Überraschend erhielt ein „Banker“ den Friedensnobelpreis. Muhammad Yunus ist der Gründer der Grameen-Bank, deren System von „Mikrokrediten“ inzwischen weltweit Anerkennung und Nachahmung gefunden hat.
von Sonja Grusch
Die Grameen-Bank ging 1983 aus einem Pilotprojekt in Bangladesh hervor und hat nach eigenen Angaben bis heute Kredite an 6,6 Millionen Menschen geben, davon 97 Prozent Frauen. Die Mikrokredite werden heute international von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, von Menschen mit sehr unterschiedlichem politischen Hintergrund, als ein wesentlicher Ansatz für die Armutsbekämpfung gesehen. Kritische Stimmen hört man selten. Ist die Quadratur des Kreises tatsächlich gelungen?
Armut: Ein Massenphänomen, das weiter zunimmt
Von 1997 bis 2006 hatte die UNO das „Jahrzehnt für die Ausrottung der Armut“ ausgerufen. Tatsächlich ist die Armut aber gestiegen. Es reicht nicht, hierzu Zahlen wie „wie viel Dollar hat ein Mensch pro Tag zur Verfügung“ heranzuziehen. Teilweise sogar aussagekräftiger sind Angaben zu Kindersterblichkeit, Unterernährung, Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen oder die Stellung von Frauen. Tatsache ist, dass die Anzahl der Hungersnöte in den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen hat. Gab es in den 1980er Jahren durchschnittlich international 15 Hungersnöte pro Jahr, so war diese Zahl nach der Jahrtausendwende auf durchschnittlich 30 pro Jahr angestiegen. Zur selben Zeit hat rund ein Viertel der Weltbevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. In Teilen von Afrika und Südostasien leiden 40 bis 50 Prozent aller Kinder an Mangelerscheinungen. Die Kürzungen und Privatisierungen im Gesundheitswesen bringen nun auch in Osteuropa und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion Armutskrankheiten wie Tuberkulose wieder auf die Tagesordnung.
Entwicklungshilfe ist nicht ideologiefrei
Konzepte, wie den Armen zu helfen ist, gab und gibt es viele. Niemals sind sie ideologiefrei, sondern folgen in ihrer Entwicklung dem politischen und ökonomischen Mainstream. Wenn nun Mikrokredite von Institutionen wie UNO und Weltbank massiv unterstützt und gefördert werden, dann ist Misstrauen angesagt.
In der Wirtschaftspolitik hat sich seit den 1980er Jahren die Doktrin maßgeblich geändert. Der Neoliberalismus ist das alles beherrschende Prinzip und der Hype der Mikrokredite ist dafür Ausdruck. Hand in Hand ging diese Entwicklung mit einem geänderten politischen Kräfteverhältnis. In den 1960er und 1970er Jahren traten die ex-kolonialen Staaten selbstbewusst auf: sie waren noch nicht in der Schuldenfalle, hatten großteils ihre Kolonialherren abgeschüttelt und zumindest formale Unabhängigkeit erlangt und in Form der Sowjetunion existierte eine Systemalternative zum Kapitalismus, wenn auch in Form einer bürokratischen Diktatur statt einer sozialistischen Demokratie. Heute ist die Schuldenlast der neokolonialen Staaten erdrückend, ihre politische und wirtschaftliche Abhängigkeit wieder groß und ihre herrschenden Eliten meist Marionetten verschiedener imperialistischer Staaten
Mikrokredite und Agrarpolitik
Die Agrarpolitik ist ein international sehr brisantes Thema und Ursache für internationale Konflikte, zum Beispiel zwischen den USA und der EU, oder auch innerhalb der EU. Auch in den internationalen Institutionen, insbesondere der Welthandelsorganisation (WTO) stehen Agrarfragen ganz oben auf der Tagesordnung. Die heutige Situation lässt sich im wesentlichen in folgenden Punkten zusammenfassen:
* Die Industriestaaten haben Agrarüberschüsse, die sie gerne in der „3.Welt“ absetzen wollen
* Die Agrarproduktion wird international immer stärker industrialisiert, was insbesondere in ärmeren Ländern zu Landverlust für die bisherigen Kleinbauern/bäuerinnen führt. Hybridsaatgut beschleunigt diesen Prozess noch, da die Kleinbauern/bäuerinnen rasch in der Schuldenfalle landen.
