Soziale Explosion in Ungarn

Nur 250 Kilometer östlich von Wien entlädt sich die Enttäuschung über sozialdemokratische „Reform-“Politik
 

von John Evers, Wien/Sopron

Es war eine regelrechte soziale Explosion die am 19. September und der Woche danach, laut durch die Straßen Budapests hallte. Den Auslöser stellte die, inzwischen bereits legendäre Rede, des sozialdemokratischen Regierungschefs und Multimillionärs Gyurcsány Ferenc dar. Dieser räumte vor einem Parteigremium ein, dass Volk belogen zu haben um die letzten Wahlen (Frühjahr 2006) zu gewinnen und kündigte nun harte Sanierungsmaßnahmen an. Ungarn wird seit 2002 von einer Koalition aus Sozialdemokraten (die sich offiziell Ungarische Sozialistische Partei, MSZP, nennt) und Liberalen (Bund Freier Demokraten, SZDSZ) regiert – von der Rechts-Opposition insgesamt schlicht als „die Kommunisten“ denunziert.

Widersprüchlicher Charakter der Protestwelle

Die Protestwelle im September hatte zum einen spontanen Charakter, in ihrer Form reichten die Methoden von der entschlossenen, aber friedlichen Massendemonstration bis zum blanken Vandalismus einiger Gruppen, die in den gestürmten TV-Studios urinierten. Zum anderen erscheint die politische Ausrichtung der Demonstrationen unscharf: Anknüpfungen an die ungarische Revolution gegen den Stalinismus 1956 waren ebenso unübersehbar, wie der Einfluss rechtsextremer Kräfte. Ein dominantes Symbol stellten die ungarischen Nationalfarben (rot-weiß-grün) dar, die gepaart mit Parolen gegen „die Kommunisten“ an der Regierung auftraten. Orbán Viktor von der großen, rechtspopulistischen Oppositionspartei FIDEZ, versuchte zunächst die Proteste zu vereinnahmen. Bemerkenswerter weise blieben auch Proteste außerhalb der Hauptstadt – in der die Sozialdemokratie bei den Wahlen 2006 mit 43,78 Prozent deutlich die Mehrheit erzielte – in den west- und mittelungarischen Provinzhochburgen der FIDEZ fast völlig aus. Umgekehrt waren hunderte, wenn nicht einige tausend Teilnehmer an den Budapester Demonstrationen aus diesen Regionen; Rechte Einpeitscher die hier bewusst von der rechten Opposition angekarrt wurden. Der FIDEZ, die selbst immer wieder zum Mittel der Mobilisierung nationalistischer Kräfte gegen die „Kommunistenregierung“ greift, gingen die Demonstrationen allerdings unmittelbar zu weit. Im Hinblick darauf, den sicheren – und inzwischen eingetretenen – Sieg bei den Kommunalwahlen am 1.10 nicht durch eine unberechenbare Eskalation zu riskieren, waren Orban und Co. schlussendlich für die vorläufige Demobilisierung der Bewegung verantwortlich.

Hintergrund

„Auch die Untätigkeit und Unfähigkeit der Linksregierungen ist dafür verantwortlich, dass das Lebensniveau der großen Mehrheit noch hinter den Glanzzeiten der Kádár-Ära* herhinkt, dass Millionen, darunter viele der 3,2 Millionen Rentner, in Armut, sogar Elend leben. Durch diese Politik ist das Land in eine tiefe Budgetkrise geraten. (Durch) Die bekannt gewordene „geheime“ Rede von Gyurcsány wurde Öl ins Feuer gegossen: Die Verlierer der Wende fühlten sich in ihrer Meinung bestätigt, dass „die Kommunisten“ schon immer gelogen haben. Ihr Chef habe das nun zynisch und offen zugegeben. Die MSZP erwidert: Die Rede sei ein leidenschaftlicher Aufschrei gewesen, um den Widerstand in der Partei gegen die unvermeidlichen harten Reformen durchzusetzen.“ (Pester Lloyd, deutschprachige Wochenszeitung Ungarns, 39/2006)

(*Anmerkung JE: 1956-1988, im Westen als „Gulaschkommunismus bezeichnet)

