Die WASG Berlin erreicht bei der Abgeordnetenhauswahl aus dem Stand 2,9 Prozent
Die Berliner WASG kandidierte als soziale Opposition zur Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Als einzige Partei unterstützte sie im Wahlkampf die Proteste der streikenden Charite-Beschäftigten. Mit einer tollen Wahlkampagne und einem respektablen Stimmergebnis ist sie zu einem politischen Faktor in der Bundeshauptstadt geworden.
von Aron Amm, SAV-Bundesleitung
Leider reichte es nicht zum Einzug ins Abgeordnetenhaus. Das Ergebnis ist trotzdem ein Achtungserfolg, denn kaum eine Partei konnte bei ihrer ersten Kandidatur so viele Stimmen mobilisieren, wie es der WASG Berlin gelang. Auch die Alternative Liste (AL) erreichte 1979 bei ihrer ersten Kandidatur „nur“ 3,7 Prozent. Hinzu kommt der Einzug in sieben von zwölf Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen). Die Berliner Zeitung kommentierte das BVV-Abschneiden als „gelungenen Wahlstart“.
Dieser wurde erreicht, obwohl der WASG-Bundesvorstand und Oskar Lafontaine Wahlkampf für die Linkspartei.PDS machten.
Absage an das Establishment
Bei der Abgeordnetenhauswahl kam die WASG auf 40.600 Zweitstimmen. Das sind 2,9 Prozent (im Osten 3,3 Prozent, im Westen 2,7 Prozent). Bei der Erststimme war der Zuspruch noch größer: hier erzielte die WASG sogar 52.000 Stimmen! Das sind etwa 3,8 Prozent – und das, obwohl die WASG nur in 80 Prozent der Wahlkreise DirektkandidatInnen aufgestellt hatte. Hochgerechnet auf alle Wahlkreise wären das 4,7 Prozent. Die besten Erststimmenergebnisse erreichten Michael Kronawitter mit über zehn Prozent und Lucy Redler mit über sieben Prozent in ihren Wahlkreisen.
Das beste Ergebnis bei den Wahlen zu den BVVen holte die WASG in Kreuzberg-Friedrichshain, wo sie 6,2 Prozent erreichte. In Lichtenberg kam sie auf 5,3 und in Marzahn-Hellersdorf auf 4,8 Prozent.
Heraus ragen auch die Zweitstimmen-Ergebnisse im Norden von Neukölln (in den Wahlkreisen 1 und 2 wurden 6,0 beziehungsweise 6,4 Prozent eingefahren).
Die Wahlbeteiligung fiel von 68,1 auf 58 Prozent und damit auf ein Rekordtief. Berücksichtigt man 13,7 Prozent für die „sonstigen Parteien“ (einschließlich der WASG), dann hat nicht einmal jeder zweite Wahlberechtigte eine im Abgeordnetenhaus vertretene Partei gewählt. Etwa drei Prozent stimmten ungültig.
Diese Wahl ist eine schallende Ohrfeige für die etablierten Parteien. Der Tagesspiegel titelte am Morgen nach der Wahl: „Das große Misstrauensvotum.“
In absoluten Zahlen verloren sowohl SPD (von 481.772 auf 425.641 Stimmen) als auch CDU (von 385.692 auf 295.062 Stimmen) und die Linkspartei.PDS (von 366.292 auf 185.452 Stimmen!) an Stimmen.
Die Grünen, die bundesweit keiner Regierung mehr angehörten, konnten unterm Strich 33.000 Stimmen hinzugewinnen.
