Ungarn – Lügen des Premierministers führen zu Ausschreitungen

Empörung über „Reformprogramme“ und die Arroganz der Regierung
 

von Niall Mulholland, CWI (Komitee für eine Arbeiterinternationale, dem die SAV angehört), London

In der Nacht auf Dienstag, den 19. September, setzte die ungarische Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen Tausende DemonstrantInnen in der Hauptstadt Budapest ein. Die Zusammenstöße ereigneten sich im Anschluss an Kundgebungen, auf denen der Rücktritt des Premierministers Ferenc Gyurcsany gefordert wurde. Der Unmut gegen die Regierung in Ungarn wächst seit bekannt wurde, dass in der Wahlkampagne des jetzigen Premiers im April diesen Jahres bewusst mit Lügen gearbeitet wurde. Auch in anderen Städten war es zu kleineren Protestkundgebungen gekommen. Als den DemonstrantInnen verweigert wurde, eine Petition beim staatlichen Fernsehsender einzureichen, stürmten Jugendliche die Zentrale von MTV in der Landeshauptstadt. Hunderte Protestierende wurden dabei verletzt. Am Dienstag selbst wurde berichtet, dass es in Budapest zunächst ruhig blieb.

Die Protestierenden sind aufgebracht über den Inhalt einer internen Rede, die der Premierminister einige Wochen nach seinem Wahlsieg vor Mitgliedern seiner „Sozialistischen Partei“ gehalten hatte. Vor kurzem war nun ein Mitschnitt der Rede aufgetaucht und vergangenen Sonntag im ungarischen Radio abgespielt worden. In dieser Rede während einer Parteisitzung am 26. Mai 06 – kurz nachdem die „Sozialistische Partei“ 210 von 386 Parlamentssitzen gewonnen hatte – kündigte Gyurcsany schwerwiegende wirtschaftliche „Reformen“ an. „Wir haben keine Wahl. Dem ist so, weil wir es übertrieben haben. Nicht ein bisschen, sondern reichlich. Kein anderes europäisches Land hat sich so holzköpfig verhalten wie wir.“

„Natürlich haben wir in den letzten anderthalb Jahren, in den vergangenen zwei Jahren, gelogen“, setzte der Premier seine Rede fort. „Es war vollkommen klar, dass wir nicht die Wahrheit gesagt haben.“

Dass die ungarische Wirtschaft „einwandfrei“ funktioniere, führte Gyurcsany auf „göttliche Vorsehung, die Menge an Krediten aus der Weltwirtschaft und hunderte von Tricks“ zurück.

Dass kapitalistische Politiker wie Gyurcsany routinemäßig Lügen verbreiten, ist den politisch wachen ArbeiterInnen und Jugendlichen bewusst. „Wir lügen morgens, wir lügen am Abend“, um die zynischen Worte Gyurcsanys zu gebrauchen. Dies aber aus dem Munde des Premiers selbst, in einer Rede zu hören, welche mit Obszönitäten gespickt war, stellt eine etwas andere Qualität dar. Der Öffentlichkeit wurde somit offenbar, mit welch schamloser Verachtung die herrschende Elite die Arbeiterklasse behandelt.

Das Leck in einer der Rundfunkanstalten rief augenblicklich Proteste im ganzen Land hervor. Demonstrationen gegen die Kürzungspolitik der Regierung waren zuvor schon für diese Woche anberaumt worden. Gyurcsany will das Haushaltsdefizit unter 10,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts drücken und kündigte sehr unpopuläre Ausgaben sowie Kürzungen bei den Arbeitslosenbezügen an. Zudem sollen die Steuern erhöht und direkte Steuern für Gesundheitsversorgung und Studiengebühren eingeführt werden. Die zutage gekommenen Äußerungen des Premierministers sind für zahlreiche UngarInnen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Wie bbc-online berichtet, vermuten „einige Kommentatoren […], dass die Enthüllungen mit Genehmigung des Premiers ans Licht kamen.“ Schließlich postete dieser das ungekürzte Script der Rede auf seiner eigenen Homepage. Bei der BBC wird darüber spekuliert, ob Gyurcsany nicht einfach nur versucht, vor den Kommunalwahlen am 1. Oktober „die Unumgänglichkeit harter Reformen zu betonen“. Analysen äußern sich dahingehend, dass der Medienmann Gyurcsany die Veröffentlichung des Redemittschnitts zumindest billigte, um seine Entschlossenheit zur Durchsetzung der „widerlichen Reformen“ deutlich zu machen.

