Krise spitzt sich zu, bewaffneter Konflikt verschärft sich weiter  

Naher Osten: Der Hass auf die imperialistische Unterdrückung erreicht neue Stufe 
 

von Kevin Simpson, Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales), London

In der letzten Nacht haben die Israeli Defence Forces (IDF; israelische Armee) die Start- und Landebahn des internationalen Flughafens von Beirut bombardiert, Raketen auf Unterschlüpfe der Hisbollah (einer islamisch-libanesischen Terrorgruppe) abgefeuert und mehr als 30 weitere Luftangriffe gegen Ziele im Libanon geflogen. Zudem ist eine See-, Luft- und Land-Blockade gegen das libanesische Hoheitsgebiet errichtet worden. Zum ersten Mal seit Mai 2000 hat die israelische Armee damit wieder libanesisches Gebiet betreten.

ArbeiterInnen und junge Leute auf der ganzen Welt ekelt das momentane verwerfliche Vorgehen der IDF mit ihren militärischen Angriffen im Gaza-Streifen an, wo die Bevölkerungsmehrheit nun ohne Elektrizität und fließendes Wasser aushalten muss. Als die israelischen Sicherheitskräfte 64 Hamas-Führer, unter ihnen etliche Minister, inhaftierten, verharrte die Bush-Administration in kollektiver Stille. Seither werden sie nicht müde, ihre Empörung über die Gefangennahme oder das „Kidnapping“, wie sie es nennen, eines IDF-Soldaten zum Ausdruck zu bringen. Der US-Imperialismus hat eine massive Propagandakampagne gegen den „Terrorismus“ der Hamas-geführten palästinensischen Regierung gestartet. Doch eine Verurteilung des jüngsten Einmarschs der IDF in den Libanon ist ausgeblieben. Weltweit sind Millionen von Menschen ob dieser ambivalenten Herangehensweise angewidert.

Die Angriffe der IDF sind die Antwort auf überraschende Militärattacken der Hisbollah aus dem Libanon und bisher hat der brutale Armeeeinsatz der israelischen Regierung 50 libanesischen ZivilistInnen das Leben gekostet. In den folgenden Zusammenstößen wurden acht israelische Soldaten getötet und zwei weitere gerieten in Gefangenschaft der Hisbollah, die sie in libanesisches Hoheitsgebiet verschleppte. Das stellte einen groben Schlag auf das Ansehen der israelischen Regierung dar. Ehud Olmert, Premierminister von Israel, nannte die Ereignisse einen „kriegerischen Akt“ und drohte mit Vergeltungsmaßnahmen, die „sehr, sehr, sehr schmerzhaft“ sein würden. Sechstausend ReservistInnen wurden an die Nordgrenzen Israels abberufen. Der Befehlshaber der Nord-Truppen Israels sagte, dass „der Libanon um 20 Jahre zurückgeworfen werden wird“, sollten die Soldaten nicht auf der Stelle freigelassen werden. Die IDF setzen ihren Einmarsch in den Libanon unvermittelt fort und weiten diesen sogar noch aus. Im Zusammenhang mit der allgemeinen Lage im Nahen und Mittleren Osten, könnte dies der Funke sein, der für einen Flächenbrand in der Region sorgt.

All dies ist jedoch nur Bestandteil eines seit langem schwelenden militärischen Konflikts. Am selben Tag, als sie den Libanon bombardierten, tötete die IDF 23 PalästinenserInnen in ihrem fortdauernden Feldzug gegen die palästinensische Bevölkerung. Dieser Feldzug ist die vorgebliche Antwort der israelischen Regierung auf die Angriffe der islamischen Paramilitärs auf Vorposten der israelischen Armee und die Gefangennahme eines israelischen Soldaten. IDF-Einheiten haben den Süden, die Mitte und den Norden des Gazastreifens nun abermals besetzt, nachdem sie sich dort im August 2005 zurückgezogen hatten. Das Gebiet wurde auf diese Weise erfolgreich in zwei Teile geteilt. Während eines Angriffs der IDF wurde eine Ein-Viertel-Tonnen-Bombe auf des Haus eines Hamas-Führers abgefeuert.

