"Der Höhepunkt vom jahrelangen Verfall der Sicherheitskultur," so heißt es in einem internen Bericht aus dem Atomkraftwerk Forsmark. Gemeint ist damit der Beinahe-GAU im Juli letzten Jahres. Das ist ein niederschmetterndes Urteil für Forsmarks größten Besitzer Vattenfall, der Forsmark selbst als „Atomkraftwerk von Weltklasse mit großer Verantwortung für die Umwelt“ bezeichnet.
von Katja Raetz, Stockholm
In dem heimlich gehaltenen Bericht, der erst Ende Januar an die Presse durchgesickert ist, wird deutlich, wie im Vattenfall-Konzern Effekterhöhung und damit steigende Einnahmen auf Kosten von Arbeitsschutz und Sicherheit durchgesetzt werden. Von unakzeptablen Sicherheitsmängeln ist die Rede und davon dass die Möglichkeiten für die Angestellten, wichtige Instruktionen und Verordnungen zu befolgen sich verschlechtern. Zeitmangel rechtfertigt verstärkte Risikobereitschaft. Der Report enthält auch das Resultat einer Alkoholkontrolle in den Tagen nach dem Unglück, bei der drei von 25 Mitarbeitern nach Hause geschickt werden mussten.
Zufall verhindert Kernschmelze
Es war der 25. Juli 2006, rund 20 Jahre nach Tschernobyl, als sich der Störfall sich ereignete. Bei Wartungsarbeiten in einem Umspannwerk außerhalb des AKWs war es zu einem Kurzschluss gekommen. Daraufhin wurde ein Schnellstopp eingeleitet. Das AKW hat eigene Generatoren, die den Betriebsstrom liefern, um die Kühlung des Reaktors aufrechterhalten bis die Kernspaltung herunter gefahren ist. Doch auch die werkseigene Stromversorgung versagte. Der Netz-Kurzschluss hatte sich in einem Teil der Anlagen des AKWs fortgesetzt. Auch zwei der vier Notstromaggregate versagten den Dienst und das Überwachungssystem funktionierte nicht. Das Personal hatte keine Ahnung mehr, in welchem Zustand sich der Reaktordruckbehälter befand. Das Kühlwasser, das normalerweise ein Niveau von fünf Metern oberhalb der Brennstäbe hat, war auf ein Niveau von 1,90 Metern gesunken. Wenn die Brennstäbe freigelegt worden wären, hätte eine Kernschmelze begonnen. Erst nach 22 Minuten gelang es einem Angestellten, die Notstromversorgung wieder in Gang zu bringen und den Reaktorkern noch rechtzeitig zu kühlen. Erst einen Tag später wurde der Reaktor vollständig außer Betrieb genommen.
Der Unfall wurde später von der schwedischen Atomaufsicht SKI als "ernst" und auf Stufe Zwei der von Null bis Sieben reichenden Skala für nukleare Störfälle ("International Nuclear Event Scale"; INES) eingestuft.
AKW Forsmark und Vattenfall erklären wieder und wieder, dass keine Gefahr für eine Kernschmelze bestand, weil zwei Generatoren zur Kühlung ausreichen. Das Problem ist aber, dass Forsmark nicht erklären kann, warum zwei der Generatoren ausfielen und zwei nicht. „Das war zu nahe an einer Kernschmelze, so nahe darf man niemals sein. Nur Zufallsfaktoren bestimmten, dass nicht alle vier [Generatoren] ausgefallen sind“, meint der Atomkraftexperte und ehemalige Konstruktionschef von Vattenfall gegenüber der Tageszeitung „Aftonbladet“.
Nachdem Unfall im AKW Forsmark waren im August und Herbst bis zu fünf der zehn schwedischen Reaktoren außer Betrieb, vier davon über einen Zeitraum von zwei Monaten.
Verschleierungstaktik
In den ersten Nachrichten berichtete Forsmarks Informationschef davon, dass nur ein äußerer Fehler den Schnellstopp erzwungen hatte und keine Gefahr für den Reaktor bestand. Erst einen Tag später wurden Medien und Behörden über die wirkliche Situation aufgeklärt. Auch über die weiteren Notstopps im Oktober in den Reaktoren 1 und 2 wurde die Öffentlichkeit erst Tage später informiert.
Anfang Februar wurde auch bekannt, dass Forsmarks Leitung viele der Mängel, die zum Unglück am 25. Juli führten, schon im Jahr 2005 bekannt waren. Damals wurde nach einer Untersuchung ein interner Bericht der eigenen Branchenorganisation der Atomkraftwerke WANO erstellt. Auch das AKW Ringhals wurde in einem WANO-Report von 2005 für Sicherheitsmängel kritisiert.