* Die Industriestaaten exportieren Agrarprodukte in die „3.Welt“, die ihrerseits auf Importe angewiesen ist, da sie auf exportorientierte Produktion umgestellt hat (Kaffee, Tee, Tabak etc.).
* Die Agrarproduktion in den Industriestaaten wird teilweise hoch subventioniert, während unter anderem. durch die WTO bzw. Einzelverträge den neokolonialen Staaten ihrerseits das Subventionieren verboten wird.
Die Politik von internationalen Institutionen wie Internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank und WTO verschärfen die Ungleichheit noch, indem zum Beispiel die Kreditvergabe an weitreichende Zugeständnisse gekoppelt ist:
* Die Subventionen von lebensnotwendigen Gütern werden stark reduziert bzw. abgeschafft. D.h. das Grundnahrungsmittel und Heizmaterial stark im Preis steigen, was den Lebensstandard der Bevölkerung teilweise rapide absinken lässt. Die revolutionäre Bewegung 1998 in Indonesien wurde durch ein derartiges IWF-Diktat ausgelöst.
* Die landwirtschaftliche Produktion wird auf den Export umorientiert, die Erträge für den Schuldendienst verwendet. Die eigene Bevölkerung kann nicht mehr ernährt werden.
* Die Strukturanpassungsprogramme (SAP) bedeuten die Reduzierung von Agrarsubventionen der ärmeren Länder, wodurch diese am Weltmarkt noch schwerer mit den – hoch subventionierten – Agrarprodukten der imperialistischen Staaten konkurrieren können.
Ein Ergebnis dieser Politik ist, dass es seit 1995 wieder eine Zunahme der weltweiten Unterernährung gibt. Die Mikrokredite wirken durchaus auch in diese Richtung: Kredite werden zum Beispiel in Indien vor allem für die Errichtung kleiner Shops (Geschäfte) vergeben. Arme Menschen werden aus der Landwirtschaft in den Dienstleistungssektor verschoben, und sogar teilweise als Glied einer neuen Vertriebskette missbraucht. Mit weitreichenden Folgen: Die Abhängigkeit steigt massiv. Während vorher die eigene Landwirtschaft zwar nur karge Erträge brachte, stellte sie doch eine Möglichkeit, die eigenen Grundbedürfnisse auch ohne den Gelderwerb zumindest teilweise zu sichern. Durch den Wechsel in den Dienstleistungssektor ist diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Angenehmer Nebeneffekt für Multis: Land ist leichter zu bekommen, die bisherigen LandbesitzerInnen erpressbarer (weil durch die Kredite verschuldet), die Abhängigkeit von importierten Nahrungsmitteln steigt.
Mikrokredite und der internationale Finanzsektor
Ein zentrales Argument für Mikrokredite ist, dass hiermit ein Zugang zu Krediten für Menschen geschaffen wird, die zu „normalen“ Krediten aufgrund ihrer mangelnden Sicherheiten keinen Zugang haben. Hier muss die Frage gestellt werden: Warum gibt es die Armut und auch teilweise einen Kapitalmangel in diesen Gebieten? Die Armut der sogenannten „3. Welt“ ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen kolonialistischen und imperialistischen Ausbeutung. Diesen Ländern wurden systematisch Rohstoffe gestohlen, ihre Bevölkerung brutal unterdrückt und ausgebeutet und eine eigenständige industrielle Entwicklung mit aller Gewalt verhindert. Die internationalen Institutionen – UNO, IWF, Weltbank, WTO etc. – haben daran nicht nur nichts geändert, sondern betreiben diese Politik – wenn auch in diffizilerer Form – weiter. Durch die neoliberale Politik seit den 1980er Jahren haben sich die Gegensätze zwischen Arm und Reich sowohl innerhalb der einzelnen Staaten, als auch zwischen den „armen“ und den „reichen“ Staaten vergrößert. Bis in die 1970er Jahre erhielten die ehemaligen Kolonien – meist staatliche – Kredite aus den ehemaligen Kolonialstaaten. In den 1980er Jahren stiegen die Zinsen stark an, was der Beginn der Schuldenfalle war, in dem ein Großteil der neokolonialen Staaten heute steckt. Tatsächlich kam es in den 1980er Jahren zu einer Umdrehung des Nettokapitalstromes – das heißt, dass die „3. Welt“ die Gewinne der imperialistischen Konzerne der „1. Welt“ finanziert. Zum Beispiel transferiert die Subsahara-Region seit 1995 jährlich 1,5 Milliarden Dollar mehr in die nördlichen Industriestaaten, als sie erhält. In den 1990er Jahren war der Zugang zu Krediten für die ärmeren Länder schwer, was auch zu einem gewissen Kapitalmangel führte. Seit der Jahrtausendwende hat sich das wieder geändert, teilweise auch durch die Mikrokredite.
