Ursachen und Perspektiven für die revolutionäre Entwicklung in Venezuela
Broschüre der SLP (Schwesterorganisation der SAV in Österreich) – September 2005
Ein sozialistisches Venezuela ist möglich!
Im Januar 2005, bei der Abschlussveranstaltung des Weltsozialforums in Porto Alegre (Brasilien) sprach der Präsident von Venezuela, Hugo Chávez, erstmals von Sozialismus. Ein neuer, ein „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, solle es werden. Seitdem ist „Sozialismus“ in Venezuela allgegenwärtig. Im Gegensatz zu den 90er Jahren, wo „Sozialismus“ international ein Un-Wort gewesen war, ist es heute wieder eine wünschenswerte Perspektive. Nicht nur in Venezuela, aber dort besonders.
Die Entwicklung seit dem Amtsantritt von Chávez im Jahr 1999 ist spannend. Schulen und Spitäler wurden errichtet, eine Alphabetisierungskampagne durchgeführt, Land und Fabriken enteignet. Hugo Chávez sah sich mit einem Abwahlverfahren, mehrerer Aussperrungskampagnen durch die venezuelanischen KapitalistInnen und die herrschende Klasse und einem Putsch konfrontiert. Mit Unterstützung der armen Bevölkerung und der ArbeiterInnenklasse konnte er diesen aber trotzen und gewann auch jede Wahl in dieser Zeit. Vor dem Hintergrund von Massenbewegungen in ganz Lateinamerika – Argentinien, Bolivien, Ecuador… – kommt dieser Entwicklung besondere Bedeutung zu.
Aber wer ist Hugo Chávez? Was ist der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“? Wie können künftige Angriffe der herrschenden Klasse zurückgeschlagen werden? All diese Fragen sind zentral für die Entwicklung zu einem sozialistischem Venezuela. Denn das natürlicher Reichtum alleine nicht ausreicht, damit die Bevölkerung eines Landes in Frieden und sozialer Sicherheit leben kann, dafür ist Venezuela ein gutes Beispiel: der fünftgrößten Erdölproduzenten der Welt und trotzdem gab und gibt es Massenarmut. Auch in Venezuela, der vermeintlichen Demokratie, gab es Diktaturen, Repression gegen GewerkschafterInnen und Linke. Die USA versuchten und versuchen Wirtschaft und Politik in diesem, ihrem so wichtigen Öllieferanten, zu beeinflussen. Alles spricht dafür, dass sie auch bei den Versuchen der letzten Jahre, Hugo Chávez los zu werden, ihre Finger massiv im Spiel hatten. Chávez hat recht, wenn er sagt, das die Zukunft Venezuelas eine sozialistische sein muss (auch wenn er nicht wirklich Klarheit darüber hat, was Sozialismus nun eigentlich bedeutet). Was die Ursachen und Wurzeln der jetzigen Entwicklung sind, warum nach Jahrzehnten einer scheinbar stabilen Demokratie Chávez an die Macht kam, damit beschäftigt sich der erste Teil dieser Broschüre. Im zweiten geht es um eine Einschätzung der aktuellen Situation und um die Perspektiven der revolutionären Entwicklung.
Ölreichtum und Neoliberalismus: eine explosive Mischung
Jahrzehntlang galt Venezuela als Vorzeigedemokratie in Lateinamerika. Im Gegensatz zu anderen Staaten – Chile, Argentinien, Nicaragua… – gab es Wahlen, Parteien und Gewerkschaften. Der Zerbröselungsprozess, in dem sich das politische System Venezuelas seit den 80er Jahren befand und das im Wahlsieg von Hugo Chávez 1998 gipfelte, kam daher für viele überraschend. Wer das „Phänomen“ Chávez losgelöst von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung betrachtet, kann es nicht verstehen. Im folgenden daher ein kurzer Überblick über die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung Venezuelas bis 1998.
Von der Plantagen-Kolonie zur Öl-Republik
Auf seiner dritten Fahrt „entdeckte“ Kolumbus 1498 das heutige Venezuela. Es wurde spanische Kolonie (mit einem kurzen Herrschaftsintermezzo durch die Kaufmannsfamilie der Welser), die einheimische Bevölkerung wurde versklavt oder ermordet, auf den Plantagen (Kakao, Kaffee, Zuckerrohr, Baumwolle) kamen später auch Sklaven aus Afrika zum Einsatz. Anfang des 19. Jahrhunderts kam es unter Simón Bolívar zu einem bewaffneten Unabhängigkeitskampf der 1821 entgültig in der Republik Venezuela gipfelte. Der Traum Bolívars nach einem vereinten südamerikanischem Staat zerfiel rasch.
