Rebellion gegen Konzernmacht & US-Imperialismus
Am 18. Dezember 2005 konnte Evo Morales, Führer der Koka-BäuerInnen und Vorsitzender der MAS (Bewegung zum Sozialismus), mit 51,1 Prozent der abgegebenen Stimmen die Präsidentschaftswahl in Bolivien für sich entscheiden. Er wird damit der erste indigene Präsident des Andenstaats. Diese Wahl ist nicht nur ein weiteres Signal für die zunehmende Radikalisierung und den Linksschwenk in Lateinamerika, sondern bildet auch den Beginn einer Reihe von elf wichtigen Wahlen, die 2006 in verschiedenen Staaten des Kontinents abgehalten werden.
von Tanja Niemeier
Bolivien ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas. 85 Prozent der Bevölkerung gehören den indigenen Volksgruppen Quechua (30 Prozent), Mestizos (30 Prozent) und Aymara (25 Prozent) an, die auch die große Mehrheit unter den Armen ausmachen. Morales bezeichnet sich selbst als „Alptraum der USA“ und steht unter großem Druck der bolivianischen Bevölkerung, die nationalen Gasreserven zu verstaatlichen.
Eine Niederlage für den Neoliberalismus
In den Armenvierteln der Landeshauptstadt La Paz, in der Großstadt El Alto und in weiteren Städten gab es lange Schlangen vor den Wahllokalen. Das Wahlergebnis zeigt aber, dass Morales ebenfalls in den Stadtteilen gut abschneiden konnte, die als Hochburgen seines ernsthaftesten Konkurrenten um das Präsidentenamt, den offen neoliberalen Jorge Quiroga, galten. Quiroga musste seine Niederlage schon vor Schließung der Wahllokale eingestehen. Nach bolivianischem Wahlgesetz ist der Kandidat direkt gewählt, der mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen kann (trifft dies auf keinen Kandidaten zu, bestimmt das Parlament, der Kongress, wem das Präsidentenamt zuteil wird).
Große Hoffnungen richten sich nun an Morales, radikale Maßnahmen gegen die Dominanz von Imperialismus und Neoliberalismus in Bolivien durchzuführen. Schließlich haben die Massen in der jüngeren Vergangenheit mehr als einmal Entschlossenheit und Widerstandskraft gezeigt, wenn es darum ging, Präsidenten zu stürzen, die sich den imperialistischen Interessen gebeugt haben. Bevor Interimspräsident Rodriguez im April 2005 ins Amt kam, äußerte dessen Vorgänger Carlos Mesa, er habe mehr Tage damit zugebracht, auf Proteste reagieren zu müssen, als an seinem Schreibtisch im Präsidentenbüro sitzen zu können. Mesa musste zurücktreten, weil er sich gegen die Verstaatlichung der bolivianischen Gasreserven, den zweitgrößten des ganzen Kontinents, stellte. Er fand sich permanent in der Zwickmühle wieder, den multinationalen Konzerninteressen genüge zu tun und gleichzeitig die Massen in Zaum zu halten.
Forderung nach Verstaatlichung
Auch während der Präsidentschaft von Evo Morales wird die Frage der Verstaatlichung der Gasvorkommen eine Schlüsselrolle einnehmen. Die Arbeiterklasse, die Armen, die Indigenen wollen den Wechsel und sie werden nicht geduldig warten. Vielmehr werden sie abermals gerüstet sein, wenn Morales davor zurückschrecken sollte, den Konflikt mit den Multis einzugehen.
Die Stimmung unter den streitbarsten und kämpferischsten Schichten der Arbeiterklasse wurde von einem bekannten bolivianischen Minenarbeiter eindringlich zusammengefasst, der, mit an seinem Helm befestigten Dynamitstangen, von der britischen Zeitung The Observer zitiert wurde: „Am 18. Dezember werden wir die Verräter zerreiben, die unsere Ressourcen verscherbelt und das Volk belogen haben. Morales ist unser Bruder und wir vertrauen ihm. Er sollte sich aber hüten, seine Versprechen nicht einzulösen.“
Welch massiver Druck Morales von der Bevölkerung entgegengebracht wird, zeigte sich bereits wenige Stunden nach der Wahl, als der einflussreiche bolivianische Gewerkschaftsbund COB der Regierung ein Ultimatum von drei Monaten stellte. Binnen dieses Zeitraums solle das Wahlprogramm ein schließlich der Verstaatlichung der Energievorkommen umgesetzt werden. Andernfalls komme es abermals zu massivem Protest auf den Straßen.
