Interview mit Lucy Redler, Spitzenkandidatin der WASG Berlin
Lucy, du bist Spitzenkandidatin der WASG Berlin bei den Abgeordnetenhauswahlen am 17. September 2006. Was sind deiner Meinung nach die Hauptprobleme in Berlin?
Die Politik des Senats von SPD und L.PDS ging voll und ganz zu Lasten der Lohnabhängigen, Erwerbslosen und sozial Schwachen. Der Horrorkatalog unsozialer und arbeitnehmerfeindlicher Maßnahmen ist lang. Um nur einige Beispiele zu nennen: Berlin trat aus dem Kommunalen Arbeitgeberverband aus und erpresste von den Gewerkschaften Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst von acht bis zwölf Prozent. Hartz IV wird brav umgesetzt und es gibt in Berlin über 30.000 Ein-Euro-Jobs, die auch hier sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze ersetzen. Der Senat hat massiven Arbeitsplatzabbau zu verantworten und will diesen in den nächsten Jahren fortsetzen. Die Wohnungsprivatisierung – in den letzten vier Jahren wurden 100.000 öffentliche Wohnungen verkauft – wird auch fortgesetzt. Aktuell werden in Berlin 3000 Wohnungen privatisiert und 1.600 Stellen beim Universitätsklinikum Charité abgebaut.
Diese Politik hat zu zahlreichen Protesten geführt. Studierende streikten erfolgreich gegen die Einführung von Studienkonten. Erwerbslose protestierten gegen Hartz IV, GewerkschafterInnen gegen Privatisierungen. Nachdem das Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr abgeschafft wurde, musste der Senat es nach Protesten wieder einführen – allerdings inklusive einer fünfzig-prozentigen Preiserhöhung.
Das alles geht nicht auf das Konto einer konservativen Regierung – in Berlin regiert seit fünf Jahren eine Koalition aus SPD und Linkspartei.PDS (LPDS). Und leider betrieb die L.PDS eine Politik nach dem Motto: feiertags von Sozialismus reden, werktags an der Seite der SPD Kürzungen umsetzen.
Der neueste Hammer ist das "Ja" des Landes Berlin im Bundesrat zur Föderalismusreform und zur Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Der Druck auf die Beschäftigten im Einzelhandel wird ausgeweitet, ohne dass die zunehmend ärmer werdende Bevölkerung Berlins mehr Geld in der Tasche hat.
Und selbst in Bereichen, in denen es nicht ums Geld ging, machte dieser Senat, unter Beteiligung der L.PDS, keine sozial fortschrittliche, linke Politik. So enthielt sich der Großteil der L.PDS-Abgeordneten bei der Abstimmung, ob die kurdische Familie Aydin abgeschoben werden soll. Auch in der Frage der Kennzeichungspflicht von Berliner Polizisten tat sich nichts.
Das Argument der anderen Parteien ist: Berlin ist pleite. Ist die WASG gegen die Sanierung des Haushalts?
Berlin ist mit über 60 Milliarden Euro hoch verschuldet. Die Schulden haben aber nicht die Jugendlichen, Frauen, Erwerbslosen und abhängig Beschäftigten verursacht. Sie sollen jetzt den Gürtel enger schnallen, damit unter anderem die Risikofonds der Berliner Bankgesellschaft durch das Land abgesichert und horrende Zinszahlungen an die Banken geleistet werden können. Berlin ist vielmehr deshalb pleite, weil umfangreiche Bundeshilfen nach der Wiedervereinigung gestrichen wurden und die Hauptstadt wie alle anderen Länder und Kommunen von der massiven Umverteilung von unten nach oben betroffen ist. Die Reichen und Konzernchefs werden auf dem Rücken der Beschäftigten und zu Lasten der öffentlichen Haushalte immer reicher.
Deutschland ist ein reiches Land. Die Anzahl der Konzerne, die netto eine Milliarde Euro Gewinn machte, stieg von 2004 auf 2005 von 14 auf 21. Die öffentlichen Kassen sind nicht von allein leer geworden, sondern sie sind systematisch geleert worden. Um davon abzulenken, werden jetzt Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen als Schmarotzer beschimpft. Das ist wirklich der Gipfel.
Gegen diese Umverteilung zu Gunsten der Reichen müssen wir mobil machen. Die französische Jugend und Arbeiterklasse hat vor kurzem gezeigt, dass mit Massendemonstrationen und Streiks neoliberale Gesetze, in diesem Fall die Demontage des Kündigungsschutzes, verhindert werden können. Es wird Zeit, dass wir auch hier endlich beginnen, mit Merkel, Wowereit und Ackermann “französisch” zu sprechen.
