Kandidatur gegen neoliberale Politik in Berlin nötig

WASG, Linkspartei/PDS und die Abgeordnetenhauswahl 2006


 

Berlin, September 2006: Am Kottbusser Tor der tägliche Wahlkampfstand der Linkspartei. Noch vier Wochen bis zu der Berliner Abgeordnetenhauswahl. Nur ein Ex-WASGler außer mir am Stand, sonst drei ältere PDS-Mitglieder. Aber wozu der Unterschied? Wir alle sind seit der Fusion vor sechs Wochen Mitglieder der "neuen" Linkspartei…

"Weg mit Hartz IV! – Ihre Stimme für die Linkspartei", rufe ich den PassantInnen zu. Einer bleibt stehen und schimpft: "Weißt du überhaupt wie das ist, von ALG II zu leben? Im Mai wurde ich vom Senat zum Umzug gezwungen. Was sagst du dazu? Heute "Weg mit Hartz IV!", morgen allen Sauereien zustimmen?" Ich versuche ihm zu erklären, dass die "neue" Linkspartei was anderes ist als die alte PDS. Aber er glaubt mir nicht. Zwei ehemalige WASG-Mitglieder und ein bekannter Vertreter der sozialen Bewegung kandidieren auf der Landesliste der "neuen" Linkspartei. Die radikalsten waren die zwei Ex-WASGler, aber nicht damals, als es nach der Bundestagswahl 2005 in Berlin hoch her ging wegen die Frage, ob man den Kurs der Berliner Linkspartei/PDS ablehnen soll.

Viele WASG-Mitglieder sind nicht Teil der neuen Linkspartei geworden. Nicht, weil sie den Neuformierungsprozess der Linken bundesweit ablehnen, sondern weil sie ihn sich in Berlin anders vorgestellt haben.

Ich verteile weiter Flugblätter und komme mit einer Gruppe von Jugendlichen ins Gespräch, die mich fragen, warum der rot-rote Senat ihre Jugendeinrichtung geschlossen hat. "Was soll sich denn ändern, wenn ich die Linkspartei wähle?", fragt eine. Die anderen Linkspartei-Mitglieder am Stand erklären, dass die Haushaltsnotlage nun mal zum Sparen zwinge und die Linkspartei/PDS im Senat doch immerhin dafür gesorgt habe, dass es nicht so schlimm kommt wie unter der Großen Koalition damals. Darauf wissen die Jugendlichen keine Antwort, weil sie noch nicht so lange die politischen Geschehnisse verfolgen. Einer von ihnen sagt, dass er vielleicht die Linkspartei wählt, wenn sie wirklich das kleinere Übel ist. Ich frage ihn, ob er nicht selbst aktiv werden will. "Aktiv wozu?", fragt er mich verdutzt. "Um euch beim Sparen zu helfen?"

Damals, beim Berliner WASG-Landesparteitag im November 2005 ging es genau um die Frage: Sich an der Regierung in Berlin beteiligen oder nicht. Damals dachten viele, dass der rot-rote Senat in Berlin doch eh nicht so lange von Dauer sein wird. Das war jedoch eine Fehleinschätzung…

Sonderfall Berlin?

Berlin, September 2005: Kurz nach der Bundestagswahl ist die Debatte über das "Wie weiter in Berlin?" in vollem Gange. In einem Diskussionspapier von den Linkspartei/PDS-Landesvorstandsmitgliedern Stefan Liebich, Udo Wolf, Halina Wawzyniak und Carsten Schatz heißt es: "In Berlin war der Kern der WASG eine bewusste Gegengründung zur PDS. Ihr erklärtes Ziel war die Abwahl von Rot-Rot und damit auch der Kampf gegen die PDS als Regierungspartei."

Liebich und Co. spielen auf das Volksbegehren zur Abwahl des Senats an. Viele WASG-Mitglieder waren aber auch Teil von Protestbewegungen, die sich gegen die Kürzungspolitik des rot-roten Senats zur Wehr gesetzt haben. Studierende, die bei der Bewegung gegen Studiengebühren das Büro von PDS-Wissenschaftssenator Thomas Flierl besetzten. Oder Krankenhausbeschäftigte, die ihre Betriebsversammlungen auf die Straße verlegten, um die Rotstiftpolitik im Gesundheitswesen anzuprangern.

