Protesten und interveniert mit Flugblättern, auf denen zu Protestaktionen aufgerufen wird und unsere Forderung nach Verstaatlichung des ÖPNV präsentiert wird. Und sogar die hiesigen bürgerlichen Politiker sind sich einig, dass spätestens im Winter – also ab Juni – die Transportsituation deutlich besser werden muss, weil sonst “die soziale Lage eskalieren könnte”.
Die Regierung Bachelet hat einige "Sofortmaβnahmen" beschlossen, die aber zum Groβteil aus Altbekanntem bestehen, welche entweder von den privaten Betreiberfirmen bisher nicht erfüllt wurden oder die im Laufe der Verbürokratisierung und zunehmenden Vetternwirtschaft des Projektes fallengelassen wurden. Beispiele hierfür sind die natürlich glorreich gescheiterte Installierung von supermoderner Software mit GPS-gesteuerter Fahrplanoptimierung (ähnlich wie das LKW-Maut-Debakel in Deutschland) sowie die Tatsache, dass am Starttag 10. Februar viel weniger Busspuren als ursprünglich geplant bereit standen. Aber immerhin, eine leichte Besserung ist eingetreten – dennoch ist es für die meisten Passagiere teurer und zeitaufwändiger, zur Arbeit zu kommen, als vor dem Systemwechsel.
Es haben sich einige Bündnisse und Initiativen gegen den Transantiago gebildet, die meisten allerdings regional beschränkt (vor allem in den am meisten betroffenen Außenstadtbezirken wie Peñalolén, San Bernardo oder Maipú). Eines der breiter orientierten Komitees heißt "Movimiento por un transporte público y digno" (Bewegung für einen öffentlichen und (menschen)würdigen Transport) und wird unter anderem von der Bewegung gegen die Wohnungsmisere "ANDHA – Chile a luchar" und Socialismo Revolucionario unterstützt. Das Komitee organisierte diesen Dienstag eine erfolgreiche erste Demonstration im Stadtzentrum mit ca. 1.000 Teilnehmern. Die GenossInnen von SR intervenierten mit einem aktualisierten Flugblatt, dass konkretere Forderungen wie mehr Busspuren und kurzfristige Finanzhilfen für die Anschaffung von neuen Bussen enthält.
Um das Transportproblem in Santiago de Chile wirklich zu lösen, führt kein Weg an einer Verstaatlichung vorbei. Diese wird aber nur dann wirklich allen zugute kommen, wenn die neue Betreibergesellschaft konsequent demokratisch aufgebaut ist, d.h. nicht nur Einbeziehung der Bevölkerung in die Linienplanung – zum Beispiel durch Nachbarschaftskomitees -, sondern auch Kontrolle des Transantiago durch die ArbeiterInnen und Angestellten. Erreicht kann dies aber nur durch eine Ausweitung der Proteste, indem sich die verschiedenen Initiativen vernetzen und auch den Schulterschluss mit Gewerkschaften suchen. Als kurzfristige Maβnahmen hingegen sind sinnvollere Taktzeiten mit weniger leeren Bussen und U-Bahn-Wagen zu Nebenverkehrszeiten und dafür höhere Frequenzen im Berufsverkehr, mehr Busspuren und mehr Buslinien in den Außenbezirken nötig.