Brasilien: 100.000 Dollar in der Unterhose

Gespräch mit André Ferrari, Mitglied im nationalen Vorstand der P-SOL, über die Lula-Regierung und die neue Partei Sozialismus und Freiheit
 

1980 war unter dem Führer der Metallarbeitergewerkschaft, Lula, in Brasilien die Arbeiterpartei (PT) gegründet worden. In dieser Zeit, zwischen 1976 und 1985, herrschte eine Militärdiktatur, die PT musste im Untergrund aufgebaut werden. 2002 wurde Lula zum Präsidenten gewählt. Die Politik Lulas seitdem ist durch und durch neoliberal.
Inzwischen entwickelt sich unter der PT-Regierung antikapitalistische Opposition: Die P-SOL liegt nach Umfragen bei acht Millionen Stimmen.

Stephan Kimmerle sprach für die Solidarität mit André Ferrari, Mitglied im nationalen Vorstand der P-SOL und Aktivist von Socialismo Revolucionario, der Schwesterorganisation der SAV.

Lateinamerika war international das erste Versuchsfeld des Neoliberalismus. Wie sieht dessen Bilanz aus?

Die könnte nicht katastrophaler ausfallen. Anfang der neunziger Jahre gab es eine Phase, in der gewisse Illusionen verbreitet waren, es könnte eine Stabilisierung der Haushaltslage und der wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt geben. Die Hoffnung also, dass die Sparpakete und die diversen Runden der “Haushaltskonsolidierung” einen gewissen Sinn machen würden. In Brasilien war das, als Cardoso Mitte der Neunziger die Hyperinflation stoppte.

Aber das hielt nur kurze Zeit. Die weiteren Auswirkungen der neoliberalen Politik zeigten sich zu klar: Der Lebensstandard sank, der soziale Bereich wurde zusammengekürzt. Spätestens mit den Auswirkungen der Südostasien-Krise auf Lateinamerika zog der Großteil der Bevölkerung das Fazit: Der Neoliberalismus ist gescheitert.

Die Präsidenten in Lateinamerika, die vor zehn, 15 Jahren für neoliberale Politik standen, wurden abgewählt, einer nach dem anderen. Die Mehrheit sucht verzweifelt nach einer Alternative zum Neoliberalismus.

Als Reaktion darauf wurden linkere Regierungen ins Amt gebracht, zum Beispiel Lula in Brasilien. 2006 will er wiedergewählt werden. Was brachte Lulas Regierung?

Lula da Silva wurde 2002 von 53 Millionen (in einem Land von 180 Millionen Menschen) gewählt, um die Politik von Cardoso zu beenden. Das war der Grund, warum er die Wahl gewonnen hat. Kein anderer. Aber die Bilanz nach drei Jahren sieht so aus: Nichts Grundlegendes ist unter Lula in diese Richtung geschehen. Stattdessen setzte er die neoliberale Politik fort.

Eines der Projekte der Lula Regierung war zum Beispiel die „Rentenreform“. Die Renten wurden gekürzt, Anreize zur Privatisierung der Rentenversorgung geschaffen. Genau damit war die Regierung Cardoso noch gescheitert. Mit einer „Universitäts-Reform“ werden jetzt öffentliche Gelder verwendet, um private Unis zu finanzieren.

Die gesamte Wirtschaftspolitik ist den Interessen des Kapitals untergeordnet: Kürzungen werden durchgezogen, um die Auslandsschulden zu bedienen. Allein 2005 wurden 70 Milliarden US-Dollar an Tilgungen und Schuldendiensten bezahlt – und gleichzeitig die Sozialausgaben gekürzt.

Lula wurde auch mit der Unterstützung von GewerkschafterInnen und der Landlosenbewegung gewählt. Welche Unterstützung genießt Lula noch?

Die Landlosenbewegung, MST, moblisierte vor der letzten Wahl für Lula. Jetzt sagt sie klar: Lula hat seine Versprechungen nicht gehalten. Die MST forderte, einer Million Familien Land zur Verfügung zu stellen. Die Regierung hat diese Forderung abgelehnt, aber versprochen, 400.000 Familien mit Land zu versorgen. Aber auch von diesem selbst gesteckten Ziel ist Lula meilenweit entfernt: Nicht einmal die Hälfte wird erreicht.