Bolívar ist als „Libertador“ in Venezuela noch heute allgegenwärtig: die Währung heißt Bolivar, Denkmäler überall, Plätze und Strassen die nach ihm benannt sind. Und nicht zuletzt Hugo Chávez, der sich quasi als sein Nachfolger präsentiert – bis hin zur medialen Inszenierung vor dem Bild und mit dem Schwert von Bolívar. Bolívar selbst muss als bürgerlicher Revolutionär und Kämpfer für nationale Befreiung verstanden werden. Eine zweifellos wichtige Person in der kolonialen Unabhängigkeitsbewegung – aber er war kein Sozialist, kämpfte nicht für ein alternatives Gesellschaftsmodell sondern es ging ihm um die Unabhängigkeit von Spanien. Er kam selbst aus der herrschenden Klasse, stützte sich auf diese und stellte sicher, dass die Macht auch in den Händen der neuen herrschenden Klasse – der nationalen Bourgeoisie im Gegensatz zu den ehemaligen Kolonialherren – blieb. Am Ende des Unabhängigkeitskrieges kamen die großen Familien der „Caudillos“ an die Macht.
Bis Mitte des 20igsten Jahrhunderts folgte eine Periode wechselnder Herrscher und Herrschaftsformen mit unterschiedlich starker Militärbeteiligung die v.a. von Instabilität geprägt war. Obwohl Venezuela damals wirtschaftlich weniger interessant war als heute, kam es zu einer verstärkten Annäherung an die USA, die sich im Konflikt Venezuelas mit europäischen imperialistischen Mächten (v.a. Britannien, aber auch Deutschland und Italien) zur Schutzmacht aufschwang.
Seit den 20er Jahren des 20igsten Jahrhunderts findet in Venezuela eine systematische Ausbeutung der umfangreichen Erdölvorkommen statt. Seit 1925 ist Öl das wichtigste Exportprodukt und dominiert zunehmend die Wirtschaft, andere Sektoren wurden in Folge vernachlässigt. Öl wurde zuerst privat gefördert, dann aber 1976 verstaatlicht. Die ehemaligen Besitzer – v.a. die US-amerikanische Standard Oil (2/3) und die britisch-holländische Shell-Gruppe – wurden großzügig entschädigt. Heute ist Venezuela der fünftgrößte Ölproduzent weltweit, produziert täglich mehrere Millionen Barrel Rohöl und ist einer der wichtigsten Öllieferanten der USA – was auch ein Grund für ihr Interesse (vor allem angesichts der unsicheren Lage im Nahen und Mittleren Osten) ist.
Punto Fijo und Jahrzehnte der zwei-Parteien Herrschaft
1958 wurde die blutige Diktatur von Marcos Perez Jiménez durch einen Volksaufstand mit Generalstreik gestürzt. In Folge verständigten sich die zwei großen Parteien – die „sozialdemokratische“ AD (Acción Democrática = Demokratische Aktion) und die christlichsoziale COPEI – auf den „Pacto de Punto Fijo“. Es handelte sich um die Einigung auf ein de facto 2-Parteien-Proporz-System das auch programmatische Punkte beinhaltete und SozialistInnen und KommunistInnen dezidiert ausschloss. Beim Sturz der Diktatur hatte die Kommunistische Partei eine zentrale Rolle gespielt, nun wurde sie aus dem politischen System ausgeschlossen. Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre kam es auch zur Verfolgung und Unterdrückung von Linken durch die „demokratischen“ Regierungen. Die „Demokratie“ in Venezuela zwischen 1958 und 1998 entsprach den Bedürfnissen der Wirtschaft und des US-Imperialismus. Venezuelas Demokratie wurde v.a. von den USA als Modell für andere lateinamerikanische Staaten präsentiert, da wundert es kaum, dass Venezuela zu einem Bündnispartner der USA gegen Kuba wurde. Bis in die 90er Jahre wechselten die Regierungen und Präsidenten zwischen AD und COPEI. Zwischen 1974 und 1993 stellten AD und COPEI zusammen 81% der Abgeordneten im Unterhaus und 88% im Senat. Bestandteil der Konsenspolitik war es auch, gewisse soziale Verbesserungen auch für die breite Bevölkerungsmehrheit zu finanzieren. Grundlage dafür waren Steuereinnahmen aus den Ölexporten. Die „Petrodollar“ – massiv steigende Staatseinnahmen durch den Ölpreisboom 1973-83, unterstützt durch die Verstaatlichung des Erdölsektors 1975/76 – schufen einen für Lateinamerika hohen Lebensstandard und eine große Mittelschicht. Trotz gewisser Verbesserungen auch für die ärmeren Schichten der Bevölkerung wanderte der Großteil des Ölreichtums auf die Konten der ausländischen Konzerne, in die Taschen der PolitikerInnen und der venezuelanischen herrschenden Klasse und wurde für Prestigeprojekte verschleudert.