Die Lehrergewerkschaft drohte bereits mit Streiks, sollte die Regierung nicht innerhalb der nächsten zwei Monate 20-prozentige Lohnerhöhungen und einen Mindestlohn von 700 Dollar durchsetzen. Und noch kurz vor der Wahl warnte der Vorsitzende des Bauernverbands: „Wenn die neue Regierung nichts ändert, muss sie ebenfalls gehen – und das gilt auch für Evo.“ Zwar ist wenig eindeutig vorhersehbar in der Politik, allerdings kann als sicher an gesehen werden, dass Morales vom ersten Tag an unter enormen Druck stehen wird – und zwar von mehreren Seiten: Da sind einerseits die bo livianischen Massen und andererseits die Institutionen des Kapitals wie IWF und Weltbank sowie der US-Imperialismus.
Morales: Radikale Rhetorik…
Während Morales sich selbst als „Alptraum der USA“ bezeichnet, werfen diese ihm vor, ein Drogen-Terrorist zu sein (dieser Vorwurf bezieht sich auf seine Rolle als Führer der Koka-Bauern). Auf ähnliche Art und Weise gab ihm die rechtskonservative Presse den Beinamen „Osama bin Laden der Anden“. Er wurde Zweiter bei der Präsidentschaftswahl 2002 und hat seine politischen Wurzeln in den Kämpfen der Koka-Bauern. Im jüngsten Wahlkampf stellte Morales die Verstaatlichung der Gasreserven und die Legalisierung des Kokaanbaus in Aussicht. Zwar werden Kokablätter für eine ganze Reihe von Konsumgütern verwendet (alternativ zum hinlänglich bekannten Kokain sei an dieser Stelle nur die Herstellung des traditionell in Bolivien weit verbreiteten Koka-Tees genannt). Doch wenn es ihnen in den Kram passt, werden der US-Imperialismus und andere zweifellos die Legalisierung des Kokaanbaus benutzen, um Morales zu diskreditieren und zu „enthüllen“, dass er nur den Kokainhandel fördern wolle.
Zweifelsohne hat Morales eine radikale Rhetorik übernommen. Er sprach bereits davon, dass „die Bevölkerung (…) letztendlich die Macht inne“ habe. Auch machte er deutlich, dass die „MAS (…) die Macht mittels der Wahlurne übernehmen wird. Wenn die korrupten Eliten die Wahlen jedoch nicht garantieren können, wird es einen bewaffneten Aufstand geben, eine Erhebung, die das Volk befreien wird.“ Bezug nehmend auf IWF und Weltbank bemerkte er: „Wenn sie uns unterstützen wollen, müssen sie dies ohne Vorbedingungen tun. Lasst sie zuerst die Auslandsschulden streichen. Die Armen haben keinen Bedarf, die Schulden der korrupten Eliten zu begleichen.“
Am Tag seines Sieges sandte er eine Warnung Richtung Washington, wonach er Verbindungen mit den USA zwar wünsche, jedoch keine „Beziehung durch Unterwürfigkeit“. Seine radikale Wortwahl hat bei der Arbeiterklasse, den Bauern und Armen Gehör gefunden. Massenhaft sind sie für Morales auf die Straße gegangen und haben auch seinen Sieg gefeiert. Nichtsdestotrotz sind Morales´ Äußerungen allzu oft unklar und suggerieren, dass ein Konsens aller Teile der Gesellschaft innerhalb der kapitalistischen Ordnung möglich wäre. So sprach er kürzlich zum Beispiel von einem faireren Handel, den die multinationalen Konzerne mit den BolivianerInnen treiben sollten.
…und gemäßigte Praxis
In der Vergangenheit nutzte Morales seine Stellung und Autorität als Führer der Koka-BäuerInnen, um die Wut der Armen und die bewaffneten Aufstände in für den Imperialismus sichere Bahnen zu lenken. Während des „Gas-Kriegs“ 2003 kam es zu einer Revolte durch die Arbeiterklasse in El Alto (mit rund 775.000 EinwohnerInnen drittgrößte Stadt des Landes). Morales unterstützte hierbei den Vorschlag des folgenden Präsidenten Mesa, eine konstitutionelle Versammlung einzuberufen, die klären sollte, ob die Verfassung in puncto Eigentumsrechte über die Gasvorkommen des Landes neu geschrieben werden müsste. Dies war der eindeutige Versuch Mesas, Zeit zu gewinnen und das revolutionäre Potenzial des Aufstands im Keim zu ersticken. Im Endeffekt wurden nur die Interessen der multinationalen Konzerne bedient.