Ein weiterer Grund für die Hinwendung internationaler Finanzinstitutionen zu ärmeren Ländern, ist die weltweite Überakkumulation. Der Kapitalismus befindet sich seit den 1980er Jahren in einer Depression – es wird immer schwerer Gewinne zu machen. Die internationale Konkurrenz steigt, Profite zu realisieren wird schwerer, es gibt (gemessen an dem was sich die Menschen leisten können, nicht was sie brauchen) eine weltweite massive Überproduktion. Es wird immer weniger profitabel, Geld im Produktionsbereich anzulegen. Daher wandern zumindest Teile des Kapitals in den spekulativen Bereich aus. Das drückt sich im Boom der Finanzmärkte und immer neuen Finanz“produkten“ und Spekulationsfeldern aus. Mikrokredite stellen hier einen neuen Finanzmarkt dar, eine neue Kundenschicht wird entdeckt, neue Anlagemöglichkeiten für das internationale Kapital tun sich auf.
Die UNO hat das Jahr 2005 zum Jahr der Mikrokredite ausgerufen mit dem Ziel 100 Millionen Menschen als Mirkokredit-KundInnen (und damit SchuldnerInnen) zu erreichen.
Vergeben werden die Mikrokredite von NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen), nationalen und internationalen Bankinstituten. Schon längst ist dieser Markt von großen Banken erobert worden, wie zum Beispiel in Indien der Staatsbank Bank of India, der Weltbank-Tochter FTC, dem Soros Economic Development Fund oder dem responseAbilityGlobal Microfinance Fund, einem Fond an dem diverse schweizer Banken, wie zum Beispiel die Credit Suisse Group beteiligt sind. Viele der Großbanken arbeiten hier mit Tochtergesellschaften, in derem Namen Begriffe wie „Entwicklung“ oder „Development“ oder ähnliches vorkommt, um ihren „humanistischen“ Anspruch zu verdeutlichen. Übrigens auch eine gute Möglichkeit, kritischen AnlegerInnen in den Industriestaaten, die ihr Geld nicht in Rüstungsaktien oder Umweltsünder stecken möchten, eine Anlageform mit „reinem Gewissen“ zu verkaufen (teilweise bekannt als „Ethnikfonds“). Die internationale Koordination findet unter dem Dach der Weltbank statt.
Die Austrian Development Agency (ADA), das „Kompetenzzentrum der Österreichischen Entwicklungs- und Ostzusammenarbeit“ schreibt daher auch sehr direkt: „Anders als noch vor einigen Jahren gilt Mikrofinanzierung heute nicht mehr als Wohltätigkeit, sondern muss profitabel sein.“
NGOs agieren oft als Vermittler zwischen Banken und „KundInnen“ – teilweise aus Überzeugung, teilweise aus Alternativlosigkeit, teilweise weil sie der verlängerte Arm der Politik sind. Die Rolle von NGOs insbesondere in neokolonialen Staaten, muss kritisch betrachtet werden, da sie häufig als Instrumente eingesetzt werden, um herrschende Vorstellungen (das heißt Vorstellungen der Herrschenden) umzusetzen und potentiellen Widerstand gegen Ungerechtigkeiten in kontrollierbare Bahnen zu lenken.
