Streik am Wendepunkt
Die Politiker in den Ländern und Kommunen stellen sich die Aufgabe, im öffentlichen Dienst zwei Breschen für die gesamte Wirtschaft zu schlagen. Die eine Bresche heißt: Weitere Erhöhung der Arbeitszeit. Die andere: Entscheidende Schwächung der Gewerkschaften.
von Ursel Beck, Stuttgart
Wenn ausgerechnet in Baden-Württemberg mit einer weniger dramatischen Haushaltslage als anderswo die härteste Linie gefahren wird, dann gerade auch, um den kämpferischeren Funktionären im Bezirk Stuttgart und im Landesbezirk eine Niederlage beizubringen.
Provokation der Arbeitgeber
Ohne ernsthaften Kampf hat die ver.di-Spitze in den letzten Jahren die Arbeitszeitverlängerungen für BeamtInnen, die Kündigungen der Tarifbestimmungen für Sonderzahlungen und Arbeitszeit bei den Länderbeschäftigten und den Austritt von Hessen aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) hingenommen. Die Tarifreform des öffentlichen Dienstes (TVöD) bedeutet eine völlige Kapitulation. Es war zu erwarten, dass die Arbeitgeber die Öffnungsklausel des TVöD nutzen werden, um eine Arbeitszeitverlängerung bei den Kommunen durchzusetzen. Bsirske und Co. unterließen es, eine Kampagne dagegen vorzubereiten und mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zur Schaffung von neuen Stellen eine Gegenoffensive zu starten.
95 Prozent für Streik
Drei Jahre nach den ersten Kündigungen von Tarifbestandteilen bei den Ländern gab es endlich eine Urabstimmung. In neun Bundesländern stimmten 94,5 Prozent der zur Urabstimmung aufgerufenen Landesbeschäftigten für Streik. Bei den Urabstimmungen der Kommunalbeschäftigten gab es noch bessere Ergebnisse.
Immer wieder wird uns von den Politikern erklärt, die Menschen seien egoistisch. Die Streikenden führen ihren Kampf jedoch ganz bewusst für die Arbeitslosen und die Jugendlichen.
Seit Anfang Februar wuchs mit jedem Streiktag der Aktivitätsgrad, die Selbstorganisation und die Solidarität zwischen den streikenden Belegschaften. Mehr als 30.000 traten in ver.di ein. In den Kitas, Krankenhäusern und bei der Müllabfuhr gibt es einen tagtäglichen Kampf um Notdienste. Die täglichen Streikversammlungen helfen den zum schlechten Gewissen erzogenen Erzieherinnen oder Krankenschwestern, zu ihrem Streik zu stehen. So steigen Mut und Entschlossenheit. Immer mehr wagen es bei Streikversammlungen, ihre Meinung zu äußern. Streikende diskutieren Fragen, die weit über den Streik hinausgehen.
ver.di-Führung versagt
Wäre ein Kampf darum geführt worden, bundesweit oder zumindest in allen größeren Städten eine Streikbeteiligung wie in Stuttgart hinzukriegen, wären schon Hunderttausende im Streik gewesen. In mehreren Städten gab es gemeinsame Demonstrationen. In Hannover sind Busfahrer in einen Solidaritätsstreik getreten. Die ver.di-Spitze hat jedoch nichts getan, um diese positiven Beispiele bundesweit zu propagieren. In Hannover und Hamburg hätte mit einem Streik an den Flughäfen ökonomisch ungeheurer Druck ausgeübt werden können. Dass ausgerechnet in Hamburg mit seiner Kampfkraft von mehr als 70.000 Tarifbeschäftigten ein fauler Kompromiss geschlossen wurde, ist bezeichnend. Wen wundert es da, dass 58 Prozent den Abschluss bei der Urabstimmung ablehnten und Streikwesten wütend in Mülltonnen geworfen wurden.
Streik ausdehnen
Die Höchstzahl der Streikenden an einem Tag lag bei 41.000. Davon streikten 17.000 in Baden-Württemberg und hier wiederum 5.000 in Stuttgart. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der TdL empfahl die ver.di-Spitze ihren Funktionären, samstags beim Bäcker in der Schlange den Streik zu verteidigen und Leserbriefe zu schreiben. Keine Rede davon, weitere Betriebe streikbereit zu machen, alle Fachbereiche zu mobilisieren, Versammlungen einzuberufen und Solistreiks zu organisieren oder auf einen gemeinsamen bundesweiten Streik- und Protesttag hinzuarbeiten.
Statt Streikausdehnung trat die ver.di-Spitze den Rückzug an. Bei den Ländern droht eine Kapitulation. Nach dem Scheitern der Schlichtung in Baden-Württemberg will man vom Erzwingungsstreik zum „permanenten Streik“ übergehen. Aber die Müllwerker, Krankenpfleger und ErzieherInnen wollen nicht ewig streiken, sondern verlangen eine Strategie, mit der dieser Kampf zu gewinnen ist. Und diese Strategie kann nur darin bestehen, Kräfte zu sammeln und eine schlagkräftige Streikbewegung aufzubauen: Einbeziehung aller streikbereiten Betriebe des öffentlichen Dienstes, Herstellung der Streikfähigkeit in weiteren, Mobilisierung von BeamtInnen und allen anderen Bereichen, die von Arbeitsplatzvernichtung und Tarifkonflikten betroffen sind (zum Beispiel bei der Telekom), Aufruf der schweren Bataillone des öffentlichen Nahverkehrs zu Solistreiks.
