Eine Geschichte von deutschen Linken  

„Die Kinder des Sisyfos“ – Romantetralogie von Erasmus Schöfer
 

Gelebte Geschichte bringt Erasmus Schöfer in seiner auf vier Bände angelegten Romanreihe „Die Kinder des Sisyfos“ zu Papier. Aus jeder Zeile liest der Leser und die Leserin die Verbundenheit Schöfers mit seinem Stoff heraus. Es stellt sich nicht die Frage, ob das Werk autobiographische Züge hat. Es stellt sich nur die Frage, wo diese auftauchen. Und doch bewahrt Schöfer eine kritische Distanz zu seinen Protagonisten und der ereignisreichen Geschichte, die er nachzeichnet. Diese Geschichte ist nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte der radikalen deutschen Linken von 1968 (im ersten Band „Ein Frühling irrer Hoffnungen“) über die 70er Jahre (im zweiten Band „Zwielicht“) bis zum Jahr 1989. Erzählt entlang des Lebens dreier Männer.

Da ist zum einen Viktor Bliss, schreibender Intellektueller und in den 70ern aufgrund seiner DKP-Mitgliedschaft mit Berufsverbot belegter Lehrer. Armin Kolenda ist ein aus einer Ruhrpott-Bergmannsfamilie stammender linker Journalist, engagiert im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“. Dritte zentrale Figur ist Manfred Anklam, kämpferischer Gewerkschafter, Betriebsrat, Arbeiterintellektueller mit einem kurzen Gastspiel im maoistischen Komunistischen Bund Westdeutschlands (KBW).

Schöfer gelingt mit seinem Werk etwas Außergewöhnliches – er beschreibt große Geschichte durch kleine (und größere) Ereignisse und durch die Beteiligung nicht der großen Helden und Berühmtheiten der Bewegung, sondern von Wenigen der Vielen. Die kunstvolle Verbindung von Persönlichem und Politischem erzeugt die gesellschaftliche Atmosphäre der Zeit, zumindest aber gibt sie einen Einblick in das Denken und Fühlen einer Generation linker AktivistInnen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen und politischer Ereignisse.

Diese sind die Solidaritätsbewegung mit der vietnamesischen Befreiungsbewegung, das Dutschke-Attentat und die darauf folgenden Aktionen gegen die Springer-Presse, die Besetzung der Glashütte Immenhausen durch die Belegschaft, der Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl, die Alltagsarbeit in der Werkstatt Literatur der Arbeitswelt, ein Streik bei Mannesmann. Im kürzlich erschienen dritten Band mit dem Titel „Sonnenflucht“ hat es zwei seiner Protagonisten nach Griechenland verschlagen. Der eine in einer Art persönlichem Exil zur Selbstfindung nach politischer Frustration und Trennung von der Frau. Der andere will ihn aus dieser Flucht zurückholen. In diesem dritten Band passiert weniger Geschichte, dafür aber umso mehr Reflexion gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse. Und nebenbei erfährt der Leser und die Leserin viel über die Geschichte Griechenlands vom Widerstand gegen die faschistische Besatzung im Zweiten Weltkrieg über den Bürgerkrieg danach bis zur Obristendiktatur von 1967 bis 1974.

Stalinismus

Die Reflexion über die eigene Desillusionierung, weil der Kapitalismus über zehn Jahre nach der 68er Rebellion eher stärker denn schwächer erscheint, ist jedoch geprägt von der stalinistischen Orientierung des einen und der spontaneistischen Orientierung des anderen. Letzter ruft im Laufe einer Diskussion aus: „Alle eure Heldensagen! Alle eure Siege! Worauf seid ihr eigentlich stolz? Redet doch mal von euren Niederlagen, damit man euch glauben kann! Dieser traurige, ärmliche Sozialismus, aus dem wegläuft, wer weglaufen kann! Unsre deutsche Mauer – ein Sieg! Der ungarische Aufstand – ein Sieg! Prag 68 – noch ein Sieg für den Sozialismus! Jetzt streiken die Arbeiter in Danzig – die Arbeiter! Ja, meine polnischen Kollegen, für eine unabhängige Gewerkschaft, die der Regierung nicht aus der Hand frisst! Dafür kämpf ich auch in Düsseldorf. Find ich gut.“ Spontane, ehrliche und richtige Empörung über den Stalinismus, ohne zu verstehen, dass dieser eben nicht der Sozialismus war, sondern eine bürokratische Diktatur gegen die Arbeiterklasse.

