"Integration": Die Grenzen verlaufen zwischen unten und oben

Was es mit der Integrationsdebatte wirklich auf sich hat
Die öffentliche Debatte über „Integration“ und „Parallelgesellschaften“ nimmt absurd-komische Züge an. Zum Lachen ist es trotzdem nicht. Junge Menschen aus muslimischen Ländern müssten sich für nahezu alles verantwortlich fühlen, was in Deutschland schief läuft. Angeblich sind sie potenziell des Terrors verdächtig, können kein Deutsch, haben sich nicht integriert und die PISA-Studie verbockt. Zudem sollen sie in den Schulen randalieren anstatt zu lernen. Sie besetzen die Arbeitsplätze, sind gleichzeitig arbeitslos und erschleichen sich Sozialleistungen. Mindestens sind sie für sämtliche Gewalt gegen Frauen verantwortlich und dafür, dass Frauen immer noch weniger Geld verdienen als Männer.

von Claus Ludwig, Köln

Es läuft eine Kampagnevon Politikern und Medien, mit der ImmigrantInnen, vor allem aus islamischen Ländern, zu Sündenböcken gestempelt und ihnen die Verantwortung für Probleme zugeschoben werden, die durch das wirtschaftliche und politische System der Bundesrepublik verursacht sind.

Dieses System bietet Jugendlichen keine Zukunft. Es gibt immer weniger Arbeits- und Ausbildungsplätze. Die Ausgaben für die Bildung werden gekürzt. Beschäftigte müssen für weniger Geld länger arbeiten. Davon sind Deutsche und Nichtdeutsche betroffen. Es entspricht den Interessen der wirtschaftlich Herrschenden und ihrer Parteien, die Unterschiede bezüglich Herkunft, Religion und Kultur zu überzeichnen, um Diskussionen über die Ursachen der tiefen strukturellen Krise des Kapitalismus zu verhindern und den gemeinsamen sozialen Widerstand zu erschweren.

„Gastarbeiter“

Während des Wirtschaftsaufschwungs in den sechziger Jahren waren Arbeitskräfte knapp. Die Firmen warben ausländische ArbeiterInnen an. „Ghettoisierung“ und „Parallelgesellschaften“ waren im Sinne der Erfinder, denn der mangelnde Kontakt zwischen Deutschen und AusländerInnen erleichterte den Einsatz der „Gastarbeiter“ zu niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen.

Deutschkurse wurden kaum angeboten. Auch die hier Geborenen bekamen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Eine Förderung der Zweisprachigkeit war nicht gewünscht, auch für die zweite Generation waren Tätigkeiten als ungelernte ArbeiterInnen vorgesehen.

In den achtziger Jahren ließen sich die jungen ImmigrantInnen nicht mehr aufhalten. Sie gingen stärker als zuvor auf Gymnasien und Universitäten, waren als Zweisprachige selbstbewusster, forderten ihre Rechte ein. Die bürgerlichen Parteien reagierten darauf, indem sie Zugeständnisse machten. Deutschkurse und muttersprachlicher Unterricht wurden ausgebaut, „Multikulti“ wurde – oberflächlich – als positives Markenzeichen eingeführt.

Für viele Menschen waren das lange überfällige Schritte in Richtung Gleichberechtigung. Die bürgerlichen Parteien und die Unternehmer meinten aber etwas anderes: Ihnen ging und geht es um die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Zuwanderern. So hatte die zweite und dritte Generation aus der Türkei Potenziale, die im bescheidenen Wirtschaftsaufschwung Ende der Achtziger von Nutzen waren. Aber diese „Charmeoffensive“ in Richtung der hier schon länger lebenden ArbeitsmigrantInnen wurde durch eine härtere Gangart gegen politische und Armutsflüchtlinge begleitet, die aus der Türkei, dem Nahen Osten, Osteuropa und afrikanischen Ländern nach Europa kamen. Anfang der Neunziger wurde dies zu einer Hetzkampagne gegen Asylsuchende, die in der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993 ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Die rassistischen Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock, die mörderischen Anschläge der Nazis von Mölln und Solingen gingen damit einher.

Die Guten, die Bösen…

Die von SPD und Grünen angekündigte Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts hat nichts verbessert. Tatsächlich ist durch die weitgehende Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft die rechtliche Situation vieler Menschen vor allem aus der Türkei schwieriger geworden. Das Kapital hat eine sehr flexible Haltung. Die Wirtschaftsverbände fordern, den deutschen Arbeitsmarkt stärker zu öffnen. Sie begrüßen es, wenn Informatiker aus Indien oder Bauarbeiter aus Osteuropa hierher kommen und helfen, die Löhne zu drücken. Aufmucken können diese sowieso nicht, ihr Aufenthaltsrecht ist an den Job gebunden.

