Hintergrund des russisch-ukrainischen Gas-Konfliktes
Mit der Unterbrechung der Lieferung von Gas aus Russland in die Ukraine erreichte der schon seit langem bestehende Konflikt der beiden Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion am 1. Januar einen vorläufigen Höhepunkt. Putin hatte den Gashahn zugedreht, nachdem die ukrainische Regierung sich weigerte, eine vom russischen Staatsunternehmen Gasprom geplante Verfünfachung des Preises und damit über Nacht den Weltmarktpreis zu zahlen.
von Marcus Hesse, Aachen
Am 4. Januar kam es zu einer Einigung. Gasprom nimmt seine Lieferungen an die Ukraine wieder auf und verkauft Gas an die Handelsgesellschaft Rosukrenergo. Über diese soll Kiew das Gas dann für 95 Dollar (also teurer als bisher, aber nicht die angedrohten 230 Dollar) pro 1.000 Kubikmeter erwerben.
Gleichzeitig beschuldigt Russland die Ukraine, illegal Gas von russischen Pipelines angezapft zu haben. Regierungschef Juschtschenko kreidet Putin hingegen an, mit seinem Vorgehen bei der anstehenden Parlamentswahl im März Russlands Kandidaten Janukowitsch Schützenhilfe zu leisten. Da die Ost-Ukraine ökonomisch mit Russland verflochten ist und einen großen russischstämmigen Bevölkerungsanteil hat, könnten sich die Konflikte innerhalb der Ukraine verschärfen.
Die Brisanz bleibt: Der ukrainische Gasverbrauch wird immerhin zu einem Viertel aus Russland importiert. Die wichtigsten Exportleitungen für russisches Erdgas nach Mittel- und Osteuropa laufen durch die Ukraine. Die Ostsee-Pipeline, die von Russland direkt nach Deutschland verläuft, wird erst 2010 fertiggestellt sein.
Kapitalistische Cliquen in den Staaten der Ex-Sowjetunion
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen in den Teilrepubliken Cliquen an die Macht, die das Staatseigentum plünderten, privatisierten und eine eigene Machtbasis aufbauten. Diese setzten sich aus Vertretern der einstigen stalinistischen Bürokratie zusammen, zu ihnen stießen aber auch kapitalistische Neureiche. Um ihre Positionen zu stärken, bedienen sie sich zunehmend des Nationalismus.
In allen Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion hat die Wiedereinführung des Kapitalismus katastrophale soziale Folgen hervorgebracht. So ist die Lebenserwartung im Schnitt um zehn Jahre gesunken.
Russlands imperialistische Ambitionen
In den letzten 15 Jahren hatte es des öfteren Konflikte zwischen Russland und der Ukraine gegeben. So vor allem um den Zugang zu den Seehäfen des Schwarzen Meeres und um die Verfügung über die dort stationierte Schwarzmeerflotte.
Der ukrainische Präsident Juschtschenko leitete nach der „orangenen Revolution“ eine Politik der verstärkten West-Orientierung ein. Ein rücksichtloser neoliberaler Kurs im Inneren geht dabei einher mit einer Annährung an die EU und an die NATO. Ziel ist es, sich außenpolitisch von Russland zu lösen und Teil der „westlichen Staatengemeinschaft“ zu werden.
Dagegen setzt Russland unter Putin darauf, seinen Nachbarstaaten wieder enger an sich zu binden. Russland verfolgt imperialistische Ziele und will weiterhin zumindest regional dominierende Großmacht bleiben. Mit einem Ende der verbilligten Gasimporte in die Ukraine (die noch ein Überbleibsel der Sowjetzeit sind), wollte Putin Kiew in die Knie zwingen.
Interessen des US-Imperialismus und der EU-Staaten
Gleichzeitig sollte ein Warnsignal an Weißrussland und andere Republiken gesendet werden, nicht auszuscheren. Im übrigen wurden die Gaspreise nicht nur gegenüber der Ukraine erhöht, sondern auch gegenüber Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldawien und den baltischen Staaten. Zudem ist der Kreml ernsthaft darüber besorgt, dass es dem US-Imperialismus gelingen könnte, nicht nur neue Vasallenstaaten zu schaffen, sondern auch weitere militärische Stützpunkte in der Region zu errichten.
Natürlich ist es heuchlerisch, wenn europäische Apologeten der Marktwirtschaft Russland dafür angreifen, dass Marktpreise verlangt werden. Generell sind die herrschenden Klassen innerhalb der Europäischen Union jedoch, wie der Gas-Konflikt erneut widerspiegelte, bezüglich ihrer Positionierung uneinig. Blair, Berlusconi und vor allem Regierungen Osteuropas wie Polen setzen auf das Bündnis mit dem Weißen Haus. Andere Kräfte, vor allem das bürgerliche Establishment Frankreichs haben dagegen einen Konfrontationskurs eingeschlagen. Während Schröder in dieser Frage den Schulterschluss mit Chirac suchte (um gleichzeitig über die Vorherrschaft innerhalb der EU zu streiten), ist Merkel bemüht, vorsichtiger zu agieren.
Strategische Bedeutung der Ressourcen
Angesichts der Knappheit von Ressourcen wie Öl und Gas spielt die Frage der Verfügungsgewalt darüber eine zunehmend größere Rolle im imperialistischen Konkurrenzkampf. Das zeigt nicht nur der aktuelle Gas-Streit, sondern auch Bushs Irak-Krieg. In den Wehrpolitischen Richtlinien der Bundeswehr ist sogar nachzulesen, dass es bei den Bundeswehreinsätzen im Ausland um den „ungehinderten Zugang zu Rohstoffen“ geht.
Der Zugang zu Kohle und Erz auf europäischer Ebene war ein wesentlicher Faktor für den I. Weltkrieg. Ähnliche Konflikte um Rohstoffe rücken heute auf Weltebene näher – auch wenn auf überregionaler Ebene auf absehbare Zeit kein „heißer Krieg“ zu erwarten ist.
Die Mitglieder der EU importieren heute 70 Prozent ihres Erdöls und 40 Prozent ihres Erdgases, Tendenz steigend. Da Russland über ein Viertel der Weltreserven an Gas verfügt, kommt ihm eine Schlüsselrolle zu. Schröder verstärkte deshalb die Bindung an Russland. Nun will er auch noch den Aufsichtsratsvorsitz des Konsortiums der Ostsee-Pipeline übernehmen. Aufgrund der jüngsten Gas-Politik Putins argumentieren Teile des deutschen Kapitals dafür, das Abhängigkeitsverhältnis zu lockern. Das hat nur einen Haken. Der kaspische Raum, Nordafrika und die Golfstaaten sind politisch sehr instabil. Außerdem trifft der deutsche Imperialismus hier auf zahlreiche Konkurrenten.
Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus hieß es seitens der Bürgerlichen, dass nun weltweit Menschenrechte, Demokratie und Frieden auf dem Vormarsch wären. 15 Jahre später werden in Putins Russland (ob Abbau demokratischer Rechte oder Tschetschenien-Krieg) Menschenrechte mit Füßen getreten; aber auch in vielen anderen kapitalistischen Staaten werden nicht nur die Lohnabhängigen ausgebeutet und politische Einflussmöglichkeiten extrem eingeschränkt, sondern selbst der bürgerliche Parlamentarismus geschwächt. Während der Ost-West-Gegensatz militärische Auseinandersetzungen im Zaum gehalten hat, werden diese heute offener und zumindest auf regionaler Ebene potenziell auch bewaffnet ausgetragen werden.