Im Winter 1995/96 wurde unter der damaligen Großen Koalition das erste "Sparpaket" geschnürt und umfangreiche Privatisierungen auf den Weg gebracht. Seinerzeit entstand ein Protestbündnis, das 150 Organisationen umfasste. Mehrere Demos mit 10-15.000 TeilnehmerInnen wurden auf die Beine gestellt. Im Frühjahr 1996 fand eine Studierendendemo statt, an der sich 50.000  beteiligten. Bald darauf initiierten die Ärztin Cora Jacoby und der Betriebsrat Volker Gernhardt ein "Aktionskomitee Krankenhäuser", das mit Beschäftigten diverser Kliniken mehr als zwei Jahre lang Protestaktionen organisierte. Außerdem kam es zu einigen Großdemos gegen Sozial- und Bildungsraub und die Bildung von Solidaritätskomitees gegen die Schließung von Betrieben. In den vergangenen zehn Jahren wurden jährlich im Schnitt 10.000 Industriearbeitsplätze gestrichen.

PDS-Regierungsbeteiligung seit 2001

Vor diesem Hintergrund erhielt die PDS bei der Abgeordnetenhauswahl 2001 22,6 Prozent. 1990 waren es noch 9,4 Prozent. Unter Gregor Gysi, der kurzzeitig Wirtschaftssenator war, wurde dann die rot-rote Koalition eingefädelt – und am Kurs von SPD und CDU nahtlos angeknüpft.

Mehr noch: Mit dem Austritt aus dem Kommunalen Arbeitgeberverband während der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst vor drei Jahren nahm der Senat auf Bundesebene sogar eine Vorreiterrolle ein. Ausgeklammert wurden damals die kampfstarken Bereiche BSR (Müllversorgung) und BVG (Verkehrsbetriebe). Die BVG knöpfte sich der Senat in diesem Sommer vor und zwang den Beschäftigten einen Spartentarif auf, der Lohneinbußen von 10-25 Prozent beinhaltet. Mit dieser "Kostensenkung" wird die Privatisierung für den Zeitraum nach der nächsten Wahl vorbereitet. Gleiches gilt für die städtischen Krankenhäuser (Strom-, Gas- und Wasserversorgung sind mehrheitlich schon in privaten Händen).

Gerade bei diesen Teilen des öffentlichen Dienstes ist der Senat besonders verhasst. Ähnlich ist die Haltung von vielen Erwerbslosen und Jugendlichen. Dazu hat nicht zuletzt die Abschaffung des Sozialtickets beitragen (das dann zum dreifachen Preis wieder eingeführt wurde). Bis Frühjahr dieses Jahres war die PDS in den Umfragen im Keller; wären zu diesem Zeitpunkt Wahlen gewesen, hätte sie ein Drittel der Stimmen eingebüßt.

Liebich und Co. verweisen auf die Landesverschuldung von 70 Milliarden Euro: "Vieles an der Kritik der Berliner Regierungspolitik in der Linkspartei/PDS und der WASG ist der Unkenntnis über die konkreten Rahmenbedingungen in Berlin, der Grenzen und Möglichkeiten einer Landesregierung und der Konfliktmechanismen in einer Koalition geschuldet."

Durchsetzung von Forderungen

Entschlossener Kampf gegen Sozialraub vor Ort und für mehr Gelder vom Bund und von den Großkonzernen oder Beteiligung am sozialen Massaker, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern? Beim PDS-Parteitag in Potsdam im November 2004  verkündete die PDS das "strategische Dreieck": "Protest, der Anspruch auf Mit- und Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinaus weisende Alternativen." Konkret tritt die Linkspartei/PDS tritt nicht mal für die Erhöhung der Gewerbesteuer ein.