Wenn dem so sein sollte, ist der Schuss reichlich nach hinten losgegangen. Und weil die öffentliche Empörung über seine Äußerungen über die letzten Tage noch zunahm, sah sich Gyurcsany vergangenen Sonntag gezwungen, im Fernsehen die „Lügen“ anzuklagen, die nach seinen Worten von Politikern stammen, welche den Menschen erzählen, sie könnten „Glückseligkeit als Geschenk“ haben.

Riesenlügen

Wie dem auch sei – als das stalinistische Regime Ungarns 1989 in sich zusammenbrach, verkauften die Kapitalismus freundlichen Politiker und die westlichen kapitalistischen Regierungen den UngarInnen die Riesenlüge, wonach die auf Profitinteressen basierende Marktwirtschaft die Lebensstandards der Bevölkerungsmehrheit verbessern würde. Nach nunmehr einem Jahrzehnt, da diese kapitalistische Politik durchgezogen wird, liegt das nationale Gesamteinkommen pro Kopf bei nur 10,030 US-Dollar täglich (laut Bericht der Weltbank, 2006). Die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Sozialstandards haben sich weiter drastisch verschlechtert. Nach dem Wahlsieg der „Sozialisten“ (gemeint ist die Partei mit dem missverständlichen Namen, die sich aus einem Teil der alten herrschenden „Kommunistischen Partei“ herausgebildet hat) vom April diesen Jahres haben laut Gyurcsany die harten „Einsparmaßnahmen“ zu schwindender Zustimmung für die Koalitionsregierung geführt.

Für die herrschende Elite war das letzte, kapitalistische Jahrzehnt allerdings eine Goldgrube. Und Gyurcsany ist ein typischer Repräsentant dieses gierigen, gewissenlos herrschenden „Establishments“. Als ehemals führender Kopf der kommunistischen Jugendbewegung in den 1980ern wurde er durch Privatkäufe von altem Staatsbesitz in der Privatisierungswelle, die dem Zerfall des Stalinismus unmittelbar folgte, wie viele andere frühere Apparatchicks zum Millionär. Dieser kapitale Dieb öffentlicher Ressourcen betrat erst 2002 aktiv die politische Bühne. Er stieg als „strategischer Berater“ des ehemaligen Premiers ins „politische Geschäft“ ein. Nach einem Streit mit dem „liberalen“ Koalitionspartner seiner „Sozialistischen Partei“, der „Allianz der freien Demokraten“, und einer Kabinettsumbildung ersetzte der mittlerweile das Amt des Sportministers bekleidende Ferenc Gyurcsany den alten Premierminister Peter Medyessy. In der Folge seiner Wiederwahl im April 2006 stellte Gyurcsany dann die Kürzungspläne für den öffentlichen Sektor, Entlassungen, Steuererhöhungen, Praxisgebühren, Einschnitte bei den Renten etc. vor. Das alles verbunden mit der Zielsetzung, bis 2010 der Euro-Zone beizutreten. Die ungarische Regierung wurde für ihre Modell-Politik gerühmt und beispielsweise in Britannien als „osteuropäischer Blairismus“ bezeichnet.

