Armut und Elend in den Hügeln rund um Caracas

Vor einigen Tagen saß ich hinten in einem heruntergekommenen alten Mini-Bus, der mich nachts ins Stadtzentrum von Caracas brachte.
 

von Karl Debbaut, CWI, Caracas

Ein Personennahverkehr muss hier erst noch eingeführt werden, um die viel zu alten, klapprigen Mini-Busse mit Baujahr in den 1970ern abzulösen und in die mensch zusätzliche Sitzbänke eingebaut hat, damit mindestens 16 Personen darin Platz finden. So stellt sich das öffentliche Transportsystem dar, bei dem die Fahrpreise von der Regierung reglementiert sind.

Um die Verkehrsstaus auf den Hauptstraßen zu umfahren, nahm unser Mini-Bus-Fahrer die Route über Nebenstraßen durch die Berge. In der ersten Stunde der Fahrt über Serpentinen, die sich entlang der Küste schlängeln, sahen wir so gut wie nichts. Die einzigen Lichter, die die Nacht durchbrechen, stammen hier ausschließlich von entgegenkommenden Fahrzeugen, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Kurven nehmen. Während der Bus in Richtung Stadt kriecht, biegt er dann um eine Ecke und plötzlich sind die Berghänge von Tausenden kleiner Lampen hell erleuchtet. Ganz so, als hätte ein gigantischer Schwarm von Glühwürmchen die Hügel befallen. Hier leben die ärmsten der Armen. Millionen von Menschen, die ihre Behausungen an den Berghängen aneinander reihen, ohne Zugang zu einer permanenten Wasser- und Elektrizitätsversorgung, ohne befestigte Straßen und ein funktionierendes Abwassersystem sowie ständig in Mitleidenschaft gezogen von einer der höchsten Kriminalitäts- und Gewaltraten der Welt. Die offiziellen Zahlen legen den Schluss nahe, dass die meisten Kriegsgebiete dieser Welt relativ sicherer sind als lateinamerikanische Riesenstädte wie Sao Paulo oder Caracas.

Die venezolanische Hauptstadt Caracas ist umgeben von den weitläufigsten Barrios [Barackensiedlungen] in ganz Lateinamerika. Das „barrio Petare“, am Rand von Caracas gelegen, soll das zweitgrößte des Kontinents sein. Über 1,5 Mio. Menschen leben hier auf engstem Raum nebeneinander. Und niemand kennt die tatsächlichen Zahlen, die über die Kriminalität an diesem Ort Aufschluss geben könnten. Auf die Polizei verlässt sich hier kein Mensch, JournalistInnen trauen sich nur selten hier hinein und verständlicherweise hat das Führen von aussagekräftigen Statistiken in diesen unwirtlichen Verhältnissen nicht gerade die höchste Priorität. Die gestrige Zeitungsausgabe berichtete von dem Zoll, den ein durchschnittliches Wochenende an Gewalt abverlangt. Im örtlichen Leichenschauhaus begann mensch Freitagnacht damit, die Opfer zu zählen und musste bis Sonntagmorgen 28 Leichen registrieren. Bei der Mehrzahl der Toten handelte es sich um junge Leute, die ihren Schusswunden erlegen waren. Allein in der Gemeinde Sucre, die Teil des Barrios Petare ist, starben 10 Menschen im selben Zeitraum. Die Tante eines 17-jährigen Opfers, Angela Rosa Sanchez, beschwert sich über die Polizei: „Die örtliche Polizei verlangt von uns, dass wir selbst die Kriminellen schnappen. Auch sollen wir die Toten eigenhändig zur Leichenhalle bringen, damit die Polizisten nicht so hart arbeiten müssen. So weit ist es in unserem Barrio gekommen. Wir wollen nur die Chance auf ein friedliches Leben.“ Die Polizei wird hier als sehr unzuverlässig wahrgenommen und manchmal auch als gefährlicher und korrupter als die bewaffneten Kriminellen.

Und über Mangelwirtschaft, Armut und Kriminalität hinaus müssen sich die Menschen, die an den Hängen Caracas´ leben auch noch mit den Naturgewalten auseinandersetzen. Momentan herrscht Regenzeit, in der Baracken von Schlammlawinen mitgerissen werden und die Flüsse über die Ufer treten. Die Regierung hat zwar versprochen, obdachlos Gewordenen und denen, die in mittlerweile unbewohnbaren Verhältnissen leben, neue Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Doch die Monate gehen vorüber und rein gar nichts passiert.

