Zum 75. Geburtstag von Erasmus Schöfer ist im letzten Jahr im Dittrich Verlag ein Sammelband mit Texten von und über den Autor der Roman-Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ erschienen. Für Leserinnen und Leser der drei bisher erschienen Bände dieser Romanreihe, die eine Geschichte der bundesdeutschen Linken zwischen 1968 und 1989 darstellt, sind die Texte ein wichtiger Beitrag um Autor und Werk besser zu verstehen.
von Sascha Stanicic
Schöfer ist und war Zeit seines Lebens Literat und politischer Aktivist und hat beides verbunden, wie kaum ein anderer. Wie Günter Wallraff in einem in dem Buch abgedruckten Gespräch mit Schöfer sagt, hätte es den Werkkreis Literatur und Arbeitswelt ohne Schöfer nicht gegeben. Wallraff bezeichnet Schöfer als spiritus rector, Kopf, Geburtshelfer und hauptverantwortlichen Organisator des Werkkreises, der bis in die 80er Jahre hinein im Fischer Taschenbuch Verlag ca. sechzig Bände in millionenfacher Auflage veröffentlichte, die sich mit der Arbeiterbewegung und der Arbeitswelt befassten und vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter selber zu Wort kommen ließen. Da wurden Streikberichte genauso veröffentlicht, wie die unter dem Titel „Der rote Großvater erzählt“ berühmt gewordenen Erinnerungen von sozialistischen Aktivisten der Arbeiterbewegung.
Der Werkkreis hatte bis zu dreißig lokale Gruppen im ganzen Bundesgebiet, in denen Journalisten, Schriftsteller und schreibende Arbeiter zusammen kamen. Günter Wallraff sagt dazu treffend: „Heute wäre diese Gruppenarbeit (…) wieder angesagt, noch stärker als damals. Was jetzt an Mobbing, an Wegnahme erkämpfter Rechte, an totalen Infragestellungen und Rückfällen in frühkapitalistische Zustände vorherrscht. Und es wird so gut wie nicht darüber berichtet, oder nur am Rande, hier und da mal Spurenelemente in Tages- oder Wochenzeitungen. Aber als zentrales Thema ist es völlig aus dem Blickpunkt. Aber es wäre längst überfällig. Die Verhältnisse schreien förmlich danach.“
Dies ist ein Hinweis auch auf die Aktualität von Schöfers Werk. Denn seine Romane sind nicht nur ein „bedeutendes literarisches Geschichtsbuch“, sondern sie geben heutigen AktivistInnen die Möglichkeit, „auf diese Erfahrungen zurückzugreifen, sich daran zu orientieren und sie für ihr eigenes Handeln nutzbar zu machen“, wie es sein Verleger Volker Dittrich in seinem einleitenden Beitrag zum Sammelband ausdrückt.
Diese Aktualität springt einem in dem abgedruckten Fragment des in Arbeit befindlichen vierten Bandes der Roman-Reihe geradezu entgegen. Unter der Kapitel-Überschrift „Arbeitsfreiheit“ wird hier die Entlassung des Mannesmann-Betriebsratsvorsitzenden Manfred Anklam beschrieben. In seiner Reaktion auf die Zustimmung zu dieser Entlassung durch seine Gewerkschafts-„Kollegen“ im Betriebsrat legt er die Finger in die Wunden der Gewerkschaften und klagt die Bürokratie an: „Kaum haben wir einen von uns dank Mitbestimmung in den Aufsichtsrat gehievt, versteht er die Logik der Bosse!“ Und über den Gewerkschaftschef: „Aber er hats gewusst, natürlich hat ers gewusst dass sie uns Reisholzer kaputt machen wolln, egal ob wir den besten Stahl in Deutschland schmieden, nur um aus Montan rauszukommen, kein Sterbenswort davon hat er uns wissen lassen, damit wir schön brav produzieren bis zur letzten Tonne und keinen Stunk machen und er, ihr werdets erleben, in der nächsten Regierung Arbeitsminister wird, egalb ob bei Schmidt oder Strauss, oder vielleicht wie der Leber Verteidigungsminister und die ganze IG Metall wird jubeln Einer von uns im Kabinett! Kein Wort mehr von Gegenmacht! Das ist die Konzertierte Aktion über die Hintertreppe meine Herrn, deshalb scheiß ich auf ihre Mitbestimmung, egal ob Montan oder nicht, mit der sie uns eingeseift haben, und ein ganzer stolzer betriebsrat, 14 Mann und eine Frau, nickts ab wenn ihm der Vorsitzende weggeschossen wird! Hab ich mir denn meine Bude renovieren lassen auf betriebskosten wie der Feckler von F&G? Hab ich unsre Ellie vernascht? Hab ich Lustreisen nach Brasilien gemacht mit Mannesmannknete wie der Loderer? Hab ich das? Wie?“
Dieser Auszug aus dem in diesem Jahr hoffentlich zu erwartenden vierten Band mit dem Titel „Winterdämmerung“ macht große Vorfreude.
