Die Instabilität im Nahen Osten nimmt zu
Bei ihrer ersten Teilnahme an Parlamentswahlen bekam die Hamas 76 von 132 Sitzen, die bisher dominierende Fatah nur noch 43. Das war eine Abfuhr für die korrupte Fatah-Führung, die nichts gegen wirtschaftliche Not und israelische Unterdrückung ausrichtete.
von Wolfram Klein, Weil der Stadt
Jahrzehntelang hatte die Fatah und die seit Ende der sechziger Jahre von ihr dominierte PLO die palästinensische Politik beherrscht. In den neunziger Jahren hatten Arafat und die Hamas versucht, durch Friedensverhandlungen mit Israel einen Palästinenserstaat zu erreichen.
Friedensprozess – Was für ein Friedensprozess?
Die Oslo-Abkommen wurden im Westen bejubelt, für die Massen brachten sie weder in Israel noch Palästina etwas. Nach einem neuen UN-Bericht haben 30 Prozent in Westbank und Gaza zu wenig zu essen, weitere 40 Prozent nur knapp das nötigste. Die Hilfsgelder von EU und anderen Quellen landeten zu einem erheblichen Teil in den Taschen von Fatah-Führern. Wenn ein Teil des Geldes doch in den Aufbau von Infrastruktur floss, wurde ein erheblicher Teil durch die wiederholten israelischen Militäraktionen zerstört. Laut palästinensischem Roten Halbmond wurden fast 3.800 PalästinenserInnen seit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 getötet. Zwar räumte Israel Siedlungen im Gazastreifen, aber andere Siedlungen in der Westbank wurden ausgebaut. Israel baut einen Grenzzaun zur Westbank, der weitgehend auf palästinensischem Gebiet verläuft, BäuerInnen von ihren Feldern, Kinder von ihren Schulen, PatientInnen von ihren ÄrztInnen trennt. Die israelische Armee kontrolliert den Zugang zu den Palästinensergebieten und unterhält Hunderte von Kontrollposten zwischen palästinensischen Städten und Dörfern, die endlose Wartezeiten und schikanöse und demütigende Kontrollen zum Alltag machen. Israel kontrolliert die Wasser-, Strom- und Benzinversorgung und treibt Steuern und Zölle ein. Es ist kein Wunder, dass die Parteinahme des israelischen Staatsapparats für Fatah und gegen Hamas der Hamas Stimmen brachte.
Politik der Hamas
Das Wahlergebnis war auch Anerkennung für den bescheidenen Lebensstil vieler Hamas-Führer und für die Arbeit der von Hamas betriebenen Wohltätigkeitseinrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser. Viele haben die Hamas aus Protest gegen Fatah gewählt, nicht weil sie das reaktionäre Hamas-Ziel eines islamischen Staats oder die destruktive Hamas-Methode von Selbstmordattentaten gegen ZivilistInnen unterstützen würden. Aber unabhängig vom Willen der Hamas-WählerInnen ist zu befürchten, dass eine Hamas-Regierung mehr Unterdrückung für palästinensische Frauen oder GewerkschafterInnen oder überhaupt Opposition bedeutet. Gleichzeitig hat die Hamas seit den Kommunalwahlen vor einigen Monaten schon auf kommunaler Ebene Sozialabbau und Privatisierungen betrieben.
Die „linken“ Organisationen haben kaum von der Diskreditierung der Fatah profitiert. Früher unterstützten sie die nationalistische Politik der Fatah, statt konsequent für die Verbindung des nationalen Befreiungskampfes mit dem Klassenkampf (sowohl für den Sturz der pro-imperialistischen Regime in den arabischen Nachbarländern als auch für einen gemeinsamen Kampf mit den israelischen ArbeiterInnen) einzutreten. Der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten schwächte sie weiter.
Krisenhafte Entwicklung
Viele Faktoren destabilisieren die Lage im Nahen Osten: die Auseinandersetzungen zwischen dem iranischen Regime und dem Imperialismus der USA und der EU-Länder: der Konflikt mit Syrien wegen der angeblichen Verstrickung in den Mord an dem palästinensischen Politiker Hariri; der ununterbrochene Widerstand im Irak gegen die Besatzung; immer wieder neue Berichte über Folter in Abu Ghraib oder Guantanamo; die wochenlangen Proteste wegen der Mohammed-Karikaturen; die Umwälzung des israelischen Parteiensystems durch die Wahl von Amir Peretz zum Chef der Arbeitspartei, die Gründung der Kadima-Partei durch Scharon und Scharons Schlaganfall. Der Wahlsieg der Hamas stellt einen weiteren Instabilitätsfaktor dar.
Die kurzfristige Folge ist, dass die durch Amir Peretz entstandene Chance, dass im israelischen Wahlkampf soziale und Klassenfragen eine große Rolle spielen würden, wieder geringer wurde. In den ersten Umfragen in Israel nach dem Hamas-Wahlsieg legt der reaktionäre Likud zu und verlor die Arbeitspartei, Kadima blieb aber mit Abstand am stärksten. Mittelfristig stellt sich die Frage, ob der Imperialismus auf Konfrontation mit der neuen Hamas-Regierung setzt oder auf Einbindung. Schließlich hatten die Likud-Gründer und Scharon-Ziehväter Begin und Schamir ebenso eine „terroristische“ Vergangenheit wie Arafat oder der Palästinenserpräsident Abbas. Aber egal zu welchen Manövern sie greifen, lösen lassen sich die Probleme des Nahen Ostens auf kapitalistischer Grundlage nicht.