Belgien: Generalstreiks gegen „Generationenpakt“  

Zwei Generalstreiks innerhalb eines Monats
 

Am 28. Oktober standen in Belgien alle Räder still: Betriebe, Häfen, Flughäfen, öffentlicher Dienst – nur die KollegInnen von der Eisenbahn arbeiteten, um die Streikenden zur Großdemonstration nach Brüssel zu bringen. 100.000 Menschen protestierten dort gegen die neoliberale Politik der Koalitionsregierung des Liberaldemokraten Verhofstadt.

Trotz gestiegener Produktivität und Rekordgewinnen der Großunternehmen in Belgien soll die Arbeiterklasse weitere Verschlechterungen hinnehmen. Unter anderem soll das Einstiegsalter für die Frühpensionierung von 58 Jahren auf 60 Jahre steigen, vorher müssen mindestens 30 Jahre statt bisher 25 Jahre gearbeitet werden. Ältere KollegInnen, die entlassen werden, müssen dem Arbeitsmarkt weiter „zur Verfügung stehen“ anstatt früher in Rente gehen zu können. Gleichzeitig sind bereits 18,6 Prozent der unter 25-Jährigen arbeitslos.

Gegen diese Pläne hatte die sozialdemokratische Gewerkschaft ABVV–FGTB bereits am 7. Oktober zu einem 24-stündigen Generalstreik mobilisiert, dem ersten Generalstreik in Belgien seit 1993. Die zweite große Gewerkschaft, der christliche ACV-CSC, hatte ihre Unterstützung im letzten Moment zurückgezogen. An vielen Orten streikten ACV-Mitglieder jedoch trotzdem mit.

Angriffe von allen Seiten

Da die Regierung nicht von ihren Kürzungsplänen abweichen wollte, stellte sich schnell die Frage nach weiteren Aktionen. Die massive Beteiligung am Generalstreik hatte das Selbstvertrauen der KollegInnen gestärkt. Schon vor dem 28. Oktober gab es zahlreiche spontane Arbeitsniederlegungen, unter anderem bei VW in Brüssel. Um einzuschüchtern und die Spaltung voranzutreiben, intensivierten Regierung und Kapital ihre Medienkampagne. So schrieb die Gazet van Antwerpen unter dem Titel „Aufwiegler“ über streikende VW-ArbeiterInnen: „Wenn es ums Streiken geht, ist VW Vorst an vorderster Front. Da braucht es echt nicht viel. Zwei zu hart gebackene Fritten in der Betriebskantine reichen aus, um alles lahm zu legen.“

Es folgten konkrete Angriffe auf das Streikrecht. Im Ort Zedelgem sollte der Gewerkschaft mittels einer einstweiligen Verfügung ein Strafgeld von 1.000 Euro pro Stunde für jeden Arbeitswilligen aufgedrückt werden, der durch die Streikposten von der Arbeit abgehalten wird. Andere Unternehmer drohten mit ähnlichen Maßnahmen. Minister Dewael kündigte Sanktionen gegen Streikposten, die Kreuzungen blockieren, sowie ein generelles Verbot von Streikposten auf öffentlichen Verkehrswegen an!

Vor diesem Hintergrund musste die ACV-Führung unter dem Druck der Mitglieder in den Kampf einsteigen. Schließlich rief sogar die liberale Gewerkschaft zum zweiten Generalstreik und zur Großdemo auf.

„Streikt die Regierung weg!“

Die Stimmung bei der Demonstration am 28. Oktober war sehr kämpferisch, die meisten waren der Meinung, dieser Streiktag sei nur ein erster Schritt, eine breitere Bewegung gegen den „Generationenpakt“ der Regierung aufzubauen. Ein weiterer Aktionsplan wurde leider nicht angekündigt. Es ist allerdings offensichtlich, dass die beiden Streiktage trotz ihrer großen Wirkung noch nicht reichen.

Nach der Demo erklärte Verhofstadt, dass „keine Verhandlungen mehr über den Kern der Sache geführt werden”. Entsprechend gering waren die Zugeständnisse, welche die Gewerkschaftsführer bei den Frühpensionen erzwingen konnten, etwa bei NachtarbeiterInnen oder Beschäftigten mit körperlich anstrengenden Berufen.

Mit den Verhandlungen wollte die Regierung die Gewerkschaften einlullen. Sie steht unter dem Druck des Kapitals, bei den „Reformen“ der Sozialsysteme gegenüber Ländern wie Deutschland aufzuholen! Es gelingt ihr aber nicht, den Zusammenhalt und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse zu brechen. Wenn die Gewerkschaften bei weiteren Aktionen einen Gang höher schalten und einen mehrtägigen Generalstreik organisieren, könnte die instabile Regierung endgültig stürzen.

Diskussionen über eine neue Arbeiterpartei

Bisher gibt es allerdings keine Alternative zu Verhofstadt. Die Sozialdemokratie ist keine Interessensvertretung der Arbeiterklasse. Sie sitzt auch in der Regierung und trägt alle Kürzungen und Privatisierungen mit. Daher ist die Wut auf die traditionellen Parteien unter den GewerkschaftsaktivistInnen in den letzten Monaten bedeutend gewachsen. Beim sozialdemokratischen Parteitag in Limburg hatte der ABVV ein klares Zeichen gesetzt. GewerkschaftsaktivistInnen standen vor dem Kongressgebäude für die Mitglieder „Spalier“– aber mit dem Rücken zu ihnen und dem Slogan: „Kehrt ihr uns den Rücken, kehren wir Euch den Rücken“. Auch bei zahlreichen ABBV-Kampagnetreffen und Streikposten wurde die Bindung in Frage gestellt.

Eine neue linke Partei, die eindeutig auf Seiten der Beschäftigten, Jugendlichen und RentnerInnen steht, ist in Belgien nötiger denn je. Nicht umsonst werden die Entwicklungen um die WASG und Linkspartei in Deutschland von breiten Teilen der Bevölkerung aufmerksam verfolgt.

Die belgische Schwesterorganisation der SAV, Linkse Socialistische Partij/Mouvement pour une Alternative Socialiste, hat bereits Initiativen in diese Richtung gestartet, unter anderem eine website (www.nouvellepartiedestravailleurs.be). Ungefähr 150 LSP-AktvistInnen warben bei der Demonstration für diese Idee und trafen auf große Offenheit bei den Streikenden. Hunderte wollen sich am Aufbau eines landesweiten Internet-Netzwerks beteiligen.

von Conny Dahmen, Aachen