Die bürgerlichen Politiker machen eine schizophrene Politik. Sie gehorchen brav den Anweisungen der Konzerne und befürworten, dass ausländische Arbeitskräfte und Firmen als Lohndrücker eingesetzt werden. Sie haben sich für die Bolkestein-Richtlinie der EU eingesetzt, mit der europaweit Dienstleistungen zu den Bedingungen des Heimatlandes einer Firma angeboten werden sollen. Gleichzeitig tönen sie rum, so ginge es nicht, dass „polnische Handwerker“ – wahlweise auch aus anderen Ländern – „uns“ die Arbeitsplätze wegnähmen.

Die Politiker bevorzugen die profitorientierte Aufspaltung der Bevölkerung entlang nationaler und religiöser Grenzen, ausgeführt durch staatliche Organe. Dumpfer, offener und brutaler Rassismus hingegen verschreckt ausländische Investoren und TouristInnen, vor allem im WM-Jahr. Deswegen die große Empörung der Politiker nach dem Überfall auf Ermiyas M. in Potsdam, nachdem jahrelang zu Morden und Gewalttaten in unbekannteren Städten geschwiegen wurde. Gleichzeitig testet Innenminister Schäuble jedoch mit seinen rassistischen Äußerungen bezüglich dem Mordversuch in Potsdam, ob man nicht auch eine rechte Stimmung bedienen kann.

…und die Überflüssigen

Die Schulen sind ein Mikrokosmos der deutschen Klassengesellschaft. Die PISA-Studie hat gezeigt, dass der Bildungserfolg nahezu ausschließlich vom Einkommen der Eltern abhängt. Wer aus einer Arbeiter- oder Erwerbslosenfamilie kommt, hat heute kaum eine Chance, das Abitur zu machen. Die Hauptschule fungiert oftmals als der Ort, an den alle geschoben werden, die aus Familien mit sozialen Problemen kommen.

Wer heute an Schulen wie der Berlin-Neuköllner Rütli-Schule landet, hat so gut wie keine Chance, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Die Direktorin einer ostdeutschen Schule schreibt bei SPIEGEL ONLINE: „Nur noch wenige von ihnen werden Hauptschüler auf Grund ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Es sind zwar häufig Kinder aus so genannten bildungsfernen Elternhäusern. Aber sie weisen nicht unbedingt Leistungs-, sondern eher Verhaltensdefizite auf.“

Teile der Bevölkerung haben keine Hoffnungen mehr, sehen keine Chance, ihre Lage zu verbessern. Frustration und auch Gewalt gehören zu den Folgen.

Allerdings ist die öffentliche Debatte geradezu hysterisch. Es gibt an einigen Schulen ein Klima von Gewalt, aber LehrerInnen weisen zu Recht darauf hin, dass es viele Hauptschulen gibt, an denen es ein gutes Klima gibt, an denen Gewalttäter isoliert sind. Die Debatte an Gewalt an Schulen dient auch dazu, arme Familien, Arbeitslose und MigrantInnen den Stempel „asozial und gewalttätig“ zu verpassen.

Etablierte Politiker und Medien reden von kulturellen und religiösen „Parallelgesellschaften“. In In Wirklichkeit existiert die „Parallelgesellschaft“ der Besitzenden, die immer reicher werden, während der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung sinkt und ein Teil in die Armut abgedrängt wird. Das ist die wahre Bruchlinie der Gesellschaft. SchülerInnen in den Hauptschulen sprechen verschiedene Sprachen, glauben an verschiedene oder gar keine Götter, aber ihre Lebenssituation ähnelt sich: Sie schreiben hundert Bewerbungen und werden zu keinem Gespräch eingeladen, sie landen in „Trainingsmaßnahmen“ und Ein-Euro-Jobs. Für ihre Eltern ist am Ende des Geldes immer mehr Monat übrig.

„Parallelgesellschaftlich“ können sich auch die dumpfbackigsten Sprösslinge aus Unternehmerfamilien den Nachhilfeunterricht leisten. Über für ihre Studiengebühren kellnernde und callcenternde Mitstudierende können sie nur lachen. Am Ende winkt ein netter Posten in einer Geschäftsleitung.

An der Berliner Rütli-Schule ist nicht die mangelnde Integration von MigrantInnen explodiert, sondern die tiefe soziale Krise, die Desintegration und Brutalisierung sichtbar geworden, die der Kapitalismus zu verantworten hat.

Kampagne gegen den Islam

Die aktuelle ideologische Offensive wird nicht gegen AusländerInnen an sich geführt, sondern gegen den angeblich „integrationsunswilligen“ Teil. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Islam. Dass sich reaktionäre Kreise wie Al-Qaida, die Taliban oder Hamas auf den Islam berufen, erleichtert die Propaganda. Ganz bewusst werden dabei die Unterschiede zwischen Fundamentalisten und normalen MuslimInnen und zwischen gläubigen MuslimInnen und nicht-religiösen Menschen aus islamischen Ländern verwischt.

Diese Offensive verfolgt den Zweck, von der sozialen Spaltung in Deutschland abzulenken, vom völligen Versagen der Politik und des Wirtschaftssystems. Gleichzeitig dient sie als ideologische Grundlage der aggressiven Außenpolitik, zur Rechtfertigung des härter werdenden Afghanistan-Einsatzes und zur Vorbereitung von möglichen Angriffen auf den Iran.

