Stimme erheben statt den Interpretations-Künstlern ausliefern

Zur bundesweiten Urabstimmung der WASG

Schon vor der am Montag, 6. März, beginnenden bundesweiten Urabstimmung der WASG tobt der Kampf um die „richtige“ Interpretation der Fragestellung. Bodo Ramelow, Fusionsbeauftragter der L.PDS, erkennt im Text sogar die Möglichkeit, WASG-Landesverbände durch neue zu ersetzen, wenn sie ihm nicht passen.


 

Der Bundesparteitag, dem die Urabstimmung angeblich Orientierung bieten soll, ist gut beraten, die inhaltliche Diskussion über die Neuformierung zu führen, statt sich in einen Literatur-Streit über die korrekte Text-Auslegung zu verwickeln – unabhängig davon, wie diese Abstimmung ausgehen wird.

von Stephan Kimmerle, Berliner WASG- und SAV-Mitglied

Würde Jack the Ripper uns sagen, er habe seine Taten aufgrund einer Inspiration begangen, die ihn beim Lesen des Evangeliums überkam, so würden wir zu der Ansicht neigen, er habe das Neue Testament auf eine Weise interpretiert, die zumindest ungewöhnlich ist.
Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation

Die Fragestellung der Urabstimmung lautet: „Ich bin dafür den Parteibildungsprozess zwischen WASG und Linkspartei unter Einbeziehung der sozialen Bewegungen fortzusetzen. Am Ende dieses Prozesses soll eine neue linke gesamtdeutsche Partei stehen. Ich fordere den Bundesvorstand auf, bis Herbst 2006 den Mitgliedern Vorschläge für ein Programm, eine Satzung und den zeitlichen und organisatorischen Ablauf der Neubildung einer linken Partei zur Diskussion vorzulegen.“ Einer Formulierung, der man – für sich genommen – nur zustimmen kann. Doch irgendwie scheint es noch einiges an Kleingedrucktem oder zwischen den Zeilen zu geben.

Denn die Deutung dieser Worte ist jetzt schon vielfältig: Das literarische Duett, Ramelow und  Ernst, prescht vor bei der Text-Interpretation:

  • „Linkspartei-Fraktionsvize Bodo Ramelow, der die Fusionsgespräche koordiniert, sagte der Saarbrücker Zeitung (Freitagausgabe), nach der Mitgliederbefragung habe der WASG- Vorstand jede Handhabe, ‚um die Berliner zum Rückzug von einer eigenständigen Landtagskandidatur zu zwingen, sie in die Schranken zu weisen oder einen neuen Landesverband zu gründen‘. Die den 12.000 Mitgliedern der WASG vorgelegte Fragestellung sei eindeutig und zielgerichtet auf die beabsichtigte Parteineubildung.“ Ironischerweise fügte er noch hinzu: „Für Interpretationen lässt das keinen Spielraum“ (beides aus: Saarbrücker Zeitung, 2. März 06).
  • Auch WASG-Chef Klaus Ernst äußerte gegenüber der Saarbrücker Zeitung (Freitagausgabe) die Erwartung, dass bei der bundesweiten Mitgliederbefragung eine klare Mehrheit für die Fusion stimmen werde. Zu Sanktionen gegen abtrünnige Landesverbände wollte Ernst sich nicht explizit äußern, meinte aber: ‚Der Schwanz darf auch nicht mit dem Hund wackeln‘. Das bundesweite Votum sei bindend für alle Landesverbände“ (Saarbrücker Zeitung, 2. März 06).  „‚Ich hoffe, dass das zu erwartende Ergebnis für die vernünftige Fortsetzung des Parteibildungsprozesses auch die Kräfte in der WASG zur Besinnung bringt, denen es zur Zeit Spaß macht, mit dem Bild der Zerrissenheit die Wähler zu vertreiben‘, sagte Ernst.“ (AP, 28. Februar)

Doch auch andere – näher am Text liegende – Deutungen sind möglich:

  • Ist die erwähnte „Einbeziehung von sozialen Bewegungen“ in den Neuformierungsprozess eine Absage an das Kooperationsabkommens III zwischen WASG-Bundesvorstand und L.PDS, das eine Einbeziehung anderer Kräfte im real stattfindenden Parteibildungsprozess vermeidet?
  • Ist eine „neue linke gesamtdeutsche Partei“ eine Absage an eine Fusion und eine Aussage für eine inhaltliche und organisatorische Neugründung?

Wie kam es zu so einer nichts- oder alles-sagenden Frage?