Am 17. September mussten sich beide SPD/L.PDS-Landesregierung der Wahl stellen. Dieser Wahlsonntag bedeutet eine Pleite für „Rot-Rot“. Nicht nur in Berlin, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern nahm die Wahlenthaltung drastisch zu. In beiden Ländern verloren die Regierungsparteien dramatisch an Stimmen. In Mecklenburg-Vorpommern war die SPD der Hauptverlierer: Gegenüber 2002 ging die Zahl der Wählerstimmen von 394.118 (40,6 Prozent) auf 247.291 (30,2 Prozent) zurück. Die L.PDS konnte sich zwar von 16,4 auf 16,8 Prozent verbessern, hatte aber 2002 gegenüber der Wahl 1998 (nach der die SPD-/PDS-Regierung gebildet worden war) schon ein Drittel ihrer Wahlunterstützung eingebüßt.
Die NPD konnte vor diesem Hintergrund von 0,8 auf 7,3 Prozent zulegen. Das war auch deshalb möglich, weil die WASG im Nordosten politisch und zahlenmäßig zu schwach und viel zu wenig verankert war, um – ohne die Unterstützung der Bundes-WASG – als linke Alternative im ganzen Bundesland wahrgenommen zu werden.
Der tiefe Fall der L.PDS in Berlin von 22,6 Prozent im Jahr 2001 auf 13,4 Prozent ist ein Debakel. Damit wurde der unsozialen Politik der Linkspartei – die im Senat Tarifflucht beging und den Beschäftigten im öffentlichen Dienst Gehaltskürzungen von etwa zehn Prozent aufzwang, 120.000 Wohnungen verkaufte und über 30.000 Ein-Euro-Jobs einrichtete – eine klare Abfuhr erteilt. In Marzahn verlor „die Linke“ 30,5 Prozentpunkte, in Pankow 20,8 Prozent. Aller Voraussicht nach büßt sie alle Bezirksbürgermeisterposten ein.
Der WASG-Bundesvorstand erklärte nach der Wahl, dass zum einen die „auf Haushaltskonsolidierung konzentrierte Politik des rot-roten Senates Zustimmung gekostet“ hätte und zum anderen die WASG-Kandidatur, die „in Konkurrenz zur Linkspartei antrat“, ein Beweis dafür wäre, dass „ein Gegeneinander nur die Linke insgesamt schwächt“.
Das ist absurd. Die Verantwortung für die Niederlage der L.PDS liegt in ihrer Beteiligung an der „rot-roten“ Kürzungsorgie. Durch ihren Wahlaufruf für die L.PDS tragen der WASG-Bundesvorstand und Oskar Lafontaine einen Teil dieser Verantwortung.
Nebenbei bemerkt hat die WASG Berlin auch bewiesen, dass sie Teile der Bevölkerung erreichen kann, die nicht vormalige L.PDS-WählerInnen sind. Weniger als die Hälfte der WASG-WählerInnen haben 2001 L.PDS gewählt.
Die Berliner WASG kann auf ihrem Ergebnis aufbauen
Die WASG Berlin konnte im Wahlkampf drei Erfolge verbuchen: Erstens die Tatsache, dass die Kandidatur gegen die administrativen Maßnahmen des Bundesvorstands durchgesetzt wurde. Zweitens eine Wahlkampagne, die sich dadurch hervor hob, dass sie die praktische Unterstützung des Widerstands gegen den Sozialabbau in den Mittelpunkt stellte und auf enorm viel positive Resonanz stieß. Drittens die 52.000 Stimmen und der Einzug in sieben BVVen.
Die WASG machte in ihrem Wahlprogramm unmissverständlich deutlich, dass sie sich – im Unterschied zu den anderen Parteien – nicht auf kapitalistische Sachzwänge einlässt. Die WASG-Spitzenkandidatin Lucy Redler betonte am Wahlabend unter großen Beifall der WASGlerInnen, dass ihr Ziel eine Welt ist, in der die Menschen und nicht die Profite im Mittelpunkt stehen.
Unter den KandidatInnen waren VertreterInnen der sozialen und betrieblichen Protestbewegungen. Darunter der ver.di-Betriebsgruppenvorsitzende an der Charite, Carsten Becker, und weitere GewerkschafterInnen.