Auch die Kontrollbehörde, die staatliche Atomaufsicht SKI, trägt nicht direkt zur Aufklärung bei. Zum Beispiel wurde die Anzeige wegen Verstoßes gegen das Atomtechnikgesetz am 25.Juli 2006 erst aufgegeben, als der Staatsanwalt bei der SKI nachfragte, warum denn keine Anzeige käme. In der öffentlichen Kritik konzentriert sich die SKI jetzt im Großen und Ganzen nur auf das AKW Forsmark. Als dagegen der Reaktor Ringhals 1 Anfang des Jahres für zwei Wochen gestoppt wurde, wurde der darauf folgende SKI-Report verheimlicht. Ein Journalist der Zeitung „Veckans affär“ konnte ihn trotzdem lesen. Der damalige Chef für Ringhals, Jan Edberg, ließ den Reaktor mit einer provisorischen Ausbesserung betreiben, anstatt den Betrieb zu stoppen und den Fehler reparieren zu lassen. Das ist im Übrigen der gleiche Jan Edberg, der den Anfang Februar zurück getretenen Forsmark-Chef ersetzte, um die Sicherheitskultur im AKW Forsmark zu verbessern.
Weitere Vorfälle
Seit dem 25. Juli 2006 kommen regelmäßig neue Zwischenfälle ans Tageslicht.
Schon im November letzten Jahres nahm der Staatsanwalt Ermittlungen gegen AKW Forsmark auf wegen Vermutungen, dass der Reaktor 1 mit zu hohem Effekt betrieben wird. Messungen der SKI hatten am 23. März 2006 einen um zwei Prozent zu hohen Effekt festgestellt. Forsmark wartete allerdings bis zum 19. April damit, den Effekt auf normale Werte herunter zu fahren.
Im Januar wurde bekannt, dass der Reaktor 1 über ein Jahr lang mit einer defekten Gummidichtung gelaufen ist. Forsmark 1 und 2 mussten daraufhin wieder abgeschaltet werden.
Anfang Februar fand man einen Aschenbecher mit Zigarettenstummel in einem Teil des Atomkraftwerkes, wo man absolut nicht rauchen, essen oder Kaugummi kauen darf, weil da radioaktive Partikel in den Mund gelangen können. Zwei Wochen später fand man radioaktive Strahlung, so genannte Hot Spots, in einem Korridor, wo keine Radioaktivität vorkommen soll.
Dann kam heraus, dass das AKW seit Jahren mehr Radioaktivität abgibt als offiziell angegeben.
Die SKI hat jetzt UN-Inspektoren von IAEA angefordert, eine Untersuchung im AKW Forsmark vorzunehmen.
Folgen der Deregulierung
Das AKW Forsmark ist zu 66 Prozent im Besitz von Vattenfall, 25,5 Prozent gehören zu Mellansvensk Kraftgrupp und 8,5 Prozent zu E.ON. Auch 74 Prozent vom AKW Ringhals gehören Vattenfall. Damit ist der Konzern dominierend innerhalb der schwedischen Atomkraft. Vattenfall selbst gehört dem schwedischen Staat. Das sollte es möglich machen, den Strommarkt entscheidend von staatlicher Seite zu beeinflussen. Im Jahr 1997 bestimmte der schwedische Reichstag das Vattenfall den erneuerbaren Energien eine herausragende Rolle geben sollte.
Aber schon 1996 wurde der Strommarkt in breiter politischer Übereinstimmung dereguliert. Vattenfall wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Davor gab es noch eine gewisse staatliche Steuerung über den Strommarkt und der Reichstag hatte Einfluss über Investitionen in neue Kraftwerke. Auch die Strompreise waren geregelt.
Im letzten Herbst war der Strompreis für einen Hausbesitzer 125 öre/kwh, eine Preissteigerung von 80 Prozent seit 1995. Gleichzeitig wurden massiv Arbeitsplätze in Service und Unterhalt abgebaut. Zwischen 1996 und 2002 sank die Zahl der Angestellten in der Stromindustrie von 24.000 auf rund 16.500.
Im Zuge der Deregulierung kauften drei Konzerne alle kleineren Unternehmen auf: Vattenfall, E.ON und Fortum. Mit 90 Prozent Marktanteil können die drei großen Konzerne im Prinzip machen was sie wollen. Die Folge: 2004 besaß Vattenfall Atomkraftwerke in Deutschland und Schweden mit einer Produktionskapazität von zusammen 6700 Megawatt und Anlagen mit fossilen Brennelementen mit einer Kapazität von 12800 Megawatt. Windkraft: gerade mal 28 Megawatt.
Strahlende Gewinne für Aktienbesitzer …
Vattenfall machte im vergangenen Jahr einen Gewinn von 19,5 Milliarden Kronen, ca. 2,1 Milliarden Euro. Das trotz des Einnahmenausfalls durch die abgestellten Reaktoren im vierten Quartal. 7,5 Milliarden Kronendavon sollen an die Aktienbesitzer ausgeteilt werden. Hauptgrund für die Gewinnsteigerung sind die hohen Strompreise in Deutschland.
