38,5 bleibt – jetzt streikts

klinikum Bericht aus Stuttgart über den Streik im öffentlichen Dienst


 

20.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes hatten sich am 5.12. in Baden Württemberg an einem Warnstreik beteiligt. Das war die Generalprobe. Seit heute, 6.2.06, läuft im Südwesten die Uraufführung eines unbefristeten Streiks gegen die Verlängerung der Arbeitszeit.

von Ursel Beck, Stuttgart

Laut Presseberichten haben in Baden Württemberg am ersten Streiktag insgesamt 10.000 städtische Beschäftigte die Arbeit niedergelegt. In der Landeshauptstadt gibt es mit Abstand die größte Beteiligung. 5.000 Streikende beteiligen sich an einer Demonstration durch die Innenstadt und einer Kundgebung vor dem Rathaus. Keine Strafzettel wird geschrieben, kein Müll wird weggeräumt, die Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft werden ausgesetzt. In den Kindertagesstätten und im Klinikum Stuttgart gibt es nur Notdienst. Der Winterdienst ist eingeschränkt. Die Müllwerker, Erzieherinnen, Krankenpfleger, die Verwaltungsangestellten, Reinigungsfrauen und Arbeiter aller Bereiche sind im Streik. Viele Azubis beteiligen sich am Ausstand.

„Wir wissen allein fürs Klinikum wären es 160 Stellen weniger, wenn die Arbeitszeit auf 40 Stunden erhöht wird“ So Dieter Janssen, SAV-Mitglied und Streikleiter am Bürgerhospital Stuttgart, bei einer Streikversammlung. „Und wir streiken nicht nur für unsere Arbeitsplätze, sondern auch für gute Arbeitsbedingungen, damit wir eine gute qualitative Patientenversorgung gewährleisten können.“

streik 120 Beschäftigte des Bürgerhospital demonstrieren nach einer Streikkundgebung über die Heilbronner Straße zum Katharinenhospital zu einer weiteren Zwischenkundgebung aller Beschäftigten des Klinikums. Unterwegs winken Kolleginnen und Kollegen aus den Bürogebäuden. Nicht mal die Chefs der IHK können verhindern, dass ihre Beschäftigten sich solidarisch an den Fenstern zeigen. „38,5 Stunden ist der Kompromiss – jede Minute länger ist ein Mist“, tönt es aus dem Megaphon. Am Glaspalast der LBWB öffnet sich ein Fenster. Jemand schwenkt eine ver.di-Fahne. LKW-und Autofahrer drücken aus Solidarität auf ihre Hupen. Vor dem Katharinenhospital berichtet Personalrat Volker Mörbe, dass alle OPs stillstehen und nur noch Notdienst gemacht wird. Auch in der Augenklinik, in der der Chefarzt ungeachtet der Streikankündigung Patienten einbestellt hat, läuft außer Notfällen nichts. Alle Berufsgruppen beteiligen sich am Streik. Mehrere Redner verweisen auf die stark gestiegene Arbeitsbelastung, die eine weitere Arbeitszeitverlängerung verbietet. Und so ver.di-Sekretärin Christina Ernst: „Es ist nicht nachvollziehbar, dass eine Krankenschwester 40 Stunden arbeiten soll, ihre Tochter arbeitslos ist und ihre Enkelin keinen Ausbildungsplatz findet.“

Im Anschluss an die Streikundgebung vor dem Katharinenhospital ziehen die Beschäftigten des Klinikums zusammen mit mehreren tausend Kolleginnen und Kollegen anderer städtischer Einrichtungen durch die Innenstadt vors Rathaus. Dort spricht die ver.di-Landesbezirksvorsitzende, Sybille Stamm: „Die Republik schaut heute auf uns, weil wir sind die Vorhut und wir müssen beweisen, dass wir kampfähig und streikfähig und durchsetzungsfähig sind. Und das werden wir tun.“ Müllwerker skandieren: „Schuster (OB) raus, Schuster raus“!

Auch die Behauptung der Arbeitgeber 18 Minuten seien eine Lapalie und zumutbar wurde an diesem Tag wiederholt gekontert. „18 Minuten sind 10 freie Tage im Jahr und hochgerechnet auf die Lebensarbeitszeit sind es 2 Jahre und wenn das Renteneintrittsalter auf 67 erhöht wird, dann sind wir bei 4 Jahren. Und wenn die Arbeitgeber meinen, das sei eine Lapalie, dann können sie auf die Arbeitszeiterhöhung verzichten.“ So Thomas Böhm, ver.di-Vorsitzender des Bezirks Stuttgart und Personalratsvorsitzender am Klinikum Stuttgart. Und weiter: „ Es wird uns gesagt, wir hätten einen sicheren Arbeitsplatz und deshalb hätten wir kein Recht zu streiken. In den letzten 10 Jahren wurden im öffentlichen Dienst aber mehr als 100.000 Arbeitsplätze abgebaut. Im Klinikum und in vielen anderen Bereichen werden alle Kolleginnen und Kollegen nur noch befristet eingestellt. Sind das sichere Arbeitsplätze? … Es wird gesagt, der Streik sei unverhältnismäßig, weil die Bevölkerung darunter leide, weil vielleicht eine Operation oder eine Behandlung verschoben werden muss. Kennen sie die Wartezeiten auf eine Knie- oder Hüftoperation in Stuttgart? Dort wartet man ein halbes oder ein dreiviertel Jahr auf eine Operation. Wissen sie wie lang man auf Kindergartenplätze warten muss? All das regt die Politiker nicht auf. Aber wenn wir im öffentlichen Dienst einen Tag streiken, dann weinen sie Krokodilstränen und sagen, die Patientenversorgung sei gefährdet. Der Dieb ruft: haltet den Dieb. Das lassen wir nicht zu.“. So, Thomas Böhm.

Auf Transparenten und in Reden wird die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung erhoben. In Gesprächen kommt immer wieder Skepsis gegenüber ver.di durch. „Ich guck mir das jetzt an. Aber was soll man davon halten, dass unsere eigene Gewerkschaft den Arbeitgebern Verhandlungen über die 40-Stunden-Woche angeboten hat?“, erklärt ein Kollege aus der Stadtverwaltung vor dem Gewerkschaftshaus. Die größte Unzufriedenheit herrscht bei den Müllwerkern, dem Rückgrat des Streiks. Sie hätten unheimlich viel verloren in den letzten Jahren, beklagen sie.Viele befürchten, dass am Ende des Kampfes wieder ein fauler Kompromiss gemacht wird. Der Streik wird auch zum Ventil, um gegen Verschlechterungen des neuen Tarifvetrags (TVöD) anzukämpfen. Im Klinikum werden Reinigungsfrauen bereits mit der Niedriglohngruppe für brutto 1.286 Euro eingestellt. Eine Kollegin hat ein Schild mit der Aufschrift „Mehr Lohn für Reinigungsfrauen. 1.286 € brutto = Armutslohn. Wir fordern 1.500 € Mindestlohn"