Der „Schwarze Freitag“ und der neoliberale Wahnsinn
Am „Schwarzen Freitag“, dem 18.2.1983, brach der Ölpreis ein. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen für Venezuela waren dramatisch. Die Staatseinnahmen sanken, die Währung wurde abgewertet, die Staatsverschuldung explodierte, es folgten Kapitalflucht und sinkender Lebensstandard. Präsident Carlos Andrés Pérez von der AD war als Kandidat gegen Neoliberalismus gewählt worden. Er machte rasch eine 180-Grad-Wende und setzte mit dem „paquete economico“, einee brutal-neoliberalen Schocktherapie, ein IWF-Programm um. Es kam zur Deregulierung des Bankensektors, zu Privatisierungen und Outsourcing im Telekommunikationsbereich, bei Häfen, Fluglinien. Der Öl und andere strategisch wichtige Sektoren wurden für privates bzw. ausländisches Kapital geöffnet. Die Aufhebung der meisten Preiskontrollen führte am 27.2.1989 zum Ausbruch eines Volksaufstandes, dem „Caracazo“. Ausgehend von den Barrios, den Slums der Hauptstadt Caracas, gab es im ganzen Land tagelang Aufstände, Plünderungen, Proteststürme gegen die Einrichtungen des Staates und der herrschenden Klasse. Der Staat ging mit Militär und brutaler Gewalt gegen den Aufstand vor – die Todeszahlen schwanken zwischen den offiziellen Angaben von 287 und mehreren Tausend. Pérez konnte sich noch eine Zeit lang halten, wurde aber – wohl auch auf Betreiben der eigenen Leute, weil er zu unbeliebt geworden war – im Sommer 1993 suspendiert. Es folgte Rafael Caldera (Gründer der COPEI, aber nun als „unabhängiger“ Kandidat), der mit seiner „Agenda Venezuela“ den Neoliberalismus fortsetzte. Die Stahlindustrie wurde privatisiert, Pensions- und Gesundheitsversicherung für privates Kapital geöffnet. Die dramatischsten Folgen hatte aber die Reform der Arbeitsgesetzgebung, die zu einem weiteren Wachstum des schlechter bezahlten informellen Sektors führte und die bisherige Abfertigungsregelung de facto abschaffte (auf Grund des Fehlens von Arbeitslosenunterstützung waren Abfertigungen aber Überlebensnotwendig).
Die soziale Katastrophe
Die sozialen Auswirkungen waren verheerend. Binnen kürzester Zeit sank der Lebensstandard von 80% der Bevölkerung stark ab. 1978 galten 10% der Bevölkerung als arm, nur 2% als extrem arm. 1996 waren 86% arm, 65% extrem arm. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen sank zwischen 1980 und 1996 auf den Stand der 60er Jahre. Zwischen 1988 und 1997 wurden 15% aller Industriejobs vernichtet. Der informelle Sektor wuchs und umfasste Ende der 90er Jahre mehr als 50% der Beschäftigten. Im informellen Sektor ist aber auch das Einkommen um rund ein Drittel niedriger. 67% verdienten im selben Jahr weniger als zwei Dollar am Tag.