Ungarn war einst Vorreiter der „Wende“ in Osteuropa, einer Wende die allerdings nicht unbedingt zum Besseren für die Mehrheit der Bevölkerung verlaufen ist: Trotz einer Phase von Lohnsteigerungen um das Jahr 2000, liegen die Löhne nach Kaufkraftparitäten noch immer bei nur ca. 40 % des österreichischen Niveaus (netto sind es knapp 400 Euro). Inzwischen bildet Ungarn bei der Reallohnentwicklung sogar eines der Schlusslichter in der EU. Einer Wende die allerdings ebenso von den ehemaligen KP- Appartschiks maßgeblich vorangetrieben wurde: „Sozialisten“ wie der Ex-KP Jugendfunktionär Gyurcsány haben sich in dieser Periode der 90er Jahre eine goldene Nase verdient. Diese „Wendekommunisten“ wurden und werden von breiten Teilen der Bevölkerung deshalb als jene identifiziert, die es sich schon immer auf Kosten der kleinen Leute „richten“ konnten. Ebenso war bezeichnenderweise bereits die Regierungszeit des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Horn Gyula in den 1990ern jene Periode, in welcher die härteste neoliberale „Reformpolitik“ vorangetrieben wurde. Diese Phase bedeutete gleichzeitig den Aufstieg der rechtspopulistischen FIDEZ von einer Kleinpartei (7 %) zur stärksten Oppositionskraft, welche 1998 schließlich die Sozialdemokraten für vier Jahre ablösen konnte. Obwohl die FIDEZ und ihre Bündnispartner, wie die rechtsextreme und antisemitische MIEP, 2002 – wenn auch knapp – wieder abgewählt wurden, versuchen die rechten Oppositionsparteien seitdem soziale Rhetorik mit dem traditionell stark verankerten Antikommunismus, Nationalismus und Antisemitismus zu verbinden.

Der nun erhöhte Druck internationaler Institutionen, dass Budgetdefizit von mehr als 10 Prozent auf die „EU-Vorgabe“ von 3 Prozent zu senken, würde massive Streichung von Zuschüssen für die 30 Prozent (=3 Millionen) offiziell Arme (z.B. Streichung von Heizkostenzuschüssen …), sowie im öffentlichen Dienst bedeuteten. Der öffentliche Dienst ist allerdings für die ungarische Gesellschaft in weiten Bereichen auch jener Kitt, der – trotz offiziell relativ niedriger Arbeitslosigkeit im Landesdurchschnitt (6 %, Ostungarn allerdings bis zu 20 %) – das Land noch irgendwie zusammenhält.

„Man muss sich vorstellen, dass eine Familie in Ungarn nur wie ein Wunder vor und nach der Wende überleben kann, indem alle arbeiten und indem die meisten zwei oder mehrere Jobs haben. Ein normaler Angestellter im öffentlichen Dienst, oder im Gesundheitswesen arbeitet an zwei Stellen – ganz legal. An der einen Stelle ist er sozial versichert und zahlt Steuern und an der zweiten Stelle geht es um ein Zusatzeinkommen in den Abendstunden oder in der Freizeit. Nur so kann man den Lebensstandard halten (…).“ Radio Vatikan aus Budapest

Politische Perspektiven

Politisch scheint diese ungarische Gesellschaft an der Oberfläche zwar eindeutig gespalten: Zwischen den „kommunistischen Liberal-Sozialisten“, die für die kapitalistische „Internationalisierung“ des Landes stehen und der Rechtsopposition die sich als einzig „echte Ungarn“ betrachten. Demgegenüber lehnen aber ebenso 60 Prozent der Ungarn Versuche ab, die Regierung über die, nach dem 1.10 von der Rechten erneut angekündigten Großdemonstrationen zu stürzen. Gleichzeitig sind wiederum nur 27 Prozent der Meinung, dass das aktuelle Kabinett bleiben soll. Ingesamt sind auch nur 21 Prozent für vorgezogene Neuwahlen – ein auffälliger Widerspruch zur explosiven Stimmung gegenüber dem angekündigten Sozialabbau und der Ablehnung Gyurcsánys (Zahlen nach: Pester Lloyd / Nr. 40/2006). Selbst wenn die kommenden Wochen zum Sturz der aktuellen Regierung führen, ist das politische Vakuum, die Frage nach Alternativen zum neoliberalen „Nationalismus“, bzw. „Internationalismus“ a la FIDEZ und MSZP somit evident. Eine Schlüsselrolle könnten die, bisher in der Mehrheit an die Regierungskoalition gebundenen, Gewerkschaften spielen: Sie hatten ebenfalls Proteste gegen Gyurcsánys Sparpläne angekündigt. Von den bereits für Ende September versprochenen Kampfmaßnahmen war allerdings bisher in den Medien nichts zu vernehmen. Mit rund 18 Prozent Organisationsgrad gehören sie aber immerhin zu den stärksten Gewerkschaftsbewegungen in Osteuropa – ein Potential aus dem sich in der kommenden Periode, tatsächlich linke und kämpferische Alternativen entwickeln könnten. Vielleicht rascher als manche denken.