Nicht nur durch die politischen Ziele, sondern auch durch die Schwerpunkte im Wahlkampf unterschied sich die Berliner WASG radikal von den anderen Parteien. So hat sie während des Wahlkampfes konkrete Protestaktionen gegen weitere Wohnungsprivatisierungen durchgeführt und und den Streik der Charite-Beschäftigten praktisch unterstützt.
Am Wahltag wurde das Ziel, ins Abgeordnetenhaus einzuziehen, verfehlt. Trotzdem sind die 52.000 Erst- und 40.000 Zweitstimmen ein beachtliches Ergebnis. Nicht zuletzt war die WASG-Kandidatur ein wichtiger Faktor, die faschistische NPD zu schwächen. Der Einzug der NPD in vier Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin (und der Republikaner in Pankow) machen es allerdings notwendig, den Kampf gegen Rechts intensiver zu führen.
Warum wurden die fünf Prozent nicht geknackt?
Immer mehr Menschen haben keine Vertrauen mehr in Politiker und Parteien.
Die WASG Berlin erfuhr viel Zuspruch im Wahlkampf, ob auf der Straße oder unter GewerkschafterInnen. Allen WahlkämpferInnen war klar: das Potenzial für fünf Prozent war vorhanden. Aber der weit verbreitete Frust und Hass über Politiker und Parteien im allgemeinen traf auch die WASG und trug dazu bei, dass es der WASG leider nicht gelang, dieses Potenzial im vollen Umfang zu nutzen. Viele Menschen hatten einfach nicht das Vertrauen, dass die WASG ihren Aussagen treu bleiben wird, wenn sie einmal im Parlament ist. Dieses Vertrauen muss sich die WASG nun in Kampagnen, durch die Unterstützung von gewerkschaftlichen Kämpfen und sozialen Bewegungen und durch die Arbeit in den BVVen erarbeiten.
Ein weiterer Faktor war sicher das relativ niedrige Niveau von Proteste und sozialen bzw. gewerkschaftlichen Kämpfen. Obgleich sich auf Berliner Ebene in den Tagen vor der Wahl mit der Arbeitsniederlegung an der Charite, dem Schülerstreik und einer Werkstorblockade bei Bosch-Siemens Widerstand formierte, waren die letzten Wochen und Monate generell nicht von Gegenwehr geprägt. Das machte es der WASG schwerer, potenzielle WählerInnen zu ermutigen, am 17. September eine Stimme für Protest gegen Sozialkahlschlag abzugeben.
Der WASG-Bekanntheitsgrad konnte im Verlauf des Wahlkampfs enorm gesteigert werden. Trotzdem machte es der begrenzte Wahlkampfetat von 55.000 Euro (die SPD hatte 1,4 Millionen zur Verfügung) nicht möglich, wirklich flächendeckend sichtbar zu sein.
Hinzu kam das Gegenfeuer aus den eigenen Reihen, das sicher auch einige potenzielle WählerInnen irritierte. Dies gingbis hin zu Betrug. Einige WASG-Mitglieder, die zum Teil gleichzeitig KandidatInnen auf den Listen der L.PDS waren, veröffentlichten am 16.9. im Neuen Deutschland eine Anzeige im Namen des WASG-Landesverbandes und unter Verwendung des Parteilogos, in der zur Wahl der L.PDS aufgerufen wurde.
Die Rolle der SAV
Die SAV hat einen wichtigen Beitrag zur Wahlkampagne der WASG geleistet. Mit Lucy Redler war ein SAV-Mitglied Spitzenkandidatin der WASG. Sie hat dem Wahlkampf in der Öffentlichkeit einen kämpferischen und konsequenten Stempel aufdrücken können. Über 150 SAV-Mitglieder und weitere Mitglieder von SAV-Schwesterorganisationen aus Irland, Belgien, Österreich, Israel und anderen Ländern sind zur Wahlkampf-Hilfe nach Berlin gekommen. Mit Antje Zander, Anne Engelhardt und Michael Niedworok sind drei SAV-Mitglieder zu Bezirksverordneten gewählt worden.