Die Mittelschicht verschwand weitgehend, die Reichen wurden immer reicher. In den 90er Jahren gab es in Venezuela das weltweit stärkste Wachstum von Ungleichheit. Das Einkommen der reichsten 5% betrug im Jahr 1997 das 53ig-fache des Einkommens der ärmsten 5%. Die reichsten 10% vereinigten auf sich 1998 33% des Volkseinkommens, nur 1% der Bevölkerung besaß 60% des Landes. Die galoppierende Inflation (1996: 103,2%) trug ihren Teil bei – die Reichen legten ihr Geld im Ausland an, die weniger Reichen und die Armen verloren alles. Auch der in Folge des ersten Irakkrieges Anfang der 90er Jahre wieder steigende Ölpreis konnte den Prozess nicht stoppen. Die niedrigen Einkommen sanken überproportional stark. Der Kaufkraftverlust des Mindestlohnes lag zwischen 1978 und 1994 bei zwei Drittel. Parallel zum Einbruch bei den Einnahmen der breiten Masse der Bevölkerung kürzte der Staat bei den Sozialausgaben. Zwischen 1980 und 1993 gingen die Sozialausgaben um 40% zurück (- 40% bei Bildung, – 70% bei Wohnen und Stadtentwicklung, – 37% bei Gesundheit) und lagen 1994 nur mehr bei 4,3% des BIP.
Kein Vertrauen ins Establishment
Die 90er Jahre waren geprägt von wachsender Ablehnung des Establishments. Korruption, Freunderl-/Vetternwirtschaft und Wahlbetrug gepaart mit der Arroganz der herrschenden Klasse und der sozialen Miesere entzogen AD und COPEI zunehmend die Unterstützung. 1989 kam es zu Veränderungen im Wahlsystem. Erstmals war die Direktwahl von Gouverneuren und BürgermeisterInnen möglich. In diesem Klima entstanden eine Reihe neuer Organisationen, Strukturen und Parteien. Die bekannteste damals, Causa R (Causa Radical = Radikale Sache), stellte von 1993-96 den Bürgermeister von Caracas und erhielt bei den Kongresswahlen 1993 20,7%. Als Causa R aber begann mit COPEI und anderen Parteien des Establishments zusammenzuarbeiten verlor sie rasch an Unterstützung. Auch die etablierten Parteien versuchten nun auf „unabhängige“ KandidatInnen und Listen zu setzen, aber der Abstieg von AD und COPEI konnte nicht gestoppt werden.
Chávez – der andere Kandidat
Bei den Präsidentschaftswahlen am 6.12.1998 trug Hugo Chávez mit 56 % der Stimmen den Sieg davon. Er hatte sich gegen die anderen KandidatInnen – den parteilosen Henrique Salas Römer, die ehemalige Miss Universum Irene Sáez und den AD-Vorsitzenden Luis Alfaro – durchgesetzt. Bei einer Umfrage im Herbst 1998 hatten 63% gemeint, sie wollen „radikale Reformen“, 27% wollten zumindest „teilweise Veränderung“ und nur 7% wollten „keine Veränderung mehr“. Hugo Chávez war der einzige, der diese Wünsche ausdrückte.
Bekannt geworden war Chávez durch einen Putschversuch von Teilen des Militärs, den er 1992 gegen den verhassten Präsidenten Pérez mitangeführt hatte. Als Teil der Führung einer aus Reihen des Militärs entstandenen Organisation (MBR 200), die von unterschiedlichen Ideen (den Guerilleros der 60er Jahre, der Causa R u.a. beeinflusst war) übernahm er in einer öffentlichen Stellungnahme im Fernsehen die Verantwortung für den Putschversuch vom 4.2.1992 (dem ein weiterer am 27.11. folgte). Seine ersten Worte waren: „Genossen, für heute haben wir versagt…“. Obwohl es ein militärischer Putschversuch war, gab es nicht nur Verbindungen in die Zivilbevölkerung sondern v.a. große Unterstützung im Volk. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis kandidierte er 1998 bei den Präsidentschaftswahlen. Sein zentrales Programm war eine neue Verfassung und damit der Bruch mit dem bisherigen politischen System. Als erster hatte er eine glaubwürdige Orientierung auf „das Volk“. Chávez kandidierte für ein Parteienbündnis diverser Oppositionsparteien, dem „Polo Patriotico“, in dem seine MVR (Bewegung für die fünfte Republik) die zentrale Kraft war. Er gewann und läutete damit den Beginn einer neuen Periode in Venezuela ein.