Das Risiko für die Banken ist vergleichsweise gering: die Rückzahlungsrate bei Mirkokrediten liegt oft bei über 90 Prozent, wohl vor allem auch deshalb, weil es staatliche Zuschüsse bzw. Garantien gibt (was noch nichts darüber aussagt, wie leicht oder eher schwer es den KreditnehmerInnen fällt, die Kredite zurückzuzahlen). Außerdem wird ein großer Teil der Kosten externalisiert – d.h. Beratung und Betreuung, die Einschätzung, wer einen Kredit erhält und wer nicht, das Eintreiben und Verwalten der Beiträge/Raten werden von NGOs und vor allem von den KreditnehmerInnen (die teilweise, wie bei der Grameen-Bank als Mitglieder gehandelt werden) geleistet. Dabei handelt es sich um unbezahlte Arbeit, die oft als Vorbedingung für die Gewährung eines Kredits geleistet werden muss.
Da die Kredite meist in Euro bzw. US-Dollar gewährt werden (also quasi Fremdwährungskredite sind) tragen die KreditnehmerInnen bzw. die zwischengeschalteten Stellen auch das volle Risiko von Währungsschwankungen.
Alles in allem also ein gutes Geschäft – das sich auch noch mit unbezahlbarer Werbung fürs eigene „humane“ Image verbinden lässt.
Durchsetzen einer Ideologie: Mehr Privat – weniger Staat
Seit längerem ist ein Rückzug der Staaten aus der Entwicklungspolitik zu verzeichnen. 1970 gab sich die UNO das – seither immer wieder – bekräftigte Ziel, dass die „reichen“ Staaten 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungshilfe zahlen sollten. Nachdem die Zahlungen bis Anfang der 1960er Jahre gestiegen waren, sinken sie seither wieder. Zur Zeit liegt der Wert bei durchschnittlich 0,4 Prozent des BIP, in Deutschland bei circa 0,3 Prozent. Auch in den neokolonialen Staaten selbst werden Maßnahmen zur Armutsbekämpfung u.a. auf Druck von IWF und Weltbank abgeschafft – zum Beispiel die Subventionen für Grundnahrungsmittel. Das Konzept, Armut durch Zahlungen aus den reichen Staaten (und nicht durch die Konzerne von der Ausbeutung dieser Staaten profitieren) zu beenden, kann und soll hinterfragt werden, aber das Sinken der Entwicklungshilfe spiegelt den Privatisierungstrend wieder, der auch in diesem Bereich um sich greift.
Während also einerseits die staatlichen Maßnahmen zurückgehen, findet andererseits eine enorme Propaganda für Mikrokredite statt. In den 1970er Jahren galt „Hunger ist kein Schicksal“ und die Verantwortung von Kolonialismus und Imperialismus für Armut war breit bekannt. Viele ex-koloniale Staaten setzten damals auf eine Politik der Importsubstituierung, d.h. es wurde versucht, Produkte selbst anzubauen und zu produzieren, um sich unabhängiger von ausländischen Importen zu machen (was in Zeiten zunehmender internationaler Konkurrenz von den imperialistischen Staaten durch u.a. die WTO beendet wurde). Auch im Verständnis für die Verantwortung für Armut fand ein Paradigmenwechsel statt. Gerade die Mikrokredite schaffen die Illusion, das jede und jeder nun eine Chance hätte, sich aus der Armut zu befreien. „Jeder ist seines Glückes eigener Schmid“ steht groß über der Propaganda für Mikrokredite. Was auch bedeutet: Wer angesichts dieser großartigen Möglichkeiten arm bleibt, ist selbst schuld.
In der Erklärung des Microcredit Summits von 1997 wurde vermerkt, Mikrokredite wären der Sieg des Pragmatismus über die Ideologie. Richtiger wäre es zu sagen, Mikrokredite sind der Austausch einer durch eine andere Ideologie.
Die Position von Nobelpreisträger Muhammad Yunus, passt gut in diesen ideologischen Wechsel. Er ist z.B. gegen Schuldenstreichung für die „3. Welt“ und meint „Menschen wachsen durch Herausforderungen, nicht durch Linderungsmittel“. Und vergisst dabei ganz, dass das Leben in z.B. Bangladesh an sich schon eine tägliche Herausforderung ist und dass es nicht um Geschenke, sondern ein Ende der Ausbeutung geht.
Mikrokredite: Was bringen sie den Armen?