Die Lage in der gesamten Region ist geprägt von immenser Anspannung und der Konflikt scheint schon beinahe seinen Höhepunkt erreicht zu haben – er droht nun in einer unkontrollierbaren Gewaltspirale aufzugehen. Glühender Hass kommt unter der Bevölkerung des Mittleren Ostens gegen die immer mehr an Brutalität zunehmende Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung durch die Regierung Israels auf. Hinzu kommt, dass man wahrzunehmen meint, der US-Imperialismus würde zu all dem einen Freibrief ausstellen. Verstärkt wird dieses Gefühl noch durch die barbarisch anmutende Militärbesatzung des US-Imperialismus im Irak, wo die Ölreserven für den hungrigen US-Kapitalismus gesichert werden sollen. Das Land befindet sich seither in einem offenen Bürgerkrieg.

Und als ob das alles noch nicht reichen würde, hat die Region in den letzten 10 Jahren massive neoliberale Einschnitte erleben müssen. Die arabischen Regimes sind korrupt, undemokratisch und brutal, und sie sind die willfährigen Agenten eines seinerseits imperialistisch motivierten stetigen Angriffs auf die Lebensbedingungen der hiesigen Arbeiterklasse und armen Bauernschaft in der Region. Diese und weitere Beispiele führen zur fortgesetzten Destabilisierung der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens. Die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts, der sich zu einem offenen Krieg in der gesamten Region entwickelt, kann heute nicht ausgeschlossen werden.

Der eigentliche Grund für diese Entwicklungen liegt darin, dass den imperialistischen Kräften und den korrupten arabischen Regimes immer weniger Ressourcen bleiben, die sie untereinander aufteilen könnten. Die Dinge scheinen so zu liegen, dass die imperialistischen Mächte und insbesondere ihre Vertretungen in der Region immer dann mit ökonomischen und mittlerweile mehr und mehr mit militärischen Angriffen auf die Bevölkerung reagieren, wenn wie das Gefühl haben, sich einer Gegnerschaft ihrer Politik gegenüber zu sehen. In Wahrheit hat die israelische herrschende Klasse kein wirklich ausgearbeitetes Programm, sondern reagiert nur mit roher Gewalt auf die Geschehnisse. Das verstärkt nur die Gefahr einer baldigen Eskalation des Konflikts.

Und die Strategie des US-Imperialismus zur Kontrolle des Nahen Ostens wurde in den letzten Jahren vollkommen auseinander gerissen. Nach den Anschlägen des 11. September, als die US-amerikanische Supermacht kurzzeitig auftrat, als hätte sie nun die Berechtigung, die ganze Welt militärisch einzunehmen, verbreitete die Bush-Administration die Idee, den Nahen Osten umbauen zu können. In Afghanistan sollten die Taliban beseitigt und eine „demokratisch sekulare Regierung“ eingesetzt werden. Im Irak wollte man sich um Saddam Hussein kümmern und eine neue, stabile und den USA freundlich gesinnte Regierung ermöglichen, die dann den ganzen Nahen Osten zum Blühen bringen und billige Energie für den Westen bereithalten würde. Eine „demokratische“ Transformation der übrigen Teile des Nahen Ostens sollte folgen, das iranische Regime sollte als Teil der „Achse des Bösen“ hinfort gefegt werden, Bashar al-Assad’s syrisches Ba’ath-Regime und möglicherweise sogar die alten Verbündeten des US-Imperialismus in Ägypten und Saudi-Arabien wären durch stabilere und vor allem genehmere Herrscher ersetzt worden. Und als direktes Ergebnis der Zerschlagung der islamistischen Organisationen wäre auch der israelisch-palästinensische Konflikt zu einem Ende gekommen.

Imperialistens Alptraum

Diese neo-konservative Vision wurde jäh von einem schrecklichen Alptraum des Imperialismus (und der Massen) abgelöst. Der Irak befindet sich heute in einer schlechteren Situation als zu Zeiten des brutalen Regimes eines Saddam Hussein. Täglich wächst die Möglichkeit, dass das Land in einander feindlich gesinnte und instabile Teilstaaten zerfällt. Der Iran konnte seine Position in der Region hingegen stärken, auch weil mit der Regierung in Zusammenhang stehende schiitische Parteien Einfluss im Irak haben.