Perspektiven für ein sozialistisches Venezuela
Heute ist „Sozialismus“ in Venezuela allgegenwärtig. Hugo Chávez spricht vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, es gibt unzählige Wandmalereien und Plakate, die „Sozialismus“ zum Thema haben. Dies ist Ausdruck einer Veränderung, die international stattgefunden hat. Nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre wurde „Sozialismus“ zum Un-Wort, galt als schlecht, alt und überholt. 1992 erschien das Buch „Das Ende der Geschichte“ von Francis Fukuyama, einem Neoliberalen. Er meinte damit den endgültigen Sieg des Kapitalismus.
Spätestens seit Mitte der 90er Jahre begann mit der „Antiglobalisierungsbewegung“ (die sich gegen die Auswirkungen der „Globalisierung“, der schrankenlosen und immer intensiveren Ausbeutung der Menschen weltweit richtete) die erneute Suche nach Alternativen. Dies kanalisierte sich im Ausspruch „eine andere Welt ist möglich“. Was aber „anders“ bedeutet war sehr schwammig.
Seither hat sich viel getan. Die ArbeiterInnenbewegung ist erneut aktiv geworden, in einer Reihe von Ländern gab es Streiks und Generalstreiks. Es gab Aufstände und revolutionäre Erhebungen die Präsidenten stürzten – in Asien, Afrika und Lateinamerika, aber auch den ehemaligen Staaten der Sowjetunion. Die Diskussion um die Frage einer „anderen Welt“ hat sich weiter entwickelt. Dass ein Staatspräsident sich klar für Sozialismus ausspricht ist (wieder) neu und gibt der Entwicklung Dynamik.
Venezuela befindet sich in einem revolutionären Prozess, eine vollständige sozialistische Revolution ist es aber keineswegs. Bisher hat es keine grundsätzlichen Veränderungen in der Struktur des bürgerlichen (kapitalistischen) Staats gegeben. Wir haben die Entwicklung in Venezuela seit 1998 nicht nur beobachtet, sondern stehen der Entwicklung sehr positiv gegenüber. Aber als MarxistInnen ist es auch unsere Aufgabe, Schwächen und Fehler aufzuzeigen und unsere Sicht der Dinge darzulegen und dafür zu kämpfen.
Was bedeutet nun Sozialismus? Was versteht Chávez unter dem von ihm proklamierten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“? Was versteht die venezuelanische Bevölkerung darunter? Klar ist, das es um mehr Gerechtigkeit, um eine bessere Verteilung des Reichtums, um eine Ausrottung von Hunger geht. Aber viel genauer sind die Vorstellungen nicht. Aufgrund der Erfahrungen v.a. mit den USA kommt noch die Komponente der nationalen Unabhängigkeit, der Abgrenzung vom Imperialismus dazu. Alle diese Punkte sind wichtig, reichen aber für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft leider nicht aus. Der gute Wille allein errichtet keinen Sozialismus, das hat die Geschichte bewiesen. Auch Chávez ist alles andere als deutlich, wenn es darum geht, seinen „Sozialismus den 21. Jahrhunderts“ zu umreißen. Er sieht Castro (in dessen Kuba es keine ArbeiterInnendemokratie gibt) ebenso als Partner wie Lula (dessen Regierung in Brasilien von einem Korruptionsskandal erschüttert wird und der sich Massenprotesten wegen seiner neoliberalen Politik gegenübersieht). Es gibt positive Bezüge zu Putin (der massiven Demokratieabbau betreibt und eine Krieg in Tschetschenien führt) und die Errichtung einer lateinamerikanischen Freihandelszone ALBA. Die Idee, die lateinamerikanische Wirtschaft zu stärken und unabhängiger von den USA zu machen ist aber weder neu, noch sozialistisch solange sie im Rahmen kapitalistischer Spielregeln bleibt.
