Interview mit Rotem Michaeli, Vorstandsmitglied der sozialistischen Gruppe Maavak Sozialisti in Israel
Die Wahl des Gewerkschaftsführers Peretz zum Führer der Arbeitspartei war eine große Überraschung. Was steckt dahinter?
Rotem Michaeli: Peretz hat bei seiner Kandidatur für die Vorwahlen der Arbeitspartei eine linke Rhetorik benutzt. Er hat Themen wie Mindestlohn, Renten und die Rolle der Zeitarbeitsfirmen in der israelischen Wirtschaft aufgegriffen. Sein Sieg ist Ausdruck der Wut der „israelischen Straße“, also der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung, nach Jahren von wirtschaftlicher Krise.
Gleichzeitig ist der Unterschied zwischen der Arbeitspartei und der anderen großen bürgerlichen Partei Likud nicht besonders groß. Und die Forderung von Peretz nach einer Wiederaufnahme des Osloer Abkommens ist nicht populär, denn viele Menschen sehen in dem Scheitern von Oslo den Grund für die Selbstmordanschläge der zweiten Intifada und auch eine Basis für die Auslagerung vieler Teile der israelischen Industrie in arabische Länder, wie zum Beispiel der Textilindustrie nach Jordanien. Auf der palästinensischen Seite endete der Oslo-Prozess, dessen Inhalt man nur als neo-kolonial bezeichnen kann, in Massenarmut im Gebiet der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Aber Peretz schlägt auch einen anderen Ton in Sicherheitsfragen an?
RM: Er hat versprochen Parteien der israelischen PalästinenserInnen in eine Regierung aufzunehmen, was ein Novum in der Geschichte wäre.
Welche Wirkung hat der Erfolg von Peretz?
RM: Das ganze politische System hat sich verändert. Die Arbeitspartei hat 20.000 bis 25.000 neue Mitglieder gewonnen, das ist ein Wachstum um 25 Prozent. Die Regierung hat als Reaktion ein Programm zur Bekämpfung der Armut gestartet. Dieses ist zwar mit etwas über zwei Milliarden Euro für sechs bis sieben Jahre ein Witz, drückt aber trotzdem den Druck aus, der sich entwickelt.
Peretz spricht öffentlich das Schicksal von Arbeitslosen an, die ihre Familien nicht mehr ernähren können, von RentnerInnen, denen die Pensionen gekürzt wurden. In mancher Hinsicht hat die einfache Bevölkerung ein Stück ihres Stolzes wieder erlangt.
In den Meinungsumfragen war die Arbeitspartei schnell nach oben geschnellt. Scheinbar war Peretz davon selber so beeindruckt, dass er seine soziale Rhetorik stoppte, was sich auch schnell in einem Rückgang in den Umfragen ausdrückte.
Was ist denn von ihm zu erwarten?
RM: Man sollte seine Geschichte als Gewerkschaftsführer nicht vergessen. Auch hatte er schon vor einigen Jahren eine eigene Partei gegründet, die sich eine Zeit lang an der Scharon-Regierung beteiligte. Er wird oft als Sozialist bezeichnet und dafür angegriffen, doch das ist er nicht. Allerdings sind viele Menschen, die sich als Sozialistinnen und Sozialisten verstehen, nun in die Arbeitspartei eingetreten. Der Begriff taucht wieder häufiger auf. Auch in ungewöhnlichen Zusammenhängen. So bezeichnet sich ein Geschäftsmann, der der Arbeitspartei beigetreten ist, als „Sozialisten-Millionär“. Das ist etwas Neues für das politische System in Israel.