Zudem hat das iranische Regime aufgehört, sich dem westlichen Druck zu beugen und die Produktion angereicherten Urans einzustellen. Darüber erhascht das Regime die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit für seine anti-imperialistische Rhetorik. Saudi-Arabien und Ägypten erleben hingegen ein Erstarken reaktionärer islamistischer Organisationen, die von der Al Quaida unterstützt werden. Die islamische Muslimbruderschaft erzielte bedeutende Erfolge bei den letzten ägyptischen Wahlen. Doch die anschaulichste Demütigung des US-Imperialismus war der Erdrutsch-artige Wahlsieg der Hamas bei den palästinensischen Wahlen im Januar diesen Jahres.

Der jetzige Einfall in den Libanon könnte ernste Folgen vor dem historischen Hintergrund der imperialistischen Rolle Israels in der Region haben. Die IDF marschierten zum ersten Mal 1978 im Libanon ein. Angeblich als Vergeltungsmaßnahme für Angriffe der PLO auf Israel. Tatsächlich aber wollte die damalige rechte Regierung in Israel mit ihrem Verteidigungsminister Ariel Sharon die PLO im Libanon zerschlagen und ein ihnen freundlich gesinntes Regime einsetzen. Die kapitalistisch motivierte Intervention Israels führte zur Gründung der Terrororganisation Hisbollah, die es letztlich schaffte, der IDF eine schändliche Niederlage beizubringen und diese 2000 aus dem Süd-Libanon zu vertreiben.

Geht mensch davon aus, dass die Hisbollah heute militärisch stärker ist und von einem stärkeren Zusammenhalt getragen wird, dann wird die israelische Regierung weit größere Schwierigkeiten damit haben, sie von der Freilassung der israelischen Soldaten zu überzeugen als es ihr möglich war, die Hamas im Gazastreifen zu destabilisieren.

Der US-Imperialismus musste ebenfalls große Rückschläge im Libanon hinnehmen. 1983 wurde die US-Botschaft von der Hisbollah zerstört und noch im selben Jahr riss eine Autobombe 241 Angestellte der USA in den Tod, was die dort stationierten US-Truppen zum Abzug brachte. Richard Armitage, der zwischen 2001 und 2005 eine ranghohe Position im US-amerikanischen Außenministerium inne hatte, sagte kürzlich, dass die Hisbollah sich einer „Blutschuld“ gegenüber den USA zuziehe.

Seit dem Abzug syrischer Truppen aus dem Libanon als Ergebnis von libanesischen Massenprotesten (und auf Druck der besonderen Interessen des US-amerikanischen und französischen Imperialismus) sind sektiererische Spannungen noch weiter gewachsen und eine Instabilität hat im Land und seiner Regierung zugenommen. Der libanesische Premierminister hat sich ungeachtet der Tatsache von den Aktionen der Hisbollah distanziert, dass die Hisbollah Teil seiner Koalitionsregierung ist. Diese Krise könnte zum Sturz des libanesischen Regimes und zu offenen Zusammenstößen mit einer möglicherweise zurückkehrenden syrischen Armee führen.

Ungeachtet ihrer militärischen Überlegenheit, steht auch die israelische Regierung unter enormem Druck. Ehud Olmert ist kein Premierminister, der wie seine Vorgänger als ehemaliger „Kriegsheld“ gilt. Seine Partei, Kadima, wurde erst kurz vor den letzten Wahlen im März gegründet, die sie prompt an die Regierung brachte und die aus vielen politischen Dinosauriern der beiden großen Formationen der Arbeitspartei und des Likud besteht. Sie hat keine wirkliche gemeinsame politische Linie und erste Brüche machen sich bemerkbar. Olmerts Kriegsrhetorik, mit der er jede Verhandlung über die Befreiung der israelischen Soldaten ablehnt und die von ihm eingeleitete militärische Repression, werden dennoch nicht dazu führen, dass die jungen Israelis freikommen. Innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft existiert eine starke Tradition, mit der die politische und militärische Führung persönlich für jedeN GefangengenommenE verantwortlich gemacht wird. Die Kadima ist in den Meinungsumfragen bereits weit zurück gefallen. Sollten morgen Wahlen stattfinden, würde sie vier von 29 Sitzen einbüßen.