Auch der Gewerkschaftsdachverband, CUT, warb für Lula. Der ganze Dachverband wurde mittlerweile zum Transmissionsriemen für die PT-Regierung. Während die Gewerkschaftsbasis eine kritische Haltung einnimmt, folgt die Führung beinahe blind der Regierung. Beispiel Rentenreform: Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst streikten gegen die Angriffe, 100.000 folgten dem Ausstand. Doch die CUT-Führung unterstützte Lula und der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes wurde Lulas Arbeitsminister.

Heftige Korruptionsaffären erschüttern mittlerweile die PT. Alle sollen irgendwie Dreck am Stecken haben – alle, außer Lula…

Im Prinzip ist es unmöglich, zu argumentieren, dass Lula damit nichts zu tun hat. Die frühere Führung der PT war komplett in Korruptionsfälle verstrickt. Lulas rechte Hand war direkt beteiligt und dessen Parlamentsmandat wurde aufgehoben. Der Vize-Präsident bekam eine Million Real und leitete das Geld in dunkle Kanäle. Der Generalsekretär der PT erhielt von einer Bank einen Land Rover geschenkt. Angeblich waren alle beteiligt – nur Lula sagt, er wusste nichts davon.

Interessant ist die Reaktion der rechten Parteien: Sie greifen Lula gar nicht frontal an. Sie wollen verhindern, das durch eine Demontage Lulas seine Wirtschaftspolitik in Frage gestellt wird.

Der Vorteil Lulas ist, dass seine Politik im Parlament unwidersprochen bleibt. Auch die PSDB (Sozialdemokratie) ist nur eine fiktive Opposition. Die P-SOL (Partei Sozialismus und Freiheit) versucht hier, eine starke, linke Opposition aufzubauen und in dieses Vakuum vorzustoßen.

Die Korruption ist aber ein zentrales Thema der Kritik an der PT.

Dazu ein Beispiel: Ein Funktionär der PT aus der Provinz Ceará, einem Staat im Norden, wurde mit 100.000 US-Dollar erwischt – das Geld steckte in seiner Unterhose. Er war auch der Berater des Bruders des Präsidenten der PT. Auf die Frage, was er mit dem Geld vorhabe, sagte er, er betreibe in Ceará Landwirtschaft und habe seine Produkte in Sao Paolo verkauft.

Danach wurden bei Demos Unterhosen über den Hosen getragen, um auf die Korruption hinzuweisen. Bei einem Streik im öffentlichen Dienst argumentierten die Beschäftigten auch: Solange Ihr Geld für Korruption habt, muss auch Geld für unsere Löhne da sein.
Natürlich sind aber nicht alle Fälle so witzig. Müllfirmen schmieren zum Beispiel die Kommunen. Auch die PT bekam Geld von Firmen der Abfallwirtschaft. Zunächst wurden solche Gelder noch genommen, um Wahlkämpfe zu finanzieren; später lief diese Praxis aus dem Ruder und wurde zur Quelle privater Bereicherung. In zwei Städten haben PT-Bürgermeister versucht, die Schmiergeldzahlungen wenigstens zu begrenzen. Diese Bürgermeister von San Andre und Campinas wurden beide erschossen.

Am 3. Oktober 2006 sind nun die Wahlen. Wie wird sich die P-SOL dazu positionieren?

Wir setzen alles daran, eine linke Kandidatur gegen Lula und die rechten Parteien auf die Beine zu stellen. Von uns, der P-SOL, ging die Initiative aus, ein „Soziales Bündnis der Linken und der Arbeiter“ zu bilden, um bei der Wahl und bei sozialen Protesten mit der KP (Kommunistische Partei) und der PSTU (einer sozialistischen Partei) sowie sozialen Bewegungen zusammen zu arbeiten.