Im WASG-Wahlmanifest heißt es: "Eine Regierungsbeteiligung ist nur denkbar, wenn dies zu einem grundlegenden Politikwechsel auf der Basis unseres Gründungsprogramms führt. Wir werden uns an keiner Regierung beteiligen, die Sozialabbau betreibt oder sie tolerieren."

Schlüsselfrage Berlin

Berlin ist kein Sonderfall, sondern eine Schlüsselfrage für die Linke. Für die Kräfte, die in der neuen Bundestagsfraktion mit einer Regierungsbeteiligung im Bund ab 2009 liebäugeln, ist Berlin ein wichtiger Referenzpunkt.

Eine neue politische Kraft muss sich grundlegend von allen etablierten Parteien unterscheiden, will sie eine Existenzberechtigung haben. Sie muss "Partei" ergreifen – für die abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen. Die Linkspartei/PDS ist kaum im betrieblichen Bereich verankert. Vom Klassencharakter her ist sie stark kleinbürgerlich. Im Wahlprogramm für die Bundestagswahl schwang sie sich zum Vorkämpfer für klein- und mitelständische Unternehmer auf.

Als im letzten Sommer wieder Montagsdemonstrationen ausgerufen wurden, plakatierte die PDS zunächst: "Hartz IV – Weg damit." Aber statt ihren Apparat zum Aufbau der Bewegung zu nutzen und Mitglied- und Anhängerschaft zu mobilisieren, wurden die Plakate flugs ausgetauscht. Die neue Parole hieß: "Hartz IV – Wir stehen euch bei." Dem-gegenüber ist der Aufbau einer kämpferischen Kraft das Gebot der Stunde. Eine Kraft, die bereit ist, sich mit den Herrschenden anzulegen.

Die PDS trägt zwar den Sozialismus im Namen, redet davon aber nur an Feiertagen. Mit dem DDR-Stalinismus hat sie nie entschieden gebrochen. Dabei wäre ein sozialistisches Programm nötig, das die kapitalistische Sackgasse aufzeigt und den Kampf gegen Verschlechterungen mit dem Kampf für eine grundlegend andere, sozialistische Gesellschaft verbindet. Eine Gesellschaft, in der – anders als im Ostblock – die Wirtschaft demokratisch geplant wird.

Alternative Kandidatur in Berlin?

Auf dem Landesparteitag im Juni hat die Berliner WASG das bundesweite Wahlbündnis akzeptiert, aber beschlossen, zu der Ab-geordnetenhauswahl 2006 eigenständig anzutreten. Um diesen Beschluss zu verteidigen, haben SAV-Mitglieder und andere WASG-Linke, darunter auch Landesvorstandsmitglieder, eine Plattform "Den Widerstand gegen neoliberale Politik stärken – innerhalb und außerhalb des Parlamentes!" verfasst.

Im Bundestagswahlkampf protestierten Beschäftigte der Grünflächenämter gegen die Zusammenlegung ihrer Dienststellen und damit verbundenen Arbeitsplatzabbau. Als WASG-Mitglieder Wahlkampfmaterial anboten, schlug ihnen zunächst Unmut entgegen: "Muss ich jetzt den Gysi wählen, wenn ich WASG will? Der ist doch auch für Privatisierungen." Erst als die WASGler vermitteln konnten, dass sie nicht an der Senatspolitik beteiligt sind, zeigten sich die KollegInnen gesprächsbereit. Bei der Charite ließ sich ver.di auf Kosteneinsparungen in Höhe von 30 Millionen ein. Prompt legte der Senat nach und forderte weitere Kürzungen von zehn Millionen. Seitdem gibt es auf wöchentlicher Basis Protestaktionen. Auf dem Flugblatt der ver.di-Betriebsgruppe heißt es "SPD und PDS erpressen uns".

Liebich und Co. fordern eine Vereinigung von WASG und Linkspartei/PDS bis Anfang nächsten Jahres. "Die weitere inhaltliche und strategische Klärung erfolgt dann in der gemeinsamen Partei", heißt es in ihrem Papier. Wenn es nach ihnen geht, sollen in Berlin lediglich "Expertengespräche" in kleiner Runde zur "Haushaltskonsolidierung" vorgenommen werden. Demgegenüber hat der Berliner WASG-Delegiertenrat beschlossen, offene Foren zu organisieren, die zum Beispiel über den Privatisierungskurs oder die Risikoabschirmung der Bankgesellschaft debattieren sollen.