Am Anfang stand der Wille, das umstrittene Kooperationsabkommen III in der WASG durchzudrücken. Ohne Diskussion auf dem Länderrat oder in anderen Gremien der WASG (außer seiner selbst) setzte der WASG-Bundesvorstand seine Unterschrift unter ein Dokument, das

  • sich inhaltlich positiv auf des „Potsdamer Dreieck“ der L.PDS von „Demonstrieren – Mitregieren – Philosophieren“ bezieht: Die Regierungsbeteiligung der L.PDS, zum Beispiel in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wird faktisch akzeptiert.
  • konkurrierende Kandidaturen mit „nachdrücklicher“ Absicht vermeiden will. Die Unterordnung des „kleineren“ unter den „größeren“ – in Berlin: der WASG unter die L.PDS – wird festgeschrieben, ohne inhaltliche Diskussion.
  • die Einbeziehung von AktivistInnen aus Betrieben, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen nicht vorsieht.

Mit diesen Punkten soll der Weg frei gemacht werden für eine Fusion von L.PDS und WASG.

Dagegen regte sich Widerstand in der WASG. Auch durch die Debatte in Berlin kam es bundesweit zu einer Politisierung der Gespräche:

  • Gilt für die Neuformierung, was sich die WASG ins Gründungsprogramm schrieb, „An einer Regierung in Land oder Bund werden wir uns nur dann beteiligen, wenn dies zu einem grundlegenden Politikwechsel in Richtung unserer Forderungen führt„?
  • Akzeptieren wir die von der L.PDS in Berlin offensiv vertretene These, als kleineres Übel in Regierungen zu gehen, um „nicht flächendeckend Große Koalitionen [zu] erleben„. Stimmen wir nach Privatisierungen, Sozialabbau und Tarifflucht in Berlin der L.PDS zu, wenn sie in einer Presseerklärung schreibt: „Wir haben den politischen Willen, den konzeptionellen Vorlauf und die politischen Erfahrungen, auch Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das haben Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gezeigt. Das wollen wir fortsetzen und in Sachsen-Anhalt erreichen.“ (Presseerklärung nach einer L.PDS-Beratung der Landesvorsitzenden, Landesgeschäftsführer und Schatzmeister der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit dem Parteivorsitzenden Lothar Bisky und dem Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch vom 2. März)

Statt die Diskussionen vor und auf dem Bundesparteitag zu führen, soll dieser nun entwertet werden, durch eine Urabstimmung, die alle Fragen auf ein Ja-Nein-Schema reduziert. Das ist absurd.

Nach einer ausführlichen Debatte und den daraus abgeleiteten organisatorischen Schlussfolgerungen kann eine Urabstimmung Sinn machen und das Votum der Mitgliedschaft  abschließend einbeziehen. Vorher nicht.

Eine mögliche Fragestellung, nach der bundesweiten Diskussion, wurde von Edith Bartelmus-Scholich ins Gespräch gebracht und könnte vom Bundesparteitag auf den Weg gebracht werden: „Ich bin dafür, den Parteibildungsprozess zwischen WASG und Linkspartei unter Einbeziehung der sozialen Bewegungen fortzusetzen. Am Ende soll eine Neugründung einer linken gesamtdeutschen Partei stehen. Diese Partei soll die Interessen der arbeitenden und erwerbslosen Bevölkerungsmehrheit in den Parlamenten und außerparlamentarisch vertreten. Sie soll in Opposition zum herrschenden neoliberalen Paradigma stehen und sich insbesondere nicht an Angriffen auf die arbeitenden und erwerbslosen Menschen durch Sozialabbau, Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Güter beteiligen. Sie soll dem Demokratieabbau und der Militarisierung entgegen treten. Ich fordere den Bundesvorstand auf, die Voraussetzungen für eine Programm- und Satzungsdebatte in öffentlichen Foren, deren Ergebnisse zusammengetragen werden, zu schaffen und danach einen Programm- und Satzungsentwurf für die neue Partei vorzulegen.

Acht Landesverbände der WASG hatten sich aber gegen die Urabstimmung zum jetzigen Zeitpunkt gewandt. Das konnte die Landesvorstände in Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz allerdings, unterstützt vom Bundesvorstand, nicht weiter beeindrucken. Sie setzten einen Urabstimmung durch, die nichts klärt.

Den WASG-Mitgliedern bleibt die Möglichkeit, die Sinnlosigkeit dieser teuren und schein-demokratischen Abstimmung zu dokumentieren – mit einer Verweigerung beim simplen Ja-Nein und einer Einmischung in die Debatten.