Diese theoretische Verwirrung über die Natur der angeblich sozialistischen Staaten, drückt sich auch an anderer Stelle aus, als das DKP-Mitglied Viktor Bliss in sein Tagebuch schreibt: „Als Marx und Engels den Ausgebeuteten die Strategie der Befreiung zeigten, die Einheit der Besitzlosen vor allem, haben da die Profitöre, im Besitz der Wissenschaft, immer schon mitgelesen und im voraus die Gegenstrategie geplant, enwickelt, unüberholbar gemacht? Haben sie weitblickend die Hände gerieben, als sie Lenin zwangen, die Kontrolle über das Vertrauen zu setzen, sie den Befreiten unentbehrlich machten durch ihre sprungbereite Drohung, die hässliche, ungeliebte Waffe zur Sicherung der schon siegreichen Revolution, berechnend, dass dies der Keim sein werde der Entfremdung zwischen der Befreiungsmacht und den Befreiten. Das Hoffnunggebende, der gerechte, menschenfreundliche Staat sollte sich entwickeln können im Schutz eines Misstrauens dem jeder Bürger, weil ein Mensch, ein möglicher Verräter war? Und die Kontrolle, die Vorsicht, ist sie nicht die Schwester der Unwahrheit, das Misstrauen Urheber der taktischen Lügen, die ihren Motor Wahrheit vergiften?“

Ein anschauliches Beispiel, dafür, dass die Stalinisten Marx, Engels und Lenin zwar lasen, aber nicht verstanden. Wenn Lenin von „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ sprach, so meinte er nicht die Kontrolle der Partei oder des Arbeiterstaates über die Arbeiterklasse, sondern die Notwendigkeit, dass Partei und Arbeiterstaat durch die Arbeiterklasse kontrolliert werden. Und Marx und Engels sprachen nicht von einer von den Befreiten getrenneten Befreiungsmacht, sondern davon, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann.

Und inmitten der politischen Ereignisse und Gedanken, gibt es das Persönliche: die Liebe, Sexualität (erfrischend explizit und unspektakulär dargestellt), Freundschaft, Ängste, den Tod.

Werkkreis

Schöfer selber war einer der Begründer des Werkkreises, der sich zum Ziel setzte, sowohl die Situation in den Betrieben darzustellen, als auch ArbeiterInnen zum Schreiben zu motivieren und diese dabei zu unterstützen. Die – nicht selten konfliktreiche – Zusammenarbeit von Intellektuellen und Berufsjournalisten mit einfachen „schreibenden Proleten“ zieht sich durch die Beschreibung des Werkkreises, der in den 70er Jahren Bücher wie „Der rote Großvater erzählt“ veröffentlichte und in dutzenden Bänden zu verschiedenen Themen eine Auflage von insgesamt über einer halben Million erreichte.

Beeindruckend im Zusammenhang mit der Rolle der Literatur in der Linken ist , unter anderem die Beschreibung eines Besuchs der Frankfurter Buchmesse im Jahr 1977 während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die RAF. Dort treten Autoren wie Engelmann, Böll, Grass, Wallraff als „literarischer Arm“ der linken Protestbewegungen auf. Die vergebliche Suche nach vergleichbaren Autoren und Günter Grass“ Unterstützung für Gerhard Schröder im letzten Bundestagswahlkampf dücken aus, wie weit die Linke in den letzten 15 Jahren zurück geworfen wurde.

Unkonventioneller Stil

Schöfers Stil ist gewöhnungsbedürftig, weil erfrischend unkonventionell. Ihn schert nicht alte oder neue Rechtschreibung, er hat seine eigene Form entwickelt, die weitgehend versucht die Schriftsprache der gesprochenen Sprache anzupassen. Interpunktion ist überflüssig und es wird geschrieben, wie gedacht wird – wechselhaft, mit Brüchen und Sprüngen.

Die ersten drei Bände von „Die Kinder des Sisyfos“ begeistern und werden zweifelsfrei für LeserInnen, die an den Ereignissen der Zeit teilgenommen haben, besonders spannend sein.

Und was fehlt in Schöfers Werk? Zweifellos spielen Frauen, zumindest in den ersten beiden Bänden, eine untergeordnete Rolle, was möglicherweise mit dem teilweise autobiographischen Charakter des Romans und sicher mit der realen Situation von Frauen in der deutschen Linken der 60er und 70er Jahre zu tun hat. Sie kommen vor allem vor, in den persönlichen Beziehungen der Protagonisten – als Ehefrauen, Liebhaberinnen, Mütter. Doch trotz dieser Tatsache sind gerade die weiblichen Figuren des Romans starke Persönlichkeiten (und oftmals stärker als die Männer) und definieren sich nicht durch ihre Männer. Im dritten Band wird dieses Ungleichgewicht dadurch aufgehoben, dass zwei der Hauptfiguren junge griechische Kommunistinnen sind.

Außerdem beschreibt Schöfer tatsächlich nur die radikale Linke und einen Teil der sozialen und außerparlamentarischen Protestbewegungen. Die Rolle und Bedeutung der SPD und der Jungsozialisten kann nur erahnt werden. Über diese wird gesprochen, sie werden erwähnt, aber es ist ein Versäumnis, dass Schöfer nicht eine Figur geschaffen hat, deren politisches Leben sich in der Sozialdemokratie abspielte, die in der Zeit einen millionanfachen Anhang in der Arbeiterklasse hatte und deren Mitglieder und AktivistInnen eine wichtige Rolle in betrieblichen Auseinandersetzungen und in der Linken spielen. Diese – von einem historischen Standpunkt betrachtete – Schwäche macht „Die Kinder des Sisyfos“ aber nicht weniger lesenswert.

von Sascha Stanicic

Erasmus Schöfer, Roman-Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“, Bd.1 Ein Frühling irrer Hoffnung; Bd.2 Zwielicht; Bd. 3 Sonnenflucht , www.dittrich-verlag.de