Der Aufstand in El Alto
Der Aufstand vom Mai/Juni 2005, während dessen die Arbeiterklasse in El Alto zeitweise die Macht übernommen hatte und die Stadt regierte, war bezeichnend: Hätte sich diese Entwicklung über das ganze Land ausgebreitet, wäre die Basis dafür geschaffen worden, die Rohstoffe zu verstaatlichen. Mit einer korrekten Führung wäre dies der Beginn gewesen, die Ketten des Imperialismus, an denen Bolivien gefesselt ist, zu sprengen. Dieser Aufstand hatte einen elektrisierenden und radikalisierenden Effekt auf die Massen, Mitglieder und AnhängerInnen der MAS eingeschlossen. In Worten war Morales auch diesmal für Verstaatlichung. Tatsächlich unterstützte er aber das Referendum, das über die Zukunft der Rohstoffausbeutung Klarheit schaffen sollte. Am Ende gab es bei dem besagten Referendum gar nicht erst die Möglichkeit, für Verstaatlichung stimmen zu können. Die radikale Stimmung konnte keinen Ausdruck finden. Die Energien der Massen verpufften wieder einmal ungenutzt.
„Wasser- und Gas-Kriege“
Seit dem Fall der Berliner Mauer ist Bolivien ein Versuchslabor für neoliberale Politik und Privatisierung. Zehntausende Arbeitsplätze wurden bereits davor, durch die Schließung zahlreicher Zinnminen im Jahre 1985, vernichtet. Breite Auseinandersetzungen brachen dann los, als die Privatisierung der Wasserversorgung und der Gasreserven anstand. Im Jahr 2000 wurde der „Wasser-Krieg“ ein Begriff, der mit einem Sieg für die unterdrückten Massen endete und 2003 entwickelte sich der bereits erwähnte sogenannte „Gas-Krieg“.
Bolivien ist ein Land großer Gegensätze. Seine Entwicklung steht beispielhaft für Länder, die förmlich an der Kette liegen und durch Kapitalismus und Imperialismus ausgebeutet werden. Reich an natürlichen Ressourcen, die sich in der Hand multinationaler Konzerne befinden, während gleichzeitig die Mehrheit der Bevölkerung in verheerender Armut leben muss. Die krasse Ungerechtigkeit in Bolivien wird noch dadurch verstärkt, dass die alt eingesessene Bevölkerung, die sogenannten Indigenas, die die Bevölkerungsmehrheit ausmachen, am stärksten von der Armut betroffen ist.
Arbeiterbewegung und sozialistische Traditionen
Ungleichheit in der Vermögensverteilung sowie die brutale Vorherrschaft des US-Imperialismus sind so fest verankert, dass die bolivianischen Massen bereits eine Tradition von Kämpfen entwickelt haben. Die Zinn verarbeitende Industrie hat den Grundstock für eine radikale und kämpferische Gewerkschaftsbewegung und eine organisierte Arbeiterklasse gelegt. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern hat Bolivien keine Tradition starker Guerilla-Bewegungen, sondern blickt vielmehr auf starke und kämpferische Gewerkschafts- und Arbeiterbewegungen zurück. Sozialistische Meinungen sind schon lange im Bewusstsein der Arbeiterklasse verankert. Trotz der Schließung der Mehrzahl der Zinnminen ist die COB, der bolivianische Gewerschaftsbund, immer noch die mächtigste Organisation der Arbeiterklasse, die eine wichtige Rolle in den Kämpfen der letzten Jahre spielte.
Diese reichhaltigen Kampferfahrungen sind ein großer Vorteil. Die Arbeiterklasse und die verarmten Massen sind sich darüber im Klaren, dass sie für das kämpfen zu müssen, was sie benötigen.