Wichtige Zielsetzungen sind außerdem von Belang: Olmert wurde auf der Basis gewählt, dass er den „Plan zur beiderseitigen Annäherung“ fortführen würde. Dieser sah vor, dass der „Grenzwall“ fertig gestellt wird (dieser wird das israelische Hoheitsgebiet von den israelisch besetzten Gebieten abtrennen) und sich die israelischen Einheiten von einigen isoliert liegenden Siedlungen im Westjordanland zurückziehen. Nichtsdestotrotz beinhaltet dieser Plan auch die Beibehaltung der großen Siedlungen innerhalb des israelischen Territoriums als Teil einer einseitig verhängten „endgültigen Siedlungspolitik“ an den israelischen Grenzen. Vor den jüngsten Militäroffensiven fand sich noch eine Mehrheit in der israelischen Bevölkerung für diesen Plan – das ist jetzt nicht mehr der Fall.

Hinzu kommt, dass die Unterstützung für Hamas und Hisbollah nicht nachlässt, sondern dass die Militäroperationen die Wut in der palästinensischen Bevölkerung und speziell im Südlibanon weiter zunimmt und damit auch die Unterstützung für die Terrororganisationen wächst.

Wie dem auch sei wird keine der beiden Organisationen in der Lage sein, die grundlegenden Probleme der Massen zu beseitigen. Wenn sie ihre Positionen ausbauen können, wird es nur zu weiteren theokratisch-religiösen und vor allem kapitalistischen Regimes kommen.

Die Arbeiterklasse in der Region ist in Verbindung mit der armen Bauernschaft die einzig fähige Formation, die Imperialismus, Kapitalismus und die korrupten arabischen Eliten zurückzuschlagen und den Bedürfnissen der palästinensischen Bevölkerung nach sozialer und nationaler Befreiung gerecht werden kann. Im Umkehrschluss sind sie der Teil der Bevölkerung, der am meisten unter dem bewaffneten Konflikt leidet.

Die ungeheuerliche Wut, die gegen die bösartige Rolle des Imperialismus herrscht, muss in Richtung des Aufbaus einer neuen Arbeiterbewegung und neuer Arbeiterparteien gelenkt werden. Diese müssen auf Basis der Idee von einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens, sämtliche imperialistische bewaffneten Kräfte beseitigen und den Kapitalismus und Feudalismus in der Region abschaffen.

Ohne Zweifel beängstigt die Aussicht eines sich fortsetzenden Konflikts und möglichen Kriegs die ArbeiterInnen und jungen Menschen auf der ganzen Welt und speziell im Nahen Osten, weil damit schreckliches Leid einher geht. Egal wie es weiter geht: Kapitalistische Kriege und Konflikte werden auch neue Kämpfe der Arbeiterklasse gegen Privatisierung und Angriffe auf ihre Lebensbedingungen mit sich bringen, die auf jeden Fall auch schon stattgefunden haben, wie beispielsweise im Iran, in Ägypten, und Israel selbst. Solche Bewegungen werden wieder in den Vordergrund treten – allerdings mit einem anderen Bewusstsein. Mit Menschen, die mit dem Verlangen nach einem Ende des Blutvergießens und nach einer neuen Gesellschaft erfüllt sind, in der die Bevölkerungsmehrheit die großen Reichtümer der Region kontrolliert.

Im Gegensatz zu den Plänen der US-amerikanischen Neo-Konservativen für die Region ist dies keine bloße Vision, sondern abgeleitet von historischen Erfahrungen. Auf dem Höhepunkt des verheerenden libanesischen Bürgerkriegs 1988 nahmen libanesische Arbeiter über sektiererische Grenzen hinweg Streiks gegen den Verfall der Löhne auf, der aus der durch den Krieg angeheizten galoppierenden Inflation resultierte. Die „grüne Linie“ überschreitend, die ChristInnen und MuslimInnen in Beirut voneinander trennte, nahmen alle Glaubensrichtungen an den Demonstrationen teil, die sich gegen dieses Problem richteten. Während exakt desselben Konflikts demonstrierten zwischen 500.000 und einer Million Israelis in Tel Aviv gegen die Invasion der IDF im Libanon.

Wie dem auch sei dürfen Sozialistinnen und MitstreiterInnen nicht einfach da sitzen und auf ähnliche Entwicklungen warten. Eine Bewegung für den revolutionär-sozialistischen Wandel muss dringendst angestoßen werden – in der gesamten Region des Nahen Ostens!

13. Juli 2006