Und welche Antworten hat die WASG Berlin?
Wir stehen an der Seite der Menschen, die von den Kürzungen des rot-roten Senats betroffen sind und kämpfen für die Umwandlung von Ein-Euro-Jobs in sozialversicherungspflichtige und tariflich entlohnte Beschäftigungsverhältnisse, die Rücknahme der Sozialkürzungen beispielweise bei Frauenprojekten und der Jugendhilfe, die Rückkehr des Landes Berlin in den Kommunalen Arbeitgeberverband und die Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe. Wir sind uns bewusst, dass unser Einzug ins Abgeordnetenhaus nicht ausreichen wird, um diese Forderungen durchzusetzen. Unsere Fraktion wird aber ein Mittel sein, um die Proteste von gewerkschaftlichen, sozialen und sonstigen außerparlamentarischen Initiativen bekannt zu machen und zu stärken.
Die Kandidatur war in der WASG hart umstritten, es gab administrative Maßnahmen bis hin zur Absetzung des Landesvorstands durch den Bundesvorstand. Wie ist es der WASG Berlin gelungen, trotz aller Widerstände, die Kandidatur durchzusetzen?
Die wichtigste Voraussetzung unseres Erfolgs, war der Zusammenhalt unter der Mehrheit der Mitglieder der WASG Berlin. Wir sind bis zum Schluss standhaft geblieben. Letztlich hatten wir ja auch gar keine andere Wahl, denn die Alternative wäre gewesen, unsere Überzeugung über Bord zu werfen. Wir haben natürlich auch gewonnen, weil unsere Entscheidungen auf demokratischen Mehrheitsbeschlüssen im Landesverband der WASG Berlin basierten und die Maßnahmen des Bundesvorstands undemokratisch waren. Es war schon peinlich für Oskar Lafontaine und Klaus Ernst, dass sie durch ein bürgerliches Gericht und den Landeswahlausschuss Berlin Nachhilfeunterricht in Sachen innerparteilicher Demokratie entgegen nehmen mussten.
Die bundesweite Unterstützung von vielen Mitgliedern und Gremien der WASG hat uns natürlich auch den Rücken gestärkt. Es wurde klar, dass es nicht um einen Streit zwischen Berlin und dem Bundesverband geht, sondern dass ein politischer Konflikt um die grundlegende Frage, auf welcher inhaltlichen Grundlage die neue Partei gebildet werden soll, quer durch die WASG geht. Unsere standhafte Haltung hat auch erreicht, dass bundesweit intensiv die Frage debattiert wird, ob die Partei sich vermeintlich kapitalistischen Sachzwängen beugt oder entschlossen gegen die kapitalistische Profitlogik ankämpft. Die WASG Berlin hat sich entschieden.
Die WASG Berlin kandidiert gegen die L.PDS. Was ist deine Antwort auf den Vorwurf der Spaltung in der Linken?
Wir kandidieren gegen alle Parteien, die zur Zeit im Abgeordnetenhaus vertreten sind, weil alle eine unsoziale Politik verfolgen. Wir waren ja bereit, mit der L.PDS Berlin gemeinsam zu kandidieren, wenn dies auf einer inhaltlich linken Basis möglich gewesen wäre. Aus meiner Sicht bedeutet “links”, für und mit Erwerbslosen, abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten Politik zu machen. Das macht die WASG in Berlin. Die LPDS hingegen geht mit der Parole "Fortsetzung folgt" und dem für die Politik der letzten vier Jahre maßgeblich mitverantwortlichen Harald Wolf als Spitzenkandidaten in den Wahlkampf. Da ist keine linke Politik im Interesse der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen zu erwarten.
Linke Einheit darf nicht abstrakt, sondern sie muss konkret sein. Es ist heuchlerisch, von linker Einheit zu sprechen und dann entgegen der Interessen der Beschäftigten wie auch der Berliner Bevölkerung Betriebe zu privatisieren oder Löhne, Stellen und Betten bei der Charite abzubauen. Und das, wo es bereits die ersten bekannt gewordenen Todesopfer der Kürzungen im Gesundheitswesen gab. Wenn man eine solche Politik macht, sollte man nicht von “linker Einheit” sprechen, denn in Wirklichkeit ist es die gleiche unsoziale Politik, die auch die anderen etablierten Parteien machen. Von einer solchen “Einheit” fühlen sich die vom Sozialabbau Betroffenen verraten und betrogen. Würden wir gemeinsam mit der L.PDS kandidieren, würden auch wir uns von den Beschäftigten und Erwerbslosen dieser Stadt abspalten. Was wir aber brauchen ist eine Einheit aller, die von Kürzungen, Privatisierungen, Ein-Euro-Jobs betroffen sind und die sich gemeinsam wehren wollen. Hier gibt es eine ganze Menge zu tun, um die verschiedenen Proteste und Streiks auch bundesweit zusammenzubringen und zu stärken.