…die Verluste zahlen die Verbraucher
Pro Tag kostet ein abgestellter Reaktor 15 Millionen Kronen (1,6 Millionen Euro). Der Produktionsausfall allein in Forsmark kostete Vattenfall etwas in der Größenordnung von 1,5 Milliarden Kronen (160 Millionen Euro). In der ersten Augustwoche stiegen die schwedischen Strompreise um 14 Prozent. Forsmark-Chef Jan Edberg begründete das vor allem mit dem geringen Wasserstand in den Wasserkraftwerken im Sommer und verspricht, dass die Reaktorausfälle nicht die Strompreise beeinflussen.
Der unabhängige Energieexperte Roger Fredricksson glaubt daran nicht. Gegenüber der Zeitung „Svenska Dagbladet“ erklärt er, dass die Verbraucher die Zeche zahlen werden. Er bezeichnete den Stopp in Forsmark mit den folgenden drastischen Preissteigerungen als den Stopp, der sich für Vattenfall wie kein anderer zuvor gelohnt hat. Der spätere Preisabfall im vierten Quartal letzten Jahres hängt vor allem mit dem warmen Wetter zusammen. Roger Friedricksson glaubt nicht, dass er sich 2007 fortsetzen wird.
Ausbau statt Ausstieg
Für die nächsten Jahre planen die Atomkraftwerke in Schweden eine Aufrüstung für 35 Milliarden Kronen (ca. 3,7 Millionen Euro). Damit soll die Effektivität um 1000 Megawatt gesteigert werden.
Im Volksentscheid am 23. März 1980 entschied sich die Mehrheit der schwedischen Bevölkerung für einen Ausstieg bis zum Jahre 2010. Die Maximallaufzeit für ein AKW wurde auf 25 Jahre festgesetzt. Später wurde das auf 30 Jahre hinaufgesetzt. Zehntausende Menschen waren damals in der Kampagne „Nein zur Atomkraft“ aktiv. Wie sieht die Realität aus? Ungefähr die Hälfte des Stromverbrauches in Schweden kommt aus Atomkraft. Heute produzieren die drei Atomkraftwerke mit insgesamt zehn Reaktoren 20 Prozent mehr Energie als vor 20 Jahren. Und das trotz der Abschaltung Reaktoren im AKW Barsebäck 1999 und 2005.
Für 35 Milliarden Kronen könnte man theoretisch ein neues modernes Atomkraftwerk bauen. Das man lieber alte AKWs aufrüstet hängt mit dem Abwicklungsgesetz zusammen. Dieses Gesetz gibt dem Staat das Recht, Atomkraftwerke abzuschalten und die Unternehmen für eine Betriebszeit von bis zu 30 Jahren zu entschädigen. Durch die Investitionen verlängert man die Betriebsdauer der heutigen AKWs um weitere 30 Jahre. Damit würden enorme Kosten auf den Staat im Falle der Abschaltung zukommen.
Eine Prognose der staatlichen Energiebehörde sieht einen Energieüberschuss in Schweden für das Jahr 2016 bei 15 Terrawattstunden. Damit gibt es alle Voraussetzungen für einen kompletten Atomausstieg. Aber die neue bürgerliche schwedische Regierung wird keinen Plan für einen Ausstieg machen. Darüber hinaus verzichtet die Regierung selbst auf Mitspracherechte im Vattenfall-Konzern. Wie Staatssekretär Ola Alterå gegenüber der Zeitung „Veckans affär“ erläutert, bedeutet das Allianzabkommen (also das Abkommen zwischen den vier Parteien in der Regierung), dass auch die staatlichen Unternehmen selbst über Investitionen entscheiden. Das bedeutet, dass die Riesengewinne nicht für Investitionen in erneuerbare Energien gesteckt werden, sondern in Atomkraftwerke, um Profite zu sichern auch wenn die Umwelt darunter leidet.
Arbeiterkontrolle in Stromindustrie
Darüber hinaus gibt es Pläne Vattenfall nach dem Modell von Telia (schwedische Telekom) mit so genannten Volksaktien zu privatisieren. Es gibt ein Versprechen der Regierung aus dem Wahlkampf, den Verkauf von Vattenfall auf jeden Fall nicht in dieser Mandatsperiode (bis 2010) zu betreiben. Ein Teil der Pläne besagen, Vattenfall in verschiedene Unternehmen (Wasserkraft, Atomkraft usw.) aufzuspalten.
Wie man am Resultat der Deregulierung des Strommarktes sehen kann, wird es auf kapitalistischer Grundlage niemals eine funktionierende Stromerzeugung mit stabilen Preisen, sicherer Versorgung unter Rücksicht auf die Umwelt geben. Dafür braucht man langsichtige Planung und die ist mit dem marktwirtschaftlichen Profitstreben nicht vereinbar.
Unter der demokratischen Kontrolle der Beschäftigten kann man sicherstellen, dass die Stromindustrie den Bedürfnissen von Mensch und Natur entspricht und nicht den Profitinteressen einiger Großkonzerne.
Katja Raetz ist Mitglied der Rättvisepartiet Socialisterna (Sozialistische Gerechtigkeitspartei), der schwedischen Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale. Sie lebt in Stockholm.