Allein in diesem Jahr gab es die anti-islamischen Karikaturen und die „Einwanderungstests“, die sämtlich darauf abzielen, MuslimInnen zu diffamieren. Jüngst rief CDU-Familienministerin von der Leyen zum „Erziehungsgipfel“ und konferierte, wie man mehr christliche Werte in die Erziehung einführen könne. Bei einem Land, in dem theoretisch Staat und Kirche getrennt sein sollen, ist das ein gezielte Provokation.

Dies erfüllt seinen Zweck: Deutsche haben Angst vor MuslimInnen. Und ImmigrantInnen entfernen sich weiter von der „Integration“. Menschen, die jeden Tag verbal in die Fresse geschlagen werden, die sich permanent rechtfertigen müssen für Zustände, mit denen sie konfrontiert sind, halten Ausschau nach etwas, auf das sie sich positiv beziehen können. Auf Grund der Schwächung der Arbeiterbewegung und der Linken seit dem Ende der achtziger Jahre wendet sich eine bedeutende Zahl von ihnen teilweise reaktionär-islamistischen oder türkisch-nationalistischen Ideen zu.

„Parallelgesellschaften“ werden durch Ausgrenzung, Diskrimierung und Chancenlosigkeit geschaffen. Das Establishment ist weder willens noch in der Lage, die ImmigrantInnen zu „integrieren“. Sie können ebenso wenig die Arbeitslosen oder die Jugend in den Arbeitsmarkt „integrieren“. Diese Gesellschaft basiert auf Ausschluss und Desintegration, auf sozialer Spaltung.

Für gleiche Rechte

Eine wirkliche „Integration“ kann durch den gemeinsamen Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen erreicht werden. Wenn deutsche und nichtdeutsche Jugendliche und Lohnabhängige sich für ihre gemeinsamen Interessen einsetzen, für Bildung und Arbeit, für eine lebenswerte Zukunft, dann können alle Probleme, die es wegen unterschiedlicher Sprachen oder Kulturen gibt, perspektivisch überwunden werden.

Durch die rechtliche Schlechterstellung der MigrantInnen werden wir nur gespalten. Daher ist es nötig, dass alle hier lebenden Menschen die gleichen Rechte bekommen, keine Angst vor Ausweisung haben müssen und wählen dürfen.

Es gilt, für gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu kämpfen.Dem Lohndumping muss der gemeinsame gewerkschaftliche Kampf entgegengesetzt werden. Gefordert werden muss ein verbindlicher gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von zwölf Euro pro Stunde für alle Beschäftigten in Deutschland. Das Kapital ist international organisiert, die arbeitende Bevölkerung wird europa- und weltweit gegeneinander ausgespielt. Deswegen muss auch der Widerstand gegen Lohndumping international sein. So wäre es ein erster Schritt, wenn die Beschäftigten in Deutschland Kontakte zu den KollegInnen in Frankreich, Polen oder Tschechien knüpfen würden.

Mit der sozialen Benachteiligung an den Schulen muss Schluss sein: Für die Abschaffung der dreigliedrigen Schuleund die Einführung der integrierten Gesamtschule als Regelschule. Bildung muss kostenlos sein, von der Krabbelgruppe bis zur Universität, nur so gibt es Chancen für alle. Kita-Gebühren, Studiengebühren und Zuzahlungen an Schulen müssen abgeschafft, ausreichend Kita-Plätze zur Verfügung gestellt und die Klassenstärken verringert werden. Notwendig sind kostenlose Deutschkurse und die Möglichkeit muttersprachlichen Unterrichts. Repressionen wie das Verbot anderer Sprachen auf Schulhöfen sind abzulehnen.

Wer nicht ausbildet soll zahlen! Darum ist die Einführung einer Ausbildungsabgabe und die Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen nötig. Die Kommunen und öffentlichen Betriebe müssen dabei voran gehen. Die Arbeitszeit ist allgemein bei vollem Lohnausgleich zu verkürzen, um die Arbeit zu verteilen.

Das Recht aller Menschen, ihre Religion und Kultur auszüben, gilt es zu verteidigen – also auch das Recht, repräsentative Moscheen zu bauen, die zeigen, dass MuslimInnen ein Teil der Gesellschaft sind. Nur wenn religiöse Diskriminierung abgeschafft und die Trennung von Staat und Kirche wirklich vollzogen werden, wird Religion zur Privatsache und werden Fundamentalismen zurückdrängt. Für die Abschaffung der Kirchensteuer und der sonstigen staatlichen Subventionen für religiöse Zwecke! Kruzifixe haben an den Wänden von Klassenräumen nichts verloren. Allerdings muss das Recht einzelner Menschen, ihr politisches oder religiöses Bekenntnis auch in Schulen und öffentlichen Gebäuden zu zeigen, verteidigt, ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen abgelehnt werden.

Claus Ludwig ist Mitglied im Rat der Stadt Köln für das linke Bündnis „Gemeinsam gegen Sozialraub“. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Ratsfraktion DIE LINKE.KÖLN