Soziale Sprengsätze
Die Wahl Evo Morales’ wird nicht für Ruhe und Stabilität im Sinne der Herrschenden sorgen, sondern widerspiegelt vielmehr die zunehmende Radikalisierung auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Unglücklicherweise hat Morales kein klares Programm, um mit Kapitalismus und Imperialismus zu brechen. Ohne Zweifel lässt diese Tatsache Raum für mögliche Versuche seitens des US-Imperialismus, speziell die Person Morales zu korrumpieren und ihn einzubinden, wenn es darum geht, die Kämpfe der Arbeiterklasse und der verarmten Bevölkerung zu verraten. Es ist möglich, dass Morales den „brasilianischen Weg“ einschlägt und wie der dortige Präsident Lula zu einem verlässlichen Partner des US-Imperialismus in Lateinamerika wird. Sollte dies geschehen, würde das massive soziale Proteste hervorrufen.
Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass Morales unter dem Druck von unten und angesichts der sozialen Krise weiter nach links geht. Insbesondere zu Chávez in Venezuela und Castro in Kuba könnte er seine Verbindungen verstärken.
Bisher kann es keine Garantie für die eine oder andere Variante geben. Der US-Imperialismus ist auf jeden Fall beunruhigt über die Entwicklungen in Lateinamerika. Man ist sich der Tatsache bewusst, dass die bolivianische Arbeiterklasse und die Armen kampf-erprobt sind. Das Weiße Haus würde bis zum Äußersten gehen, um die Bewegung zu kontrollieren.
Welche Zukunft für die Linke in Lateinamerika?
In nächster Zeit werden die Repräsentanten des US-Imperialismus versuchen, Morales direkt zu bestechen, indem ökonomischer Einfluss auf andere lateinamerikanische Regierungspolitiker geltend gemacht wird, um Morales unter Druck zu setzen. Die Bush-Regierung sieht sich der Gefahr gegenüber, den Halt in Bolivien, möglicherweise in ganz Lateinamerika zu verlieren.
Mit Sicherheit werden die Herrschenden sich darum bemühen, Spannungen zwischen dem rohstoffreichen Osten und dem verarmten Westen Boliviens zu schüren und zu intensivieren. Schon jetzt pocht die Region um Santa Cruz verstärkt auf größere Autonomie, um den 30-prozentigen Anteil an der gesamten Landesproduktion in größerer Eigenständigkeit ausnutzen zu können. Ein Bürgerkrieg war schon in den Nachwehen der Revolte von El Alto im Jahr 2003 nicht ausgeschlossen und die Gefahr ist bis heute nicht gänzlich gebannt.
Notwendigkeit einer revolutionär-sozialistischen Massenpartei
Um die Hoffnungen der Arbeiterklasse und der benachteiligten Teile der Gesellschaft zu erfüllen und um die Massen zu vereinen und so einen weiteren Ausverkauf des Landes oder gar einen Bürgerkrieg zu vereiteln, ist eine revolutionär-sozialistische Massenpartei in Bolivien nötig, die am Arbeitsplatz und in den Stadtteilen verankert ist. Diese Partei muss die Herrschaft des Imperialismus und des Kapitalismus herausfordern und für einen Bruch der Konzernmacht eintreten. Sie müsste eine Kampagne für die augenblickliche Verstaatlichung der Gasvorkommen und weiterer Schlüsselindustrien in Gang setzen.
Dies könnte der Anfang sein, in Bolivien gegen die Dominanz nicht nur des Neoliberalismus, sondern des Kapitalismus und Imperialismus insgesamt – erfolgreich – vorzugehen. Das wäre wiederum beispielgebend und könnte ein Signal für den ganzen Kontinent sein, den Weg zu einer sozialistischen Föderation Lateinamerikas einzuschlagen.