Die weitere Entwicklung von Peretz und der Arbeitspartei, die ja traditionell die Interessen der israelischen Kapitalistenklasse vertritt, wird davon abhängig sein, ob sich nach den Wahlen Widerstandsbewegungen der Gewerkschaften und der Arbeiterklasse entwickeln. Nur solch massenhafter Druck könnte Peretz dazu zwingen, seine Versprechen nicht ganz schnell wieder zu vergessen. Wichtig ist aber, dass eine öffentliche Debatte zu den von Peretz aufgeworfenen Themen – Mindestlohn, Rente – begonnen hat. Wie diese nun verlaufen wird, ist nicht mehr unter seiner Kontrolle. Eine kritische Unterstützung für Peretz kann nur in Frage kommen, wenn er sich gegen die Interessen der Kapitalisten stellt. Aber unabhängig von seiner weiteren Entwicklung, hat die neue Situation die Möglichkeit für die Schaffung einer wirklichen Arbeiterpartei in Israel verbessert.
Scharon hat auf den Wechsel an der Spitze der Arbeitspartei reagiert.
RM: Die Gründung von Scharons neuer Partei „Vorwärts“ ist Ausdruck der Instabilität, die in den letzten Jahren massiv zugenommen hat. Der Rückzugsplan der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen drückt aus, dass Teile der herrschenden Klasse die Idee eines Groß-Israels aufgegeben haben. Scharon war immer der willfährige Diener der israelischen Kapitalisten und hat versucht diesen Prozess ins Laufen zu bringen. Dabei ist er auf Widerstand in der Likud-Partei gestoßen, die begonnen hat ihre eigene Propaganda zu glauben. In der Urabstimmung innerhalb der Partei hat er eine Abfuhr für seinen Rückzugsplan erhalten. Seine Regierung hat trotzdem an dem Plan festgehalten, war aber mit ernsthafter Opposition im Likud und in der Knesset (Parlament, Anm. d. Ü.) konfrontiert. Es wurde klar, dass der Likud kein Instrument mehr für die Fortsetzung des Rückzugsplanes darstellt. Scharons Popularität in der Bevölkerung ist allerdings durch das Festhalten am Rückzugsplan gestiegen, was er nun für den Aufbau der neuen Partei nutzt. Viele wichtige Politiker, wie der ehemalige Führer der Arbeitspartei Schimon Peres und der Verteidigungsminister Mofas sind der „Vorwärts“-Partei inzwischen Beigetreten.
Wie ist der Rückzugsplan einzuschätzen?
RM: Dieser stellt im Vergleich zum Osloer Abkommen eher einen Rückschritt dar. Er ist das Eingeständnis, dass Frieden nicht möglich ist. Deshalb wollen sie die kostspielige Besatzung beenden und die PalästinenserInnen hinter der Mauer halten. Weder Oslo noch der Rückzugsplan können Frieden bringen, weil sie die sozialen Probleme der arbeitenden Bevölkerung auf beiden Seiten ignorieren.
Kann es eine Lösung für die nationale Frage geben?
RM: Die bürgerlichen Kräfte auf beiden Seiten haben keine Lösung anzubieten. Ihre Vereinbarungen und Abkommen müssen verlassen werden. Die soziale Lage der Arbeiterklasse und der Armen hat sich durch diese ja nur verschlechtert. Seit es die Palästinensische Autonomiebehörde gibt, ist der Lebensstandard der Massen gesunken. Das sagt alles. In Israel hat es ebenso eine massive soziale Krise gegeben, die ja auch zu vielen Arbeiterkämpfen geführt hat.
Die VertreterInnen der Arbeiterschaft auf beiden Seiten müssen beginnen zusammen zu arbeiten und für die gemeinsamen sozialen Interessen kämpfen. Voraussetzung dafür ist die gegenseitige Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes und des Rechtes auf einen eigenen Staat.
Doch im Rahmen der kapitalistischen und imperialistischen Ordnung ist eine Lösung der nationalen und der sozialen Fragen ausgeschlossen. Diese ist nur möglich auf der Basis eines sozialistischen Israel und eines sozialistischen Palästina und einer freiwilligen Föderation sozialistischer Staaten in der Region.
Das Interview führte Sascha Stanicic