SAV-Mitglieder haben erfolgreich beantragt, in diese Debatten AktivistInnen von Protestbewegungen gleichberechtigt mit einzubeziehen. Außerdem wurde auf unseren Vorschlag hin aufgenommen, auf dem Landesparteitag am 26. und 27. November über eine berlinweite Kampagne gegen Privatisierung zu entscheiden.

Der Delegiertenrat hat auch Forderungen formuliert, zu denen sich die Linkspartei/PDS verhalten muss. Nur dann, wenn die Linkspartei/PDS zum Beispiel weitere Sozialkürzungen ablehnen oder für den Rückkauf der Wassergesellschaft eintreten sollte, wäre eine gemeinsame Kandidatur eine Option. SAV-Mitglieder traten zusätzlich dafür ein, dass eine Aufkündigung der Regierungsbeteiligung für den Fall, dass die SPD keinen 180-Grad-Wechsel vollzieht, die Vorbedingung für eine mögliche gemeinsame Kandidatur sein müsste. Leider wurde das nicht explizit beschlossen. Innerhalb der WASG ist nun eine heftige Debatte über diese und andere Fragen entbrannt.

Was für eine Partei brauchen wir?

Ziel sollte nicht der Status Quo, sondern ein Neuformierungsprozess der Linken – in Berlin und im Bund – sein, der AktivistInnen aus gewerkschaftlichen Bereich, aus der sozialen Bewegung, aus Jugendkampagnen einbezieht und an ArbeiterInnen und Erwerbslose appelliert, daran aktiv teilzunehmen. Politische Basis muss die konsequente Ablehnung von Lohn- und Sozialraub sein. Dieser Prozess muss auf allen Ebenen demokratisch organisiert werden.

In Berlin muss jetzt alles daran gesetzt werden, dass diejenigen, die sich jahrelang gegen Sozialabbau in der Stadt engagiert haben, 2006 an einer Kandidatur gegen neoliberale Politik teilnehmen. Die Linkspartei/PDS hat es selber in der Hand, ob diese Kandidatur mit ihr oder gegen sie stattfindet. Laut Umfragen könnte die WASG auch bei einem alleinigen Antritt die Fünf-Prozent-Hürde überwinden. Eine Kandidatur mit AktivistInnen und Betroffenen wäre eine Ermutigung für die Opfer der Senatspolitik der letzten Jahre. Sie wäre auch von Bedeutung für den bundesweiten Diskussionsprozess darüber, was für eine Partei gegen Kürzungen und Kapitalmacht benötigt wird.

von Lucy Redler, Berlin – Mitglied im Länderrat der WASG und Mitglied der Bundesleitung der SAV

"Haushaltskonsolidierung" des SPD/PDS-Senats

– Kürzung im Sozialbereich (Sozialticket, Blindengeld, Telebus)

– Reduzierung des Jugendhilfeetats von 400 (2001) auf 230 Millionen Euro (2005). Steichung von weiteren 33 Millionen sind geplant

– Privatisierung von Kitas. Kürzungen bei Schulen und Unis

– Austritt aus dem Kommunalen Arbeitgeberverband und Lohnsenkungen von 8-12 Prozent

– Risikoabschirmung für die Bankgesellschaft, mit der denjenigen, die sich durch Vetternwirtschaft und Immobiliengeschäfte bereicherrt haben, der Rücken freigehalten wird

– Verkauf von Wohnungsbaugesellschaften und Vorbereitung der Privatisierung von Verkehrsbetrieben und Krankenhäusern

– Schaffung von 24.000 Ein-Euro-Jobs und Vernichtung von tariflich bezahlten Arbeitsplätzen. Mehr als 40.000 Haushalte drohen ab Januar Zwangsumzüge

– Kürzungen der Zuschüsse von 98 Millionen für die Unikliniken. Dort sollen jetzt Löhne gekürzt und 3.000 Stellen gestrichen werden