Tanja Niemeier arbeitet im Internationalen Büro des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) in London
„Wir brauchen ein neues Modell – und dieses Modell heißt Sozialismus“
„In einem kahlen Gewerkschaftslokal in der oberhalb von La Paz gelegenen Elendsstadt El Alto sitzt schweigend eine Gruppe Bäuerinnen. Sie sind gekleidet in der traditionellen Tracht der bolivianischen Ureinwohnerinnen: mehrere übereinander getragene farbige Röcke, Halstücher aus Vikunjahaar, schwarze Melonen als Kopfbedeckung. Auf der Bühne spricht eine junge Indiofrau langsam und mit heller Stimme ins Mikrofon. ‘Schwestern, der Neoliberalismus ist gescheitert. Wir brauchen ein neues Modell, und dieses Modell heißt Sozialismus. Die Armut muss ein Ende haben. Die Ausbeutung muss ein Ende haben. Nicht nur hier in Bolivien. In ganz Lateinamerika." Tagesspiegel vom 20. November 2005
Marxismus Heute: Die Theorie der permanenten Revolution
1905 entwickelte der russische Revolutionär Leo Trotzki eine eigene Theorie über die Perspektiven der Revolution im damaligen zaristischen Russland. Eine Theorie, die ein Schlüssel zum Erfolg der Bolschewiki im Revolutionsjahr 1917 werden sollte. Eine Theorie, die auch heute, hundert Jahre später, relevant ist – nicht zuletzt für Bolivien und Lateinamerika.
von Wolfram Klein, Weil der Stadt
Trotzki erklärte seinerzeit, dass eine bürgerliche Revolution nach dem Vorbild der Französischen Revolution 1789 nicht möglich sei. In Russland war der Kapitalismus zwar schwach, aber er hatte die neueste westliche Technologie importiert. LohnarbeiterInnen bildeten eine kleine Minderheit, aber unter ihnen war der Anteil der Beschäftigten in Großbetrieben viel höher als in England oder Deutschland. Das Bürgertum fürchtete sich vor dieser Arbeiterklasse. Auf der anderen Seite waren seine Interessen mit dem Zarismus und dem Großgrundbesitz eng verflochten.
Es war utopisch, dass das Bürgertum Russlands eine Revolution gegen den Zarismus führen würde. Lenin und die Bolschewiki setzten deshalb auf ein revolutionäres Bündnis zwischen ArbeiterInnen und BäuerInnen. Trotzki stimmte dem zu, ging aber noch einen Schritt weiter. Die Bauernschaft ist über das Land verstreut und nicht in der Lage, eine selbständige politische Rolle zu spielen. Entweder wird sie dem Bürgertum oder der Arbeiterklasse folgen. In dem Bündnis zwischen ArbeiterInnen und BäuerInnen müssen deshalb die ArbeiterInnen die Führung inne haben, wenn Arbeiterklasse und Bauernschaft nicht im Schlepptau des jede revolutionäre Veränderung ablehnende Bürgertums gefangen sein sollen. Um diese führende Rolle spielen zu können, müssen sich die ArbeiterInnen in einer revolutionären Partei organisieren.
Im doppelten Sinn permanent
Im rückständigen Russland mussten damals noch viele Probleme gelöst werden, die zum Beispiel in Frankreich die bürgerliche Revolution lösen konnte: eine Agrarrevolution, die den Großgrundbesitz zerschlägt und das Land den BäuerInnen gibt; die Lösung der nationalen Frage; überhaupt demokratische Rechte für die arbeitende Bevölkerung. Trotzki sagte voraus, dass eine revolutionäre Arbeiterregierung, die sich auf die Bauernschaft stützte, diese Probleme angehen kann. Gleichzeitig meinte er, dass sie aber nicht bei ihnen stehen bleiben könnte. Es wäre unvorstellbar, dass sie bei Konflikten zwischen Unternehmern und ihren Beschäftigten neutral wäre oder gar für die Unternehmer Partei ergriffe, wie das bei kapitalistischen Regierungen üblich ist. Durch die Dynamik des Klassenkampfes würde sie zu Eingriffen in die kapitalistischen Eigentumsrechte gezwungen sein, die dem Kapitalismus ein Ende machen würden. Eine Revolution also, die in dem Sinne permanent sein muss, dass die Lösung der demokratischen Aufgaben fließend in die sozialistische Revolution übergeht.
Die Revolution ist noch in einem zweiten Sinne permanent. Sie darf nicht in einem Land isoliert bleiben, weil sie sonst unweigerlich in einer Niederlage enden muss, sondern muss sich international ausdehnen, vor allem auch die fortgeschrittenen Industrieländer erfassen. Parallel dazu könnte die Arbeiterregierung innerhalb des Landes die materiellen Voraussetzungen für eine sozialistische Gesellschaft schaffen.