Der Sammelband „Unsichtbar lächelnd träumt er Befreiung“ enthält unter anderem auch einen Brief Heinrich Bölls an Erasmus Schöfer, in dem er diesem 1984 als Lektor des LAMUV-Verlags erklärt, warum dieser seinen Roman „Tod in Athen“ – die ursprüngliche Fassung des dritten Tetralogie-Bandes „Sonnenflucht“ nicht herausbringt. Außerdem interessante Gespräche mit Schöfer selber und verschiedene Artikel zu „Die Kinder des Sisyfos“. Besonders interessant ist unter anderen der Text von Rüdiger Scholz, in dem auch auf den autobiographischen Gehalt der Romanreihe eingegangen wird, aber auch einige interessante literaturtheoretische Positionen vertreten werden. So zum Beispiel zu Schöfers sehr eigener darstellung von Liebe und Sexualität, die zu Kontroversen mit seinem Verleger Dittrich geführt hat. Scholz schreibt dazu: „Die sexuelle Liebe erhält eine eigene Sprache jenseits pornographischer Darstellung. Schöfer hat versucht, eine neue Liebessprache zu entwickeln, die der Lebensmacht Liebe auch als körperlicher Liebe gerecht wird und damit klar macht, dass die Alternative Liebe oder politische Arbeit nicht existiert.“
Scholz arbeitet auch andere interessante Aspekte von Schöfers Roman heraus: die männliche Perspektive, die historische Faktizität, die konsequente Perspektive von unten (im gesellschaftlichen Sinne). Doch Scholz irrt in einem Punkt. Er schreibt: „Die Romane konstatieren das Scheitern der Hoffnungen, die Grundhaltung ist pessimistisch, elegisch, resignativ. Schon der Gesamttitel „Die Kinder des Sisyfos“ zeigt die Vergeblichkeit des Handelns.“ Darauf antwortet Schöfer selber in einem in der jungen Welt veröffentlichten Interview: „Mir geht es bei dem Sisyfos-Mythos nicht um die Vergeblichkeit, sondern um die Beständigkeit in dem Versuch, den Stein auf den Berg zu bringen und sich nicht entmutigen zu lassen. Die Menschen, von denen ich schreibe, das sind diejenigen, die zwar auch oft verzweifeln, vielleicht die Hoffnung mal verlieren, aber doch im Grunde wissen, dass sie weitermachen wollen, dass die humanitären Ideale und Einrichtungen, die in der Geschichte unserer abendländischen Gesellschaften erarbeitet wurden, bewahrt, verteidigt und weiter entwickelt werden müssen.“
Ein Schwachpunkt aus marxistischer Sicht bleibt auch in den Texten dieses Sammelbandes, wie auch in der Romanreihe selber, die Auseinandersetzung mit den sich sozialistisch nennenden Staaten der DDR, Sowjetunion und Osteuropas. Diese Auseinandersetzung wird geführt, aber sie geht viel zu wenig in die Tiefe und bringt keine treffende Analyse dieser bürokratisch-diktatorischen Gesellschaften hervor. Schöfer war DKP-Mitglied und nennt sich heute Mitglied der „KPW“ (Kommunistische Partei der Welt). Es ist beeindruckend, wenn er sagt: „Ich bin nie ein parteihöriger Schriftsteller gewesen. Nach 1980 habe ich fünf Jahre am Tod in Athen gearbeitet, der 1986 erschien. Da stand die ganze Verzweiflung eines Kommunisten über die im Namen Stalins begangenen Verbrechen schon drin. Ich hatte eine ganz einfache Maxime, die hieß, ich sage, was ich sagen will und was ich zu sagen für nötig halte ohne Rücksicht auf so genannte Parteidisziplin. Und wenn das den Genossen nicht passt, dann sollen sie mich ausschließen und ein Verfahren gegen mich machen. Ich von mir aus gebe aber den Gedanken nicht auf, dass eine Kommunistische Partei in diesem Land einen Sinn hat und dass man sie so entwickeln muss, dass sie auch eine größere Überzeugungskraft findet.“ Was fehlt, ist das Verständnis, dass eine sozialistische oder kommunistische Partei nur dann an Überzeugungskraft gewinnen kann, wenn sie mit dem System Stalin, dem System Honecker, dem System Breschnew bricht und ein Programm authentischer sozialistischer Demokratie vertritt. Etwas mehr Trotzki würde Schöfer und seinen Protagonisten in diesem Zusammenhang gut tun. Und trotzdem ist Rüdiger Scholz in seinem Fazit zuzustimmen: „Die Romane als Repräsentation bundesdeutscher Geschichte der linken Bewegung seit den 60er Jahren sind ein großer Wurf. Das Unternehmen ist einzigartig, Schöfers Wissen und Kraft zur Verdichtung von immensem historischen Material bewundersnwert. Hält der noch ausstehende vierte Roman Winterdämmerung die Höhe der drei vorliegenden, wird die Sisyfos-Tetralogie die authentischste Romandarstellung bundesdeutscher Geschichte vom Aufbruch in den 60er Jahren bis zum Ende des Sowjetsozialismus“
Schade nur, dass die Auflage der Bücher nur im vierstelligen Bereich liegt und keiner breiteren Leserschaft zugänglich ist.