Während es in Indien unbestreitbar einen Wirtschaftsboom und Wachstum gibt, merken davon nur die obersten drei Prozent der Bevölkerung etwas. Die Tatsache, dass 52 Prozent der indischen Kinder unterernährt sind, zeigt den in hohem Maße ungerechten Charakter des Aufschwungs.
von Nirmala Shetty, Bangalore
Die ärmsten Schichten der Arbeiterklasse werden in elenden Verhältnissen gehalten. Ein Großteil der von ihnen hart erarbeiteten, mageren Einkommen geht für Miete, Stromgebühren, Benzin und andere Dinge des täglichen Bedarfs drauf. Sie können sich nur eine vollständige Mahlzeit am Tag leisten.
Die Lage in den ländlichen Gebieten ist aufgrund des trostlosen Zustands, in dem sich die Landwirtschaft befindet, noch schlechter. Bauern und Bäuerinnen gehen in die Städte, um dort Arbeit zu finden. Es ist ihnen aber nur möglich, in der Baubranche unterzukommen oder als Hausangestellte, wo sie weniger als einen Dollar am Tag verdienen.
Indien hat sich seit Beginn der aggressiven neoliberalen „Reformen“ in den 1990ern verändert. Zwar wird behauptet, dass die Massen von diesen Reformen profitieren. Allerdings haben sich nur Lifestyle und Lebensbedingungen der wohlhabenden Menschen zum Besseren verändert. Doch der wichtigste Aspekt bei alledem ist, wer und wie viele von dem Wachstum profitieren? Die National Sample Survey Organization (NSSO; statistisches Amt Indiens) schätzt, dass die Armut in Indien während der letzten 11-Jahres-Periode, die 2004/-05 endete, bloß um 0,74 Prozent nachgelassen hat. Überdies haben die Ungleichheiten beim Einkommen weiter zugenommen.
Ebenfalls unter Bezugnahme auf staatliche statistische Erhebungen ist der Preis für Hülsenfrüchte im Januar 2007 um 25 Prozent höher als im vergangenen Jahr. Saatgut kostet 21 Prozent mehr, Getreide 9 Prozent und Lebensmittel sind auf die Gesamtmenge bezogen 9 Prozent teurer. Die offizielle Inflationsrate ist Anfang diesen Monats auf über 6 Prozent gestiegen. Verglichen mit den 3,5 Prozent im selben Zeitraum des letzten Jahres bringt dies die arbeitenden Menschen in eine dramatische Situation.
Millionen Menschen in schrecklicher Lage
Weil die IT-Branche in Indien boomt, berechnen viele Ladenbesitzer Preise, die vielleicht noch für die relativ gut bezahlten Angestellten der Callcenter erschwinglich sind. Die meisten Menschen können sich diese nicht leisten. Sämtliche Basisgüter und weiterverarbeiteten Waren sind im Preis gestiegen. Und selbst die vermeintlich hoch dotierten Regierungsangestellten und andere gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen können die Kosten für etliche Waren nicht aufbringen. Aufgrund der in den 1990ern einsetzenden „Liberalisierung“ und Globalisierung treffen die Preissteigerungen die ärmsten Menschen noch viel schlimmer. Das Ergebnis ist, dass die meisten InderInnen weniger Nahrung zur Verfügung haben. Wirtschaftswachstum kurbelt die Gewinne an und spült mehr Geld in die Kassen der Reichen. Für die Arbeiterklasse aber bedeutet es die sinkende Reallöhne und zunehmende Ungleichheit.
Laut indischer Planungskommission sind heute wesentlich mehr ArbeiterInnen in Bereichen ohne gewerkschaftliche Organisierung angestellt. So in der Textilindustrie und anderen privaten Sektoren, in denen billige Arbeitskräfte ruchlos ausgebeutet werden. Die Löhne hier sind unheimlich niedrig. Die Menschen sehen sich hier ungeheuerlichen Preiserhöhungen und prekärer Beschäftigung ausgesetzt.
Die Regierung steht unter dem Druck der Großkonzerne, die Arbeitsgesetze dahingehend umzuändern, dass weitere Kürzungen bei den jetzigen Arbeitskräften und die Ausweitung des Billiglohnsektors möglich werden. Diese Art von „Boom“ wird Arbeitsplätze ausschließlich für die gut Ausgebildeten und Profite für die Reichen bringen. Für die ärmsten ArbeiterInnen gibt es keine sicheren Jobs.
In erster Linie findet das Wirtschaftswachstum im Servicebereich statt, der akademisch ausgebildete ArbeiterInnen benötigt. Indien gibt aber nur 3,8 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus und 46 Prozent der über Fünfzehnjährigen können weder lesen noch schreiben. Mit 388 Millionen Kindern unter 15 Jahren steht Indien vor einer enormen Herausforderung im Bildungswesen. 54 Prozent der Erwachsenen in Indien sind Analphabeten. Diese nackten Tatsachen geben Auskunft über die tatsächliche Situation auf dem Subkontinent.
Wie viele junge Menschen werden wohl in den Genuss von Bildung kommen, wenn sie noch nicht einmal in den Genuss von einer Mahlzeit am Tag kommen?
Die Investitionen der Großkonzerne sind heute sehr kapitalintensiv, vor allem in den hoch profitablen Bereichen der Dienstleistungsbranche. Die Zahl der hier neu entstandenen Arbeitsplätze ist hingegen mager. Insgesamt hat die IT-Branche weniger als einer Million unmittelbarer Jobs geschaffen.
Wie den Boom erklären?
Die Fortsetzung des einseitigen Booms ist das Vermächtnis von brutaler Liberalisierung und verknüpft mit der Lage der Weltwirtschaft, der Dominanz der multinationalen Konzerne und ihrer Praktiken. Indien ist geplagt von einer hohen Sterberate unter der bäuerlichen Bevölkerung, Massenarbeitslosigkeit, Niedrigstlöhnen und einer riesigen Lücke zwischen arm und reich. Während die Reichen immer reicher werden, sehen wir die am meisten Ausgebeuteten und die unterdrückte Klasse immer weiter verarmen. Dieses Leid und die Ausbeutung wird die Menschen wappnen zu kämpfen und Widerstand zu leisten. Sie erleben den momentanen Boom mit Grausen. Die Arbeiterklasse und die Armen werden dieses verrottete System stürzen. Die Dinge werden nicht bleiben, wie sie sind. SozialistInnen in Indien müssen den arbeitenden Massen erklären, warum sie über-ausgebeutet sind und eine effektive, kämpferische Klassenalternative zum Kapitalismus aufbauen.
Nirmala Shetty ist Mitglied der New Socialist Alternative, Sektion des Komitess für eine Arbeiterinternationale (CWI) in Indien