Nach all dieser Kritik könnte man anmerken, dass Mikrokredite trotzdem den Armen helfen, quasi eine Win-Win-Aktion sind, von der sowohl Banken und Unternehmen als auch die Armen profitieren. Die Realität sieht allerdings anders aus. Umfassende Studien über die Wirkung von Mikrokrediten gibt es nicht, dafür eine Reihe herzerweichender Einzelbeispiele von Frauen, die durch einen Mikrokredit eine Kuh erhalten und ihr Selbstbewusstsein gestärkt haben. Warum es diese Studien nicht gibt, ist an sich schon eine Frage: Warum wird ein derartig großangelegtes Projekt nicht bilanziert? Es gibt aber von KritikerInnen eine Reihe von Untersuchungen und Beispielen für die negativen Auswirkungen von Mirkokrediten:
* Mikrokredite haben in der Regel sehr hohe Zinsen, die Grameen-Bank verlangt für Kredite zur Schaffung von Einkommen 20 Prozent pro Jahr, aber es gibt auch Zinssätze von bis zu 40 Prozent pro Jahr. Diese Werte sind zwar niedriger, als bei den lokalen, privaten Geldverleihern, aber höher als größere Kredite bei den zum Beispiel staatlichen Banken. Rechtfertigt werden die hohen Zinsen mit dem hohen administrativen Aufwand, um die Kredite zu betreuen und „zum Kunden“ zu bringen. Allerdings werden ja gerade diese Kosten und Leistungen externalisiert, sind also zum Großteil von den KreditnehmerInnen selbst zu erbringen. Und große Banken investieren in einen Bereich nur, wenn er Gewinne verspricht.
* Durch den Wechsel von der Agrarwirtschaft, die eine gewisse Unabhängigkeit gewährleistet, in den Dienstleistungssektor steigt die Abhängigkeit der KreditnehmerInnen, die oft in einen Teufelskreis geraten.
* Die Verschuldung von KreditnehmerInnen – Einzelpersonen oder auch SHGs (Selbsthilfegruppen, die oft als Basisstruktur für die Kreditaufnahme und -vergabe agieren) – steigt. Einerseits haben diese Menschen oft keine Erfahrung mit „größeren“ Mengen Geld (denn auch wenn es Mikrokredite sind, so sind es doch höhere Beträge als sie sonst haben). Außerdem wird ein Großteil der Kredite für unmittelbare Ausgaben in Notsituationen, Missernte, Tod eines Angehörigen etc., benötigt, der dann keine entsprechenden Einnahmen, aber dafür künftige Schulden gegenüber stehen. Und dort, wo die Kredite als Investition eingesetzt werden, gibt es, wie eine Untersuchung in Südindien zeigt, den Druck der Banken, in Shops zu investieren. (Frauen z.B. die lieber in eine Mühle investiert hätten wurden davon „überzeugt“, in einen Shop zu investieren.) Diese Shops sind selten profitabel – was logisch ist, denn wer soll in diesen Shops einkaufen? Die lokale Bevölkerung hat kein Geld, gäbe es die Nachfrage nach solchen Shops, dann gäbe es sie schon längst. Aber irgendwoher muss das Geld ja kommen, um die Kredite zurückzuzahlen. Oft raten die Banken den KundInnen auch eher zu einem Kredit, als zum Sparen (was keine Verschuldung bringen würde). Andhra Pradesh, das häufig als „Erfolgstory von Mikrokrediten“ präsentiert wird, ist gleichzeitig der indische Bundesstaat mit der höchsten Anzahl an Todesfällen als Folge von Verschuldung.
* Mikrokredite gibt es nicht für die Ärmsten der Armen. Durch die Auswahlkriterien, die eine gewisse „Kreditwürdigkeit“ ergeben müssen (also die Chance, dass der Kredit auch zurückgezahlt werden kann) bleiben all jene, die zum Beispiel nicht arbeitsfähig sind, als KreditnehmerInnen ausgeschlossen.