Die SAV wird weiter einen Beitrag dazu leisten, die WASG Berlin als eine Alternative zu den Sozialabbau betreibenden Parteien aufzubauen und die große Unterstützung im Wahlkampf nun in außerparlamentarische Aktivitäten auf der Straße, in Betrieben, Schulen, Hochschulen und Nachbarschaften umzuwandeln. Gleichzeitig wird die SAV dafür eintreten, eine programmatische Debatte zu führen und diese Aktivitäten mit einer sozialistischen Perspektive zu verbinden. Denn im Rahmen des kapitalistischen Profitsystems werden Armut, Sozialabbau und miese Arbeitsbedingungen nicht überwunden werden können. Deshalb muss die WASG Berlin weiter aufgebaut werden. Deshalb sind aber auch alle, die eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft anstreben, eingeladen, sich zusätzlich der SAV anzuschließen.
Ein Anfang ist gemacht
Um an dem WASG-Wahlkampf anzuknüpfen, gilt es jetzt, noch mehr MitstreiterInnen für eine kämpferische Partei gegen Kürzungspolitik zu gewinnen. Die WASG wird die Kämpfe der Charite-Beschäftigten weiter unterstützen. Außerdem wird sie zu den DGB-Demonstrationen am 21. Oktober gegen die Große Koalition mobilisieren. Nach einer gewissenhaften Auswertung des Wahlkampfs und des Ergebnisses wird es nötig sein, Kampagnenarbeit fortzusetzen: gegen den Verkauf der WBM-Wohnungen, gegen die geplante Privatisierung der Berliner Sparkasse, gegen den Bildungsnotstand.
Die Sitze in den Bezirksverordnetenversammlungen müssen genutzt werden, auf bezirklicher Ebene die Anliegen von Betroffenern zu artikulieren, ins Parlament zu tragen und den Widerstand zu stärken.
Die Entscheidung der WASG Berlin, eigenständig zu kandidieren, hat sich als richtig erwiesen. Denn so wurde für alle sichtbar gemacht, dass die WASG keine direkte oder indirekte Unterstützung für die Politik der LPDS im Senat leistet, die für den tiefen Absturz der L.PDS verantwortlich ist. Auf den 52.000 Stimmen für die WASG und den Einzug in sieben Bezirksverordnetenversammlungen kann aufgebaut werden.
Eine Fusion mit einer Linkspartei.PDS, die – nicht nur in Berlin, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern – gezeigt hat, wie man keine linke Kraft aufbauen kann und an ihrer Strategie der Regierungsbeteiligungen und der Politik des „kleineren Übels“ festhält, muss weiter abgelehnt und innerhalb der WASG dagegen gekämpft werden. In Berlin kommt es seitens der WASG darauf an, mit der konsequenten und unabhängigen Politik gegen Sozialabbau, Privatisierungen und Stellenstreichungen fortzufahren und die eigenen Strukturen dafür zu erhalten und zu verteidigen.
Viele WASGlerInnen hatten sich für den 17. September ein noch besseres Resultat erhofft. Trotzdem kann sich das Ergebnis in jedem Fall sehen lassen. Es sei daran erinnert, dass andere der Berliner WASG nichts zutrauen wollten. So weist der Kölner Stadtanzeiger in seiner Ausgabe vom 18. September darauf hin, dass der „Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch mit seiner Prognose für den Wahlausgang total daneben gelegen hat. Er hatte der in Berlin 850 Mitglieder zählenden WASG mit der jungen, rebellischen Trotzkistin Lucy Redler an der Spitze ein „Ergebnis nicht mal im 0,0-Prozent-Bereich“ vorausgesagt.“