Als dieser Artikel verfasst wurde war noch nicht klar, ob die regierungskritischen Proteste weiter anhalten oder sogar zunehmen würden. Die Regierung wird verzweifelt versuchen, die Lage zu entschärfen und alle großen Parteien zu einer „Einheitsfront gegen die Bevölkerung“ zusammenzubringen, um zu „Recht und Ordnung“ zurückzukehren – während die Regierung selbst mit den schamlosen Attacken auf die Lebensstandards der UngarInnen fortfährt. Der Premiers warnte bereits, er würde gegen alle weiteren Unruhen in den Straßen hart durchgreifen lassen.

Die Gyurcsanys Rücktritt und das Ende der Kürzungen fordernden Proteste könnten allerdings dennoch ausgeweitet werden. Die große Wut, nah davor überzukochen, könnte sich Bahn brechen und Regierung und herrschende Klasse in ihren Grundfesten erschüttern.

Selbst wenn die Proteste einstweilen ausgesetzt werden sollten, wird es nur kurze Zeit dauern, bis ArbeiterInnen und die Jugend sich gezwungen sehen, erneut den Kampf gegen Sozialkürzungen und neoliberale Politik der Regierung aufzunehmen. Mit der Oppositionspartei Fidesz, die zur Zeit in Umfragen vor der Regierungskoalition liegt, haben die ArbeiterInnen keine wirkliche Alternative. Die „recht-konservative Oppositionspartei“ verkündete, sie würde das Parlament boykottieren und forderte Gyurcsany ebenfalls auf zurückzutreten. Doch verfolgt auch diese Partei eine kapitalistische Politik, und sie wäre als Regierungspartei kaum unterschiedlich von der jetzigen Regierungskoalition.

Die jüngsten Demonstrationen in den Budapester Straßen brachten ArbeiterInnen und Jugendliche dazu, Vergleiche zum Aufstand gegen die stalinistische Herrschaft im Oktober 1956 zu ziehen. „So etwas wie dies ist seit 1956 nicht mehr passiert“, äußerte sich ein junger Protestler gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Die Proteste vor dem Gebäude des Staatsfernsehen glichen einem Echo auf die 1956er Revolte, als damals Studierende den Haupt-Radiosender in Budapest belagerten, um zu fordern, mensch möge ihre Beschwerden über den Äther bringen. Kommentatoren beziehen sich auch auf die Unruhen während des Zusammenbruchs des Stalinismus in den späten 1980ern. Durch das Ausschlachten (und Verdrehen) des Aufstands von 1956 zu ihren Gunsten und im Sinne ihrer eigenen Klasseninteressen, hat die herrschende Elite mehr hervorgerufen, als sie eigentlich vorhatte.

1956

Zweifellos haben viele junge ungarische ArbeiterInnen und Studierenden am 50. Jahrestag der Revolution die Ereignisse vom Oktober 1956 vor Augen. Ausschlaggebend ist, dass die neue Generation dem heldenhaften Beispiel der ArbeiterInnen und Jugendlichen von 1956 folgt, die damals für den Sturz einer verkommenen Elite und eine Lösung der gesellschaftlichen Probleme im Sinne der ArbeiterInnen kämpfte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel Ungarn unter stalinistische Herrschaft. Und obwohl Kapitalismus und Großgrundbesitz abgeschafft wurden und eine geplante Wirtschaft wichtige soziale Errungenschaften für die lohnabhängigen Menschen brachte, gab es zu keinem Zeitpunkt Arbeiter-Demokratie. Die Gesellschaft wurde von oben durch eine bürokratische Elite bestimmt. 1956 versuchte mensch durch einen Arbeiteraufstand die Macht zu übernehmen und die parasitäre Elite zu stürzen. Dieser Revolutionsversuch wurde jedoch von Kräften der Roten Armee grausam niedergeschlagen.