Was wirst du tun, wenn die WASG Berlin ins Abgeordentenhaus einzieht? Wie könnten die Proteste außerhalb des Parlaments und die Arbeit der WASG Fraktion miteinander verbunden werden?
Wir werden durch Anträge, Anfragen, aber vor allem auch durch Protestaktionen deutlich machen, dass eine grundlegend andere Politik nötig ist. So wie wir schon in den letzten Wochen durch Aktionen gegen Abschiebung – wir haben uns medienwirksam an das Eingangstor eines Abschiebegefängnisses gekettet -, Armutslöhne und Bespitzelung durch den Verfassungsschutz auf uns und unsere Inhalte aufmerksam gemacht haben, wird das auch die zukünftige WASG-Fraktion im Abgeordnetenhaus machen.
Der Einzug der WASG würde einen riesigen Fortschritt für die sozialen und betrieblichen Bewegungen bedeuten. Wir sind die einzigen, die die Forderungen der außerparlamentarischen Bewegungen im Abgeordentenhaus artikulieren werden, die soziale Initiativen unterstützen und auch bei Kämpfen in den Betrieben, Schulen und Hochschulen aktiv dabei sein werden. Beispiel Studiengebühren: Egal was die anderen Parteien jetzt versprechen; ich schließe eine Wette darüber ab, dass Studiengebühren in irgendeiner Form eingeführt werden nach den Wahlen – unabhängig davon, welche Koalition regiert. Wir werden dagegen ankämpfen und die Proteste der Studierenden unterstützen. Wir werden sicherstellen, dass kein Abgeordneter “still und heimlich” zustimmen kann, weil wir Rechenschaft und Öffentlichkeit bei allen Abstimmungen einfordern werden. Die Einführung von als Studienkonten getarnten Gebühren konnte 2003 nur verhindert werden, weil Studierenden Abgeordnetenbüros der L.PDS besetzt haben und der politische Druck auf die L.PDS enorm war.
Ich werde mich auch dadurch von anderen Abgeordneten unterscheiden, dass ich keine Privilegien aufgrund des Mandats annehmen werde und ein erheblicher Teil meiner Einnahmen der politischen Arbeit und dem sozialen Widerstand gespendet wird. Ich hoffe, dass mir dies die anderen WASG-Abgeordneten gleich tun werden.
Oskar Lafontaine und Gregor Gysi haben einen Aufruf für eine neue bundesweite Linke verfasst. Was ist dein Eindruck von dem Papier?
Das Papier könnte eigentlich ein Ausgangspunkt für eine breite programmatische Debatte sein. Im Gegensatz zum aktuellen Programm der L.PDS bedeutet der Aufruf an einigen Stellen sogar eine Linksverschiebung. So fordert er die Überführung der Schlüsselbereiche der Wirtschaft in öffentliches Eigentum. Diese Forderung ist besonders wichtig, weil Beschäftigte tagtäglich die Erfahrung machen, dass sie im Rahmen der profitorientierten Produktion so gut wie keinerlei Einflussnahme auf zentrale Entscheidungen nehmen können. Kontrollieren kann man nur, was einem gehört. Es ist auch zu begrüßen, dass der Text den Begriff "Sozialismus" positiv besetzt, wenn er auch in seiner Kritik am Stalinismus nicht über die unzureichende Haltung der L.PDS hinaus geht. Es finden sich aber auch andere Passagen in dem Aufruf, die überhaupt nicht in eine sozialistische Richtung gehen. So bezieht sich der Aufruf positiv auf Markt und Wettbewerb und preist die Mittelstandsförderung als wichtige Aufgabe.