* Das vielleicht häufigste Argument für Mikrokredite ist, dass dadurch die Selbstständigkeit von Frauen in stark patriarchalen Gesellschaften gestärkt würde. Tatsächlich sind in den meisten Fällen Frauen die bevorzugten oder ausschließlichen KreditnehmerInnen. Häufig werden Selbsthilfegruppen (SHG) eingerichtet bzw. bestehende instrumentalisiert. Das Zusammenkommen von Frauen in Gruppen, der Austausch von Erfahrungen etc. ist selbstverständlich für das Selbstbewusstsein positiv (wobei fraglich ist, ob es diese Strukturen nicht ohnehin auch schon vor den Mikrokrediten gegeben hat). Aber je mehr die Kredite, ihre Abwicklung und Betreuung, ins Zentrum rückt, desto mehr rücken andere Themen (Gewalt in der Familie, die Stellung von Frauen ganz allgemein) in den Hintergrund. Oft werden die SHGs auch vom Staat oder kreditgebenden Organisationen (zum Beispiel der Grameen-Bank) benützt, um ihre Vorstellungen in Bezug auf Familienplanung, Hygiene etc. durchzusetzen. Auch wenn vielleicht diese Vorstellungen (zum Beispiel nur abgekochtes Wasser zu trinken) auch positiv sein können, drückt sich darin doch ein paternalistischer Zugang aus. Berichtet wird auch von negativen Entwicklungen der SHGs, wenn es fehlende wirtschaftliche Erfolge der Projekte gibt und die Schuldenrückzahlung zu Konflikten in der Gruppe führt. Besonders negativ ist, dass durch die Tatsache, dass vor allem Frauen diese Kredite bekommen, sich aber an den Familienstrukturen an sich nichts ändert, vor allem Frauen in die Schuldenfalle geraten. Die Frau nimmt den Kredit auf – der Mann nutzt das Geld bzw. zahlt Leistungen die er sonst zahlen würde (Schulgeld für die Kinder) nicht, und die Frau muss den Kredit dann zurückzahlen. Durch zusätzliche Arbeit oder durch weiteren Verzicht bei eigenen Bedürfnissen.
Abschließende Bemerkungen
Mikrokredite sind ein internationales Geschäft, bei dem Millionen, wenn nicht sogar Milliarden von Dollar im Spiel sind. Die damit betrauten Institutionen sind sehr unterschiedlich. Nicht jede Kritik muss auf jede Zutreffen. Zweifellos gibt es auch positive Erfahrungen mit KreditnehmerInnen, die ihr Leben verbessern konnten.
Aber es ist wichtig festzustellen, dass Mikrokredite keine Lösung für Hunger und Armut sind. Die Urlüge des Kapitalismus, jeder könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden, wird doch oftmalige Widerholung nicht wahrer. Bangladesh wird gerne als Musterbeispiel für die „Erfolge“ der Mikrokredite verwendet. Die Bevölkerung in Bangladesh leidet unter anderem unter durch Arsen vergiftetes Trinkwasser und häufige Überflutungen (die durch die Folgen der globalen Erwärmung noch verschlimmert werden). Beides Probleme, für die es keine individuellen Lösungen gibt.
Auch im 19. Jahrhundert gab es die Hoffnung durch Produktions- und Konsumgenossenschaften quasi „soziale Inseln“ im Kapitalismus zu errichten. Auch der Versuch von Hugo Chávez in Venezuela, eine Art gerechtere Parallelwirtschaft aufzubauen, geht in dieselbe Richtung.
Aber letztlich sind all diese Ansätze zum Scheitern verurteilt wenn es darum geht, Armut, Ausbeutung und Hunger für alle Menschen zu beseitigen. Eben weil die ungleiche Verteilung von Reichtum nicht natürlich ist, kann sie auch mit individuellen Ansätzen nicht gelöst werden. Im Gegenteil wirken Mikrokredite in Richtung einer Individualisierung, Fragen von Widerstand zum Beispiel gegen überhöhte Preise bei Saatgut oder ungerechte Landverteilungen werden nicht gestellt.
Hunger und Armut sind das Ergebnis einer Wirtschaftsordnung, in der Profite der Dreh-und-Angelpunkt sind. Der Kapitalismus braucht Arbeitslosigkeit und Armut um seine Profite machen zu können. Ein sozialer Kapitalismus – insbesondere für alle Menschen auf der Welt – ist eine Utopie, die den Notwendigkeiten und Mechanismen des Systems widerspricht.
Es ist notwendig, hier und jetzt gegen Armut und Hunger zu kämpfen, aber eine Beseitigung dieser Geißeln der Menschheit ist nur mit der Beseitigung des Kapitalismus möglich.
Sonja Grusch ist Bundessprecherin der Sozialistischen LinksPartei in Österreich und Mitglied im Internationalen Vorstand des Komitees für eine Arbeiterinternationale. Sie lebt in Wien.