Diese Theorie wurde durch die Russische Revolution von 1917 glänzend bestätigt. Die bürgerlichen und die Koalitions-Regierungen in den ersten Monaten nach der Februarrevolution waren zu einfachsten demokratischen Reformen unfähig. Erst mit der Oktoberrevolution wurde unter der Führung von Lenin und Trotzki mit der Lösung der demokratischen Aufgaben der Revolution begonnen. Aber schon in den folgenden Monaten wurde der Großteil der Privatindustrie enteignet, viel schneller als die Bolschewiki beabsichtigt hatten, weil der Gegensatz zwischen ArbeiterInnen und Kapitalisten keine Zwischenlösungen zuließ.
Dagegen scheiterte die internationale Ausdehnung der Revolution. Es gab zwar in Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien und anders-wo Revolutionen, aber entgegen den Erwartungen der ArbeiterInnen sorgten die sozialdemokratischen Parteiführer dafür, dass der Kapitalismus gerettet wurde. Russland blieb isoliert und der Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ war in der Tat nicht möglich.
Einige Jahre später kam Trotzki zu dem Schluss, dass seine Theorie auch auf andere rückständige Länder wie China oder Lateinamerika anwendbar ist. Allerdings gab es in keinem weiteren Land eine ähnlich erfolgreiche Revolution. In Russland kam wegen der Isolation der Revolution eine privilegierte Bürokratenkaste unter Stalin an die Macht. Sie präsentierten sich als Erben der Oktoberrevolution und mit dieser Autorität zwangen sie den Kommunistischen Parteien anderer Länder eine Politik auf, mit der die Oktoberrevolution nie erreichbar gewesen wäre.
Und heute?
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg konnte es scheinen, dass die Theorie der permanenten Revolution veraltet sei. Auch viele kapitalistische Regierungen in der „Dritten Welt“ konnten, indem sie den Konflikt zwischen dem US-Imperialismus und der stalinistischen Sowjetunion ausnutzten, Zugeständnisse erlangen. Das führte teilweise zu relativ weitgehenden Reformen (Agrarreformen, Verstaatlichungen, Aufbau nationaler Industrien durch Abschottung vom Weltmarkt). Aber erstens waren diese Reformen nur Nebenprodukte von Revolutionen (zum Beispiel der bolivianischen Revolution von 1952) oder der Angst vor Revolutionen. Zweitens ist seit den achtziger Jahren mit der Krise und dann dem Zusammenbruch des Stalinismus in der Sowjetunion und Osteuropa dieser Spielraum wieder verschwunden.
Der Bruch der Wahlversprechen der Lula-Regierung in Brasilien bezüglich der Agrarreform zeigt, wie wenig selbst in diesem Land mit seinem riesigen Gegensatz zwischen Großgrundbesitzern und landlosen BäuerInnen auf Reformen im Rahmen des Kapitalismus zu hoffen ist. Aber selbst in Ländern, in denen es radikale Agrarreformen gab, schwingt das Pendel wieder zurück. Die Abhängigkeit von IWF, Weltbank, multinationalen Banken oder Saatgutkonzernen ist nicht weniger drückend als die von den früheren Großgrundbesitzern. Internationale Handelsabkommen liefern das Land der BäuerInnen neuen Großgrundbesitzern aus. (Der Zapatistenaufstand in Mexiko war die Antwort auf das Inkrafttreten der NAFTA-Freihandelszone zwischen den USA, Kanada und Mexiko, das genau diese Wirkung hatte).
Zwar besteht heute in den meisten Ländern der „Dritten Welt“ auf dem Papier Demokratie, aber die existiert fast nur darin, alle paar Jahre Leute zu wählen, die im Wahlkampf das Blaue vom Himmel versprechen, nach den Wahlen das Gegenteil tun und nach den nächsten Wahlen oder nach einem Aufstand abhauen – dem von ihnen veruntreuten Geld hinterher.
Die objektiven Bedingungen für die permanente Revolution sind nicht nur reif, sondern überreif. Als Trotzki die Theorie entwickelte, waren fast alle russischen Arbeiter ehemalige Bauern oder Bauernsöhne. Heute sind viele bolivianische Bauern ehemalige Bergarbeiter, die Mitte der Achtziger gefeuert wurden.
Was in Ländern wie Bolivien heute fehlt, ist die subjektive Voraussetzung: eine revolutionär-sozialistische Partei, die in der Arbeiterklasse verankert ist und die Forderungen der BäuerInnen aufgreift und sie davon überzeugt, dass nur im Bündnis mit den ArbeiterInnen ihre Forderungen verwirklicht werden können.