Das eigentliche Problem wird aber an der Passage zum Thema Regierungsbeteiligung deutlich. Hier wird die Beteiligung an Regierungen davon abhängig gemacht, ob dadurch die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert werden können. Privatisierungen und Stellenabbau dürfe es mit einer linken Regierung nicht geben. Das hat aber offensichtlich keine praktischen Konsequenzen für die Kolleginnen und Kollegen, die das Papier vorgestellt haben. Denn Oskar Lafontaine macht Wahlkampf für die Berliner L.PDS, die aktuell weitere Stellen im öffentlichen Dienst abbaut und gerade 1700 Wohnungen an einen privaten Finanzinvestor verkauft hat. Programme müssen als Anleitung zum Handeln dienen, dies scheint hier nicht der Fall zu sein.
Leider gibt das Manifest auch keinen Hinweis darauf, wie die Forderungen durchgesetzt werden können; wie "imperialistische Kriege" oder der "Raubtierkapitalismus" bekämpft werden können. Der Aufruf spricht sich zwar für das Recht auf Generalstreik aus, aber wie der gesellschaftliche Widerstand aufgebaut werden kann, um dorthin zu gelangen, beantwortet er nicht.
Vor allem aber brauchen wir eine breite Debatte auf allen Ebenen der Linken zur Programmfrage. Meine Befürchtung ist, dass auch in dieser Frage die zentralen Vorgaben in hohem Tempo von oben nach unten durchgesetzt werden sollen.
Oskar Lafontaine ist wegen des Papiers von Teilen der L.PDS unter Beschuss geraten, er sei zu links und radikal.
Unser Wahlantritt hat offensichtlich vieles in Bewegung gebracht. Nicht zuletzt Oskar Lafontaine hat sich – zumindest verbal – deutlich nach links bewegt. Die Reaktionen führender L.PDS-PolitikerInnen auf den Gründungsaufruf zeigen, wie sehr diese schon bei pro-kapitalistischer Politik angekommen sind. Der sächsische Linksfraktionschef Wulf Gallert kritisierte den Aufruf dafür, dass er Stellenabbau im öffentlichen Dienst und Privatisierung ablehnen würde. Er rechtfertigt den Stellenabbau in der Verwaltung Sachsen-Anhalts damit, dass dadurch ja wiederum Mittel für soziale Projekte frei würden. Gallert ist damit voll und ganz in der Akzeptanz der "kleineren-Übel-Politik" angekommen. Diese ist aber vor allem eins – ein Übel. Spitzenpolitikern wie Gallert geht es primär darum, dass die Partei in möglichst viele Regierungen auf Landesebene eintritt, um fit für die Regierungsbeteiligung 2009 im Bund zu werden.
Die Krönung war aber der Antrag, den Parteivorstandsmitglied und Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch in den Parteivorstand zum Thema Privatisierungen einbrachte. Sein Ziel war, eine Kampagne gegen Privatisierungen zu verhindern, weil aus seiner Sicht Privatisierungen ein Weg zur "Verbesserung der Finanzausstattung der Kommunen" darstellten. Er ging noch einen Schritt weiter und erklärte, dass auch "progressive Entstaatlichung", also Privatisierung, ein "notwendiger Teil einer Transformationsstrategie zum demokratischen Sozialismus" sein könne.
Wie schätzt du die Situation bezüglich der Schaffung einer neuen Linken ein? Was könnte die Aufgabe der Berliner WASG weiterhin im Prozess der Schaffung einer bundesweiten Linken sein?
Die WASG Berlin hat immer gefordert, dass die Parteibildung demokratisch von unten nach oben verlaufen muss, außerparlamentarische Initiativen und andere Linke mit einbezogen werden und eine klare inhaltlichen Grundlage erreicht werden muss, die Sozialabbau und Privatisierungen durch Regierungsbeteiligungen ablehnt. Unseren Anspruch unterstreichen wir durch unseren Wahlantritt. Wir kritisieren die Kürzungspolitik der L.PDS in der Regierung, die unzureichende Einbindung weiterer Kräfte in den Parteibildungsprozess und die Top-down-Manier, in der er organisiert wird. Der Bundesparteitag der WASG stellte in all diesen Punkten eine Zäsur dar. Die Fraktion und der rechte Flügel im Bundesvorstand haben sich auf dem Bundesparteitag, unter anderem durch die Drohung des Austritts aus der WASG, knapp durchgesetzt. Die WASG und das “Projekt Neue Linke” hat dadurch bei AktivistInnen an Ansehen und Anziehungskraft eingebüßt. Das ist eine schwere Hypothek für die zukünftige fusionierte Partei, die wahrscheinlich im nächsten Jahr gebildet wird.
