Dramatische Wende bahnt sich an – Fortsetzung des Streiks gegen IGM-Beschluss
Seit Monaten kämpft die Belegschaft des Bosch-Siemens-Hausgerätewerks um den Erhalt der Fabrik in Berlin-Gartenfeld. Im August kam die Nachricht, dass die Geschäftsleitung die Produktion zum Jahresende stilllegen will. Seit drei Wochen befinden sich die Arbeiterinnen und Arbeiter im Streik. Sie organisierten einen Marsch der Solidarität quer durch die Republik, der sie zu anderen von Arbeitsplatzvernichtung betroffenen Belegschaften und den anderen BSH-Werken führte. Die Resonanz, vor allem in Kamp Lintfort, wo BenQ vor der Schließung steht, und bei den AEG-KollegInnen in Nürnberg war hervorragend. Auch die internationale Solidarität wurde durch die BSH-Belegschaft entwickelt. Gewerkschaftsvertreter aus den BSH-Werken in Polen und der Türkei wurden nach Berlin eingeladen und in beiden Werken haben in den letzten Tagen erste Flugblatt-Aktionen zur Solidarität stattgefunden.
Die Siemens-Bosse stehen zur Zeit, unter anderem wegen der BenQ-Pleite, unter erheblichem öffentlichem Druck. In der arbeitenden Bevölkerung wächst die Wut auf millionenschwere Manager und Kapitalisten, die Profite anhäufen und gleichzeitig Werksschließungen und Massenentlassungen vornehmen. Deshalb wollte der Siemens-Vorstand eine Demonstration vor der Konzernzentrale in München – die als Abschluss des Marsches der Solidarität für den heutigen Donnerstag geplant war – verhindern. Diese hätte Arbeiterinnen und Arbeiter aus verschiedenen Belegschaften zusammen bringen und die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes aufzeigen können.
Versuch des Streik-Abbruchs
So gelangten Geschäftsleitung und Verhandlungsführer von IG Metall und Betriebsrat am Mittwoch zu einer Einigung und die Kundgebung in München wurde schnell abgesagt. Die IG Metall beeilte sich das Ergebnis als einen Erfolg zu verkaufen: zum ersten Mal sei ein Stilllegungsbeschluss rückgängig gemacht worden, das Werk bleibe erhalten.
Bei genauerem Hinsehen blieb den Kolleginnen und Kollegen aber die Freude im Halse stecken. Die Vereinbarung sah 216 betriebsbedingte Kündigungen, zwanzig Prozent Lohnkürzungen für die verbleibenden Mitarbeiter und mäßige Abfindungen für die ausscheidenden KollegInnen vor. Hinzu kommt, dass eine Aussicht für eine Fortführung der Produktion nach 2010 überhaupt nicht besteht und viele KollegInnen zurecht die Sorge äußerten, dass die Geschäftsleitung schon vorher versuchen könnte diese Vereinbarung zu brechen, um einer dann geschwächten Belegschaft das Rückgrat zu brechen. Die Zustimmung zu dieser Vereinbarung und insbesondere die Absage der in München geplanten Demonstration wurde von vielen KollegInnen massiv kritisiert. Darunter auch von Mitgliedern des Betriebsrats und dem Vertrauenskörperleiter Hüseyin Akyurt. Auch der für den Betriebsrat tätige Rechtsanwalt Thomas Berger kritisierte die Vereinbarung öffentlich und bezeichnete sie als „schlecht“.
Erste Diskussionen am Mittwoch verliefen entsprechend kontrovers. Doch vor allem wussten viele KollegInnen gar nicht, was genau vereinbart wurde, da der Text der Vereinbarung nicht an alle verteilt wurde. Gleichzeitig wurde für den Donnerstag schon die Urabstimmung durchgesetzt.
Donnerstag früh um 6.30 Uhr wurde der Text der Vereinbarung dann von SAV-Mitgliedern an die Kolleginnen und Kollegen verteilt, zusammen mit einem Flugblatt mit dem Titel „Sagt Nein!“, das zur Ablehnung des Verhandlungsergebnisses bei der Urabstimmung aufrief. Beides wurde uns aus der Hand gerissen und „Sagt Nein!“ wurde zur Parole des Tages. Die Empörung über den tatsächlichen Text der Vereinbarung überstieg die Kritik des Vortages um ein vielfaches. Noch vor der Eröffnung der Streikversammlung ergriffen Kollegen das Wort im vollbesetzten Streikzelt und wiesen darauf hin, dass die Behauptung, es habe keine bundesweite Solidarität für den Streik gegeben (die von einigen Befürwortern der Vereinbarung als ein Grund für den Abschluss genannt wurde) nicht der Wahrheit entspricht. Ein Kollege, der am Marsch der Solidarität teilgenommen hatte, wies darauf hin, wie viele Unterstützungsunterschriften zum Beispiel gesammelt wurden. Ein Betriebsratsmitglied forderte auch dazu auf, dass es keine Urabstimmung geben dürfe, bevor nicht alle KollegInnen den Text der Vereinbarung gelesen haben und alle Fragen dazu beantwortet sind.
Streikversammlung am Donnerstag
Dann ergriff der Betriebsratsvorsitzende Güngör Demirci das Wort, der den Verlauf der Urabstimmung erklären wollte. Er versuchte auch noch einmal zu begründen, warum er der Vereinbarung zugestimmt hat. Daraufhin rief der VK-Leiter Akyurt unter tosendem Applaus der versammelten Belegschaft aus, dass es sich um einen faulen Kompromiss handelt. Seine Frage „wollt Ihr weiter kämpfen?“ wurde ebenso begeistert wie lautstark bejaht. Bei zum Teil tumultartigen Szenen wurde der Versuch die Urabstimmung vor einer allgemeinen Aussprache und Klärung der offenen Fragen zu beginnen, verhindert.