Sehr wahrscheinlich wird Helena Heloisa die Kandidatin des Bündnisses um die Präsidentschaft. Sie stand als Abgeordnete schon früh gegen Lulas Politik auf, wurde dafür aus der PT ausgeschlossen und war eine der GründerInnen der P-SOL. Der Parteikongress der P-SOL, voraussichtlich im März, soll die entscheidenden Weichen dafür stellen.

Die P-SOL hat 800.000 Unterschriften gesammelt, um als Partei offiziell zugelassen zu werden. Wie stark ist die P-SOL, wie seid Ihr für die kommenden Anstrengungen gerüstet?

Nach Umfragen liegen wir bei fünf bis sechs Prozent, sollte Helena Heloisa für die P-SOL als Präsidentschaftskandidatin gegen Lula antreten. Das sind acht Millionen Stimmen. Trotzdem ist die P-SOL nach wie vor eher noch in einer Formierungsphase. Die Parteistrukturen und -gruppen werden erst aufgebaut. Es gibt keine offiziellen Zahlen über die Mitgliedschaft, geschätzt sind es 5.000 – aber es sind viel mehr Leute erreichbar.

In Sao Paolo ist die P-SOL viel besser organisiert als anderswo. Im Bundesstaat San Paolo gibt es 40 Gruppen und 30 Netzwerke, so heißen losere Verbindungen in der Vorbereitung von Gruppen.

Was für ein Programm hat die P-SOL?

Das Gründungsprogramm nimmt einen klaren Klassenstandpunkt ein. Es ist antiimperialistisch, antikapitalistisch und beinhaltet Sozialismus als Perspektive. Dazu greift es Forderungen nach der Rückverstaatlichung privatisierter Bereiche auf, fordert die Verstaatlichung der großen Konzerne der Schlüsselindustrien, den Stopp der Zahlungen der Auslandsschulden. Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen und ein Investitionsprogramm stehen neben Forderungen nach Geldern für Bildung und Gesundheit sowie einer Agrarreform. Wir wehren uns gegen Frauenfeindlichkeit und Rassismus sowie gegen die Diskriminierung jeglicher Minderheiten.

Du bist Mitglied von Socialismo Revolucionario (SR), der brasilianischen Schwesterorganisation der SAV. Bei diesem Programm der P-SOL – wofür braucht es da noch eine eigene Organisation?

Die P-SOL ist der Versuch, die sozialistische Linke neu zu formieren und aufzubauen, nachdem ArbeiterInnen und soziale Bewegungen die PT als ihr Instrument verloren haben. Die P-SOL ist also politisch ein breiteres Projekt und ist ein großer Fortschritt, obwohl die Frage, wie wir eine sozialistische Gesellschaft erreichen können, noch nicht ausdiskutiert oder für die P-SOL beantwortet ist.

Es gibt in der P-SOL eine große Vielfalt und Heterogenität. Verschiedene Strömungen und Traditionen mit unterschiedlichen Meinungen kommen hier zusammen.

Für SR ist entscheidend, am Wiederaufbau einer Partei für ArbeiterInnen und Jugendliche mitzuwirken. Wir, die SR, sehen unsere Aufgabe darüberhinaus darin, als revolutionäre Kraft die Ideen des Marxismus zur Umgestaltung der Gesellschaft voran zu treiben und die P-SOL in die Lage zu versetzen, eine Strategie zu entwickeln, wie eine andere Gesellschaft erreichbar wird.

SR sieht die Notwendigkeit, das Programm der P-SOL auf die konkreten Bedingungen in Brasilien anzuwenden und ein Aktionsprogramm zu entwickeln.

Es gibt auch reformistische Kräfte in der P-SOL, die dafür eintreten, das Programm zu verwässern. Wir halten dagegen und setzen uns dafür ein, konkrete Kämpfe um Verbesserungen oder Wahlkampagnen mit dem Kampf um Sozialismus zu verbinden.
ArbeiterInnen und Jugendliche stehen heute, nachdem die PT verloren ging, ohne Massenpartei da, um ihre Interessen zu verteidigen. Da wäre es ein Fehler von uns, nur auf uns, SR, zu schauen. Beim Aufbau der P-SOL müssen aber auch die Lehren der Entwicklung der PT gezogen werden. Ein marxistischer Pol ist nötig.