Wir werden in diesem Prozess weiterhin für eine klare linke und antikapitalistische Ausrichtung und demokratische Strukturen kämpfen. In den letzten Wochen haben sich in vielen Kreis- und Landesverbänden kritische und linke Aktivistinnen und Aktivisten aus Frust über die Parteitagsentscheidungen und das undemokratische Regime in der Partei etwas zurück gezogen. Die Bildung des Netzwerks Linke Opposition ist ein wichtiger Schritt, um kritische und oppositionelle Kräfte zu sammeln. Ein Wahlerfolg der WASG in Berlin wird diese Kräfte sicher auch bundesweit stärken und motivieren und so auch den Druck von links auf die Parteiführungen erhöhen.
Ob eine Partei entsteht, die von Arbeiterinnen und Arbeitern, Erwerbslosen und Jugendlichen als eine glaubwürdige Alternative angenommen wird, wird durch die Politik der Parteivorstände aufs Spiel gesetzt.
Auch kommenden sozialen und gewerkschaftlichen Protesten kommt eine wichtige Bedeutung zu. Wie werden die beiden Parteien auf zunehmenden Widerstand gegen die Umverteilungspolitik im Interesse des Kapitals reagieren? Werden sie Teil davon sein und Initialzündungen zu Protesten geben oder passiver Zaungast sein, ähnlich wie wir es bei den Streiks im Öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg beobachten konnten.
Du bist Sozialistin und langjähriges Mitglied der SAV. Welche Bedeutung siehst du darin, auch in der SAV organisiert zu sein?
Ich bin davon überzeugt, dass man dem Druck der sogenannten kapitalistischen Sachzwänge und der Anpassung ans Establishment nur standhalten kann, wenn man für eine sozialistische Perspektive kämpft. Die L.PDS hat diese Perspektive verloren und kapituliert deshalb in ihrer Regierungspolitik tagtäglich vor den Sachzwängen, die sie teilweise selbst geschaffen oder zumindest nicht bekämpft hat. Sie macht in Berlin dadurch faktisch eine Politik im Interesse des Kapitals.
Wir leben in einer Klassengesellschaft. 500 Konzerne kontrollieren heute die Hälfte des Weltsozialprodukts. Während die Reichen gar nicht mehr wissen, wo sie ihr Geld anlegen sollen, nimmt die Armut in erschreckendem Ausmaß zu. Profitlogik und Konkurrenzkampf führen zu Umweltzerstörung und Kriegen, wie im Irak. Eine linke Partei muss sich deshalb entscheiden, auf welcher Seite sie steht. Aus meiner Sicht ist der Aufbau einer sozialistischen Massenpartei im Interesse der Arbeiterklasse, die die Organisierung von gesellschaftlichem Widerstand in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellt, notwendig.
Ebenso ist eine internationalistische Perspektive und politische Praxis nötig, denn die aus dem Kapitalismus resultierenden Probleme sind global und können nur global gelöst werden.
Eine marxistische Organisation wie die SAV ist notwendig, um die Lehren aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zu ziehen und ein Programm und eine Strategie für die vor uns liegenden Auseinandersetzungen zu entwickeln. Als Teil einer internationalen sozialistischen Vereinigung, dem Komitee für eine Arbeiterinternationale, macht die SAV das mit einem internationalistischen Blickwinkel und kann auch einen praktischen Beitrag zu internationaler Solidarität und Vernetzung von Widerstand leisten.
Viele Menschen erkennen heute, dass unter den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen keine Zukunftsperspektive besteht. Sie sind offen für eine scharfe Kritik am Kapitalismus. Vielen fehlt aber aufgrund der Erfahrungen mit den stalinistischen Systemen im Ostblock eine Vorstellung von Sozialismus. Die SAV hat auch die wichtige Aufgabe übernommen zu erklären, dass im Osten nicht der Sozialismus, sondern der Stalinismus gescheitert ist. Die stalinistischen Systeme mit ihren abgehobenen Bürokratien waren nicht sozialistisch. Die arbeitenden Menschen müssen im Sozialismus selbst entscheiden können, was produziert wird, sie müssen Planung und Verwaltung von Wirtschaft und Gesellschaft durch demokratisch gewählte Organe selbst in der Hand haben.
Ich weiß, dass viele Menschen das Ziel einer solchen Gesellschaft bejahen, es aber als Utopie bezeichnen. Für mich ist es jedoch weitaus utopischer, dass der menschenverachtende Kapitalismus Frieden, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz etc. hervorbringen könnte.
Das Gespräch führte Angelika Teweleit für sozialismus.info