Zank in der Großen Koalition darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Umverteilungspolitik forciert wird
Am 19. Juli gab das Magazin Capital eine Umfrage bekannt, nach der 67 Prozent der Unternehmer von der Merkel-Regierung „enttäuscht“ sind. Bundespräsident Köhler, ein neoliberaler Einpeitscher, forderte Union und SPD dazu auf, „endlich ihre Sandkastenspiele zu beenden“ und „die drängenden Probleme [im Sinne der Unternehmer] anzugehen“.
von Marcus Hesse, Aachen
Generell kommt aus dem Unternehmerlager Kritik an der Bundesregierung. Mitte Juli wurden aber in der Öffentlichkeit unterschiedliche Töne angeschlagen.
Teile der Kapitalverbände fordern härtere Gangart
Als die früheren Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Rogowski und Henkel, die Berufung des CDU-Bundestagsabgeordneten und parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführers Norbert Röttgen zum BDI-Geschäftsführer anprangerten, ging es ihnen nicht um so etwas wie Ämterhäufung. Röttgen als Merkel-Intimus steht für den Kurs vom amtierenden BDI-Chef Thumann. Dieser wird von Rogowski, Henkel und BDI-Vize Klingelnberg als „zu milde“ gegenüber der Union angesehen.
In einer Talkshow beim Sender Deutsche Welle TV verlangte Henkel von Merkel einen „Befreiungsschlag“, mit einer radikalen Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, der faktischen Abschaffung des Kündigungsschutzes und umfangreichen Steuergeschenken an die Unternehmen.
Profilierungsstreit in der Koalition
Dabei ist es nicht wenig, was Merkel und Müntefering bereits „verbrochen“ haben: Mehrwertsteuererhöhung, Verschärfung von Hartz IV, Entlastung der Konzerne und Abwälzung von Kosten auf die arbeitende Bevölkerung.
Hier war man sich rasch einig. Konsens bestand auch darüber, dass „Härten und Zumutungen“, so Finanzminister Steinbrück, beschlossen werden müssen, während die Fußball-WM auf Hochtouren läuft. Dann drangen aber zunehmend Streitigkeiten zwischen CDU/CSU und SPD durch.
Ein Grund besteht darin, dass die Zustimmung in der Bevölkerung zur Regierung Merkel massiv gesunken ist. Nach einer Umfrage von ARD-Deutschlandtrend sind 74 Prozent mit der Arbeit der Bundesregierung nicht zufrieden. So geht es Teilen der SPD darum, nach außen hin ein eigenes, sozialeres Profil zu zeigen.
Vor allem die Gesundheitsreform wurde zum Anlass für scharfe Auseinandersetzungen. Hier wollten beide Seiten, dass ihre Handschrift erkennbar wird. Da ihnen aufgrund der verschiedenen genannten Faktoren nicht der von den Kapitalisten geforderte „große Wurf“ gelang, wurde die „Kakofonie“ unter den Koalitionären lauter (sowie die Vorwürfe aus Unternehmerkreisen).
Gesundheitsreform
Doch auch wenn die Gesundheitsreform, die letztlich nur ein Kompromiss ist, keinen der Koalitionspartner so richtig glücklich macht, nannte Merkel sie „eine ganz neue Etappe in der Finanzierung des Gesundheitssystems“. Und tatsächlich bedeutet sie den faktischen Abschied von der paritätischen Finanzierung des Gesundheitswesens. Ziel ist es, den Arbeitgeberanteil an der Finanzierung zu drücken. Für die Masse der Bevölkerung erhöhen sich die Krankenkassenbeiträge 2007 nicht nur um etwa 0,5 Prozentpunkte, sie müssen zudem den von Rot-Grün eingeführten „Sonderbeitrag“ von 0,9 Prozent hinblättern. Aus dem neu eingerichten Gesundheitsfonds, in den Arbeitnehmer und Arbeitgeber einzahlen, werden den gesetzlichen Krankenkassen für jeden Versicherten die gleichen Beiträge überwiesen. Für darüber hinaus gehenden Finanzbedarf sollen bei den Versicherten Zuschläge erhoben werden. Die Kassen können auch mit einem Zusatzbeitrag für alle „zumindest eine kleine Kopfpauschale“ (Die Zeit) erheben.
Parallel dazu hat das Kabinett auch noch eine gewaltige steuerliche Entlastung von Kapitalgesellschaften beschlossen (siehe Seite 1).
Föderalismusreform
Mit der so genannten Föderalismusreform (der bislang massivsten aller Grundgesetzänderungen) gibt der Bund viele Kompetenzen an die Landesregierungen ab. Was auf dem ersten Blick harmlos erscheint, hat es in sich. So sind es jetzt allein die Landesregierungen, die über das Ladenschlussgesetz, den Strafvollzug und das Versammlungsrecht entscheiden. Im Falle der Ladenöffnungszeiten streben einige nun ihre völlige Freigabe an.
Die Föderalismusreform wird für die Landesregierungen dazu benutzt, einen Wettbewerb zwischen den Ländern um die niedrigsten Sozialstandards und die niedrigsten Löhne im öffentlichen Dienst zu starten. Gemeinsamer Widerstand der Beschäftigten wird durch die Zersplitterung und die unterschiedlichen Verhältnisse in den verschiedenen Bundesländern erschwert.
Demokratieabbau und Rassismus
Begleitet wird diese Politik von verstärktem staatlichen Rassismus. Nahtlos an die Hetze vom Frühjahr dieses Jahres anknüpfend, fordern Politiker aller etablierten Parteien von MigrantInnen unter Strafandrohung, sich doch gefälligst zu integrieren.
Gleichzeitig lud die Kanzlerin zum ersten „Integrationsgipfel“ ein. Zu dieser Showveranstaltung sagte Merkel, dass es bei dem Gipfel „weniger um Konsequenzen für Integrationsverweigerer“ gegangen wäre, als „um eine Betonung der [nicht vorhandenen] Angebote“. Dagegen spricht die reale Politik der Großen Koalition eine deutlichere Sprache: So forderte Innenminister Schäuble gleich nach dem Gipfel härter durchzugreifen und eine generelle Verschärfung des Ausländerrechts. MigrantInnen, die zu Hartz-IV-EmpfängerInnen werden, sollen künftig ausgewiesen werden können, Deutsche, die von Sozialhilfe leben, sollen keine ausländischen Ehepartner mehr ins Land holen dürfen, und Abschiebungen von MigrantInnen, deren Duldung abläuft, sollen erleichtert werden. Die Ankündigung solcher Abschiebungen vier Wochen vorher soll wegfallen.
Die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erlassenen „Anti-Terror-Gesetze“ werden um weitere fünf Jahre verlängert und ergänzt. Nach dem Beschluss des Kabinetts sollen auch die Befugnisse der Geheimdienste ausgeweitet werden.
Wenn die Thumanns leiser, die Rogowskis lauter Kritik an der Regierung äußern, dann kommt damit nur zum Ausdruck, dass sie ein noch schnelleres Tempo einfordern. Es zeigt außerdem, dass im heutigen Stadium des Kapitalismus beim Abbau früherer Errungenschaften kein Ende in Sicht ist – außer ArbeiterInnen, Erwerbslose und Jugendliche setzen sich entschlossen gegen diese „Härten“ zu Wehr.