Ganz zentral ist zudem ein gemeinsamer Kampf mit den MetallerInnen, bei denen seit Ende März die Friedenspflicht vorbei ist. Die Spitzen der Gewerkschaften müssen unter Druck gesetzt werden, den DGB zur Organisierung von branchenübergreifenden Widerstand aufzurufen. Das muss mit Initiativen von unten für lokale, regionale und landesweite Streiks einher gehen.
Tägliche Versammlungen und Streikkultur – Aktiver Streik in Stuttgart
Freitag, 17. März: Streikversammlung am Bürgerhospital. Es ist der zwölfte Streiktag in der fünften Streikwoche am Klinikum.
Für Sonntag wird ein Schlichterspruch erwartet. Der ver.di-Bezirk Stuttgart hatte die Schlichtung abgelehnt, sich damit aber in der Tarifkommission nicht durchgesetzt. SAV-Mitglied und Streikleiter Dieter Janssen meint, dass alle Streikenden die Möglichkeit haben müssen, das Schlichtungsergebnis und das Abstimmungsverhalten bei einer Urabstimmung gemeinsam zu diskutieren. Es dürfe sich nicht wiederholen, was 1992 passiert sei. Damals habe die ötv-Führung vor der Urabstimmung den Streik abgebrochen.
Am Ende gibt es eine Abstimmung. Bei zwölf Enthaltungen und einer Gegenstimme wird für den Tag nach dem Schlichterspruch Streik beschlossen. Über Handy ermittelt ein Kollege der Streikleitung die Ergebnisse der Diskussion aus den Versammlungen der anderen Häuser. Das einhellige Ergebnis für Streik am Montag wird mit Applaus aufgenommen.
Internationale Solidarität
Im Laufe des Streiks wurde es im Bürgerhospital üblich, dass ein ehemaliger Militärmusiker der Roten Armee, Patient und ver.di-Mitglied mit seinem Akkordeon bei Streikversammlungen spielt. Die Marseillaise und die Internationale gehören zum ständigen Repertoire. Dieter Janssen erklärt, dass die Internationale beim Arbeiteraufstand 1871 in Paris entstanden ist.
Das ist die Überleitung zum Internationalismus heute, der vor allem durch die europaweite Bolkestein-Demo am 14. Februar Bestandteil dieses Streiks wurde. Am Bürgerhospital gehen Solidaritätserklärungen von Unison-KollegInnen aus Britannien ein. Die Streikenden erfahren, dass der öffentliche Dienst dort am 28. März in einen eintägigen Streik tritt. Die Versammlung beschließt dafür ebenfalls eine Soliadresse.
Immer wieder wurden zu den Streikversammlungen KollegInnen aus anderen Betrieben eingeladen. Mal sprach ein Kollege von UPS, mal vom Metallbetrieb Mahle, dann vom Betriebshof der Müllabfuhr eine Straße weiter.
Demo, Kundgebung, Musik
Nach der Versammlung geht es zum Gewerkschaftshaus. Um die tausend Streikenden füllen den Saal. Hunderte halten sich im Foyer auf.
Dann geht es, wie jede Woche, im Demozug durch die Innenstadt. Auf der Kundgebung kommt der Personalratsvorsitzende vom Klinikum, Thomas Böhm, darauf zu sprechen, dass die Ärzte 30 Prozent mehr Geld fordern. Spontan fordern viele das dann auch für sich. KollegInnen aus verschiedenen Ämtern und Betrieben tragen selbst gedichte Lieder vor. Der Streikchor des Klinikums tritt auf. Die beiden Streikleiter des Bürgerhospitals, Dieter Janssen und Michael Döcker, begleiten den Chor mit Trompete und Akkordeon. Bei einem Lied auf die Melodie von Bandierra Rossa stimmen viele in den Refrain ein: „Müllmann, Krankenschwester – alle sind bereit, Jammern, das war gestern – heute wird gestreikt. Putzfrauen und Arbeiter – Hand in Hand, wir kämpfen für die 38,5 im Land.“ Italienische KollegInnen singen den Originaltext. Die Stimmung unter den 2.000 TeilnehmerInnen ist euphorisch.
Das Bewusstsein steigt an
So – wie im Bürgerhospital – sind tägliche Streikversammlungen, getrennt nach Ämtern und gemeinsam im Großen Saal des Gewerkschaftshauses fester Bestandteil des Streiks. Um die 2.000 KollegInnen beteiligen sich daran, machen Vorschläge, stimmen ab. Mit der Wochen steigt der Mut, vor Hunderten ans Mikrofon zu gehen. Zwischen den Betrieben hat sich eine riesige Solidarität aufgebaut.
Streikende im Klinikum unterstützten KollegInnen des Staatstheaters bei einer Aktion während einer Vorstellung auf der Bühne. Bei den erfolgreichen Blockaden der Müllverbrennungsanlage halfen KollegInnen aus anderen Bereichen mit. Ein Streikpokal macht die Runde.
Egal wie dieser Kampf ausgeht, die in Stuttgart gemachten Erfahrungen kann den KollegInnen niemand mehr nehmen.