Nach der stalinistischen Unterdrückung führte die herrschende Elite marktwirtschaftliche Mechanismen ein, um damit den Versuch zu unternehmen, die eigene Macht zu stabilisieren und die Wirtschaft anzukurbeln. Doch nur echte Arbeiter-Kontrolle über die bzw. Arbeiter-Management in der Planwirtschaft hätten die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen verbessern können. In den 1980ern stagnierte und kollabierte dann die ungarische Wirtschaft. Massenbewegungen im ganzen zuvor stalinistisch geführten Land hatten das Potential für eine politische Revolution. Doch aufgrund des Fehlens einer revolutionären sozialistischen Partei mit Massenzuspruch konnten pro-kapitalistische Kräfte das entstandene politische Vakuum füllen. Die völlige Wiederherstellung des Kapitalismus bedeutete mit der Privatisierung der Hälfte aller ungarischen Wirtschaftsbetriebe innerhalb von nur vier Jahren, Massenarbeitslosigkeit und einem schwindelerregenden Abfallen der Lebensstandards für die ArbeiterInnen eine große Niederlage.

Jetzt werden die ArbeiterInnen in Ungarn wieder einmal vor die Frage gestellt, ob sie auf dem Weg zu einem „besseren Leben“ eine „bittere Pille“ (diesmal von „Sparmaßnahmen“) schlucken wollen; massive Einschnitte wie z.B. zur Begleichung des Mitglieds-Beitrags für die Aufnahme in die EU sind schon durchgeführt worden; der „mögliche“ Beitritt in der Euro-Zone fordert einen weiteren drastischen Sozialkahlschlag. Die jüngeren Erfahrungen mit der EU-Mitgliedschaft in Polen, Tschechien, Ungarn und weiteren ex-stalinistischen Staaten haben dagegen den Charakter einer Lehrstunden. Der Eintritt in den Club EU bedeutete für diese Länder ein weitreichendes Streich-Konzert und die Abwanderung der Jugend nach Westeuropa, um dort als Billiglohn-ArbeiterInnen verheizt zu werden, während die Lebensumstände in den Heimatstaaten in miserablem Zustand blieben oder sich weiter verschlechterten.

Denkt mensch an die Niederschlagung des Aufstands von 1956, die Jahrzehnte der stalinistischen Diktatur und das Desaster der kapitalistischen Restauration, so ist zunächst von weiterer politischer Verwirrung unter den ArbeiterInnen und der Jugend in Ungarn auszugehen. Spät am Abend des 18. September 06 wurden ultra-nationalistische und reaktionäre Gefühle bei den Protesten vor dem Gebäude des Fernsehsenders deutlich. Unter Bezugnahme auf die Tageszeitung The Guardian sei dazu angemerkt, dass „einige der Protestierenden in der letzten Nacht nationalistische Slogans skandierten und rot-weiß gestreifte Arpad-Flaggen, ein Jahrhunderte altes ungarisches Symbol, das nach dem Gründer der ersten Königsdynastie des Landes benannt ist, schwenkten“.

Teile der herrschenden Elite und die etablierten Politiker pushen in der Regel den ungarischen Nationalismus, um gegen die schlechte Behandlung der Millionen UngarInnen zu wettern, die als Angehörige der nationalen Minderheit in den ungarischen Nachbarstaaten leben.

Doch Nationalismus und krude reaktionäre Ideen werden keine Lösung für die schlechte Lage bieten können, der sich ArbeiterInnen ausgesetzt sehen und müssen daher zurückgewiesen werden. Über Massenkämpfe und die Beschäftigung mit den historischen Arbeiterkämpfen – wie dem Aufstand von 1956 – werden die Lohnabhängigen UngarInnen weitreichendere Schlüsse ziehen und für eine gesellschaftliche Veränderung eintreten. Das erfordert den Aufbau von ernsthaften und unabhängigen Arbeiter-Organisationen wie kämpferische Gewerkschaften und eine echte politische Alternative, eine Arbeiterpartei mit Massenverankerung und einem klaren sozialistischen Programm.

19. September 2006