In dieser Situation werden improvisierte Feldlager in den Parks und auf den Grünflächen rund um die Stadt aufgebaut. Wie an einer Stelle in John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ beschrieben, entstehen ganze Städte kleiner Zeltsiedlungen. Familien errichten Notbehelfs-Unterkünfte aus Metallteilen, Pappe und Stoffresten. In der Hauptstadt selbst werden mittlerweile (wenn auch in kleinerem Umfang) leerstehende Gebäude von solchen Familien besetzt, die ihre alten Behausungen durch Schlammabgänge verloren haben. Die Reaktion der Stadtoberen und des Bürgermeisters von Caracas, Freddy Barnal, darauf ist wie immer: Hilfe wird sofort zugesagt, doch Pläne, wie der verzweifelten Wohnsituation beizukommen ist, wie den Armen Wasser- und Stromversorgung zur Verfügung gestellt werden kann oder wie die in sich zerfallende Infrastruktur erneuert werden muss, werden nicht gemacht. Der Bürgermeister hat bei verschiedenen Gelegenheiten erklärt, dass Privatbesitz respektiert werden muss und als hochheilig angesehen wird. Und das, obwohl gleichzeitig jedeR mit eigenen Augen sehen kann, dass es in der Stadt leerstehende und baufällige Gebäude gibt, die von Maklern und Spekulanten bewusst in diesem Zustand gelassen werden.

„Nur einmal in zwei Wochen gibt es Leitungswasser“

In Nueva Taca, einem Stadtteil von Caracas, warten 20 Familien darauf, dass die nationale Wohnungsbehörde ihnen Ausgleichszahlungen für ihre zerstörten Wohnungen überweist. Diese Menschen leben in unvorstellbaren Verhältnissen. „Nur einmal alle zwei Wochen haben wir fließendes Wasser und das in der Zeit, da ich meinem Baby die Flasche mit Regenwasser zubereiten muss“, sagt Ericka Sanchez, die in diesem Bezirk lebt. Ihre Wäsche waschen die Menschen hier in einem nahegelegenen Rinnsal, der stehendes und stinkendes Wasser führt. Kinder wie Erwachsene haben unterdessen Pusteln auf der Haut und sind von Krätze befallen, einer ansteckenden und juckenden Hauterkrankung, bei der sich Milben in die Haut graben und dort weiter vermehren. Ganze Familien sind davon betroffen.

Aufgrund des erbärmlichen Zustands der Straßen, existiert praktisch kein Nahverkehr in Nueva Taca. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule und die zunehmende Isolation von der Stadtbevölkerung lässt die Kriminalitätsrate weiter steigen. Juan Flores, einer der Bewohner, der ein Auto besitzt, beschwert sich verbittert: „Weil die Straßen blockiert sind, kann ich meinen PKW nicht mehr benutzen. Er steht geparkt vor meinem Haus. Und jeden Tag wird ein weiteres Teil von diesem Wagen gestohlen. Inzwischen steht dort auch kein Auto mehr, sondern nur noch ein Haufen Schrott“.

Die Statistik sagt, dass über die Hälfte der VenezolanerInnen in Armut lebt. Und das in einem Land, das unglaubliche Reichtümer wie Öl und andere Rohstoffe besitzt. Ein Land, das eine hoch entwickelte Industrie beheimatet und eine Arbeiterschaft, die dafür ausgebildet ist, den Reichtum förmlich aus der Erde zu holen. Der weltweit herrschende Kapitalismus und eine korrupte venezolanische Elite haben es nie hinbekommen, das Land weiter zu entwickeln und die unter der Mehrheit der Menschen verbreitete Armut zu beenden. Armut, schlechte Infrastruktur, Wassermangel, schadhafte Stromversorgung und hohe Kriminalitätsraten sind nicht das Ergebnis von unglücklichen Zufällen, einer schlechten Einstellung der Menschen oder mangelnder Bildung. Letztendlich ist das, was du an den Hängen rund um Caracas sehen kannst nichts anderes, als das Ergebnis eines Kapitalismus, der sich selbst unüberwindbare Grenzen setzt: Dieses Wirtschaftssystem ist zwangsläufig unfähig, in einer modernen Epoche die Produktivkräfte der Gesellschaft weiter zu entwickeln und damit gleichzeitig das ganze Land voranzubringen.

Um das Land wieder aufzubauen und damit den Bedürfnissen der Massen gerecht zu werden, muss die Arbeiterbewegung zusammen mit den Armen den Weg zum Sozialismus einschlagen. Was wir fordern müssen, ist die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrie, die sofortige Einführung eines Notfallplans bezüglich Wohnungsbau, Verkehr, Elektrizität und Wasserversorgung. Das sozialistische Wirtschaftssystem mit einer demokratisch geplanten Produktion und unter der Kontrolle der ArbeiterInnen selbst, unter der Übernahme der politischen Macht durch die ArbeiterInnen und ihre Organisationen – das ist die einzige Garantie für eine Zukunft, in der ArbeiterInnen und Arme weder Bettler noch Sklaven sein müssen.