Nach einer Pause wurde die Streikversammlung fortgesetzt, um die Punkte der Vereinbarung durchzugehen und die Fragen der KollegInnen zu beantworten. Direkt zu Beginn dieser Aussprache wies Hüseyin Akyurt noch einmal darauf hin, dass eine Annahme nur zu einer Schwächung der Belegschaft führt und es eine Illusion ist zu glauben, man könne dann 2010 noch effektiven Widerstand gegen eine Schließung leisten. Den Vereinbarungstext in die Luft haltend sagte er: „Schlimmer als das, was wir jetzt haben, kann es nicht kommen!“ Wieder tosender Applaus. Nach einer, teilweise langatmigen, Diskussion über die Einzelheiten der Vereinbarung spitzte sich die Versammlung wieder zu, als der Punkt 9 aufgerufen wurde. In diesem hatten sich IG Metall und Betriebsrat verpflichtet keine weiteren Aktionen außerhalb von Berlin durchzuführen, womit vor allem die Kundgebung in München gemeint war. Der erste Kollege, der dazu sprach schloss mit dem Satz: „Wir hatten unsere Hand an der Gurgel der Geschäftsleitung. Und die IG Metall hat uns auf die Hand geschlagen.“ Tosender Applaus. Der Begriff „Verrat“ machte die Runde. Kollegen wiesen darauf hin, dass der Kampf mit dem Versprechen geführt wurde für alle Arbeitsplätze zu kämpfen und man nun auch diejenigen enttäuscht, die solidarisch waren. Dann ergriff ein Mitglied der Tarifkommission das Wort und sagte, er habe mit seiner Zustimmung zu der Vereinbarung einen Fehler gemacht und beendete dies mit der Bemerkung „Scheiß IG Metall“. Der verantwortliche IG Metall-Sekretär Luis Sergio zog den Zorn der KollegInnen auf sich, als er behauptete, man hätte in München nur mit ein paar hundert Leuten demonstrieren können und dies wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen. Dieser Einschätzung versprachen vor allem solche Kollegen vehement, die am Marsch der Solidarität durch das Land teilgenommen hatten. Als ein Kollege dann sagte, dass man zumindest symbolisch hätte demonstrieren können und Sergio daran erinnert wurde, dass er noch vor wenigen Tagen sagte, dass man auf jeden Fall die Demonstration in München durchführen werde, erklärte Sergio, Symbolik sei ihm „scheiß-egal“.
Streik fortsetzen!
In einer bewegenden Szene ergriff dann ein Kollege das Wort und sprach über die familiären Probleme, die der Streik bei ihm schon zur Folge hatte. Und er beendete seine Ausführungen mit dem Satz: „Scheiß" auf die Probleme. Wir kämpfen weiter.“ Stehende Ovationen und Sprechchöre „Wir kämpfen weiter – Solidarität“ waren die Folge. Auf der Bühne wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Sagt Nein!“ in die Höhe gehalten.
Kurze Zeit später ergriff Güngör Demirci noch einmal das Wort, um eine persönliche Erklärung abzugeben. In dieser sagte er, er werde sich niemals gegen die Kollegen stellen. Er wiederholte, dass er die Vereinbarung als einen Erfolg sehe, dieser aber einen Haken habe, nämlich die betriebsbedingten Kündigungen. An dieser Stelle müsse die Vereinbarung aufgebessert werden. Er habe den Kollegen zugehört und sehe das Ergebnis der Urabstimmung vor Augen. Mit dem Satz: „Wir werden gemeinsam weiter kämpfen“ rief er faktisch zur Fortführung des Streiks auf und konnte sich so wieder an die Spitze der Belegschaft stellen. Allerdings diesmal, in dem er der Belegschaft folgte und nicht umgekehrt!
Die Urabstimmung läuft bis Freitag 12.00 Uhr. Der Großteil der KollegInnen stimmt jedoch offen ab, so dass es zur Zeit (19:30 Uhr am Donnerstag Abend) wahrscheinlich ist, dass die nötigen 75 Prozent für die Fortsetzung des Streiks erreicht werden. Dies wäre ein Novum in der Geschichte von Arbeitskämpfen der IG Metall und würde den Streik mit einem Schlag zu einem Kampf von enormer bundesweiter Bedeutung machen.
Da eine Urabstimmung für den IG Metall-Vorstand nur empfehlenden Charakter hat, wird sich die Frage stellen, wie dieser reagieren wird. Vom Vorstand äußerte sich niemand in den Debatten. IGM-Sekretär Sergio sprach nur davon, dass man das Ergebnis „respektieren“ werde, er aber nicht für den Vorstand sprechen könne. Es wird von großer Bedeutung sein, dass IGM-Funktionäre und -Mitglieder bundesweit in den nächsten Tagen Solidaritätsbriefe für die BSH-Belegschaft an den IGM-Vorstand schreiben und diesen auffordern, den Streik fortzusetzen.
Die Auseinandersetzung wird dann zweifelsfrei eine neue Qualität annehmen und mit härteren Bandagen geführt werden. Sie wird aber auch eine ganz neue Ausstrahlungskraft gewinnen können und zu breiterer Solidarisierung führen können.
Entscheidend wird sein, dass die Belegschaft den eingeschlagenen Weg weiter geht und die Kontrolle über den Streik gewinnt.
Entscheidend wird aber auch sein, ob GewerkschafterInnen, soziale Bewegungen und Linke in Berlin und bundesweit die Bedeutung dieser Auseinandersetzung erkennen und sofort eine bundesweite und intensive Solidaritätsarbeit beginnen.
Sascha Stanicic, 19.10.2006