Chávez, der unter dem Druck der Massen nach links gegangen ist, hat kein klares sozialistisches Programm. Für eine Entwicklung zum Sozialismus ist aber ein solches notwendig. Die Frage von ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung, von Vergesellschaftung der Wirtschaft und Enteignung der Kapitalisten, von antiimperialistischer Zusammenarbeit mit der internationalen ArbeiterInnenklasse und nicht mit den Präsidenten anderer Staaten und die Verteidigung gegen Angriffe von Imperialismus und heimischer Reaktion durch die ArbeiterInnenklasse, die Jugend und die arme Bevölkerung sind zentral. Eine automatische Entwicklung zum Sozialismus ist nicht möglich. Es ist entweder ein bewusster revolutionärer Schritt zum Sozialismus mit dem aktiven Sturz des Kapitalismus oder es besteht die Gefahr, dass der Prozess scheitert und es eine Rückkehr zu neoliberaler Politik (oder weniger wahrscheinlich eines Regimes wie in Kuba, gestützt durch die Öleinnahmen) gibt.
Ein solches Programm zu entwickeln und auf einen solchen, bewussten Sturz des Kapitalismus und die Errichtung einer demokratischen, sozialistischen Gesellschaft hinzuarbeiten, darin besteht die Aufgabe von revolutionären SozialistInnen heute. Auf den kommenden Seiten wird versucht, Perspektiven für die Entwicklung, Ansätze für ein Programm und einen Überblick über die AkteurInnen zu geben.
Hugo Chávez und seine Reformen
Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez hat sich viel getan in Venezuela. Es gibt eine Alphabetisierungskampagne wo LehrerInnen in die Provinzen geschickt werden – über eine Million Menschen lernten lesen und schreiben. 3200 neue Schulen wurden eröffnet, mit der UBV eine neue Form von Universitäten geschaffen, die breiteren Schichten den Zugang zu höherer Bildung ermöglicht. Tausende kubanische ÄrztInnen arbeiten in den Elendsvierteln, es wurden neue Krankenhäuser für die armen Teile der Bevölkerung errichtet und Millionen haben erstmals Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsvorsorge. Drei Millionen Hektar staatliches Land wurde Bauern-Kooperativen übergeben. Es gibt Kredite für sozialen Wohnbau, Schulbesuch und Schulessen werden subventioniert. Der Mindestlohn wurde erhöht und die Beschäftigten des informellen Sektors ins Sozialwesen integriert. Anfang 2005 kam ein neues Element dazu: die in Konkurs gegangenen Papierfabrik Venepal wurde verstaatlicht und die 13.000 Hektar große Ranch, des britischen Fleischindustriellen Lord Vestey, enteignet.
Einen weiteren Schritt in der „bolivarischen Revolution“ stellt die neue Verfassung von 1999 dar, die Menschenrechte, die Rechte der indigenen Bevölkerung und Umweltschutz beinhaltet. Auch Formen direkter Demokratie sowie ein Verbot der Privatisierung des staatlichen Ölkonzernes PdVSA und die Einbeziehung des informellen Sektors in das Sozialsystem stehen in der neuen Verfassung.
Die Reaktion schlägt zu
Die „bolivarische Revolution“ lässt niemanden kalt. Neben glühenden BefürworterInnen gibt es wütende GegnerInnen – allen voran die herrschende Klasse in Venezuela selbst und in den USA. Venezuela gehört zu ihren wichtigsten Öllieferanten und ein radikal-populistisches Modell, wie es Chávez umzusetzen versucht, stößt bei den ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und den Armen in ganz Lateinamerika auf Interesse und Sympathie.
Nach besorgten Meldungen aus Washington und von der Wall Street nach der Wahl von Hugo Chávez 1998 folgten konkrete Schritte. Am 11.4.2002 griff die Opposition zum Mittel des Putsches. Die Opposition übernahm mit Unterstützung von Teilen des Militärs die Macht, der Präsident des Arbeitgeberverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona, erklärte sich zum Übergangspräsidenten und löste die Nationalversammlung auf. Die Medien, fast durchwegs in der Hand der Opposition, verbreiteten bewusst Falschinformationen, erklärten den Rücktritt von Hugo Chávez, die USA beeilte sich, die neue „Regierung“ anzuerkennen. Gegen Chávez-AnhängerInnen wurde mit Gewalt vorgegangen. Aber die Unterstützung in der Bevölkerung für Hugo Chávez und seine Politik war zu groß. Es kam zu Massendemonstrationen und Streiks für den Präsidenten, Teile des Militärs unterstützen ihn weiterhin und schon am 14.4.2002 nahm er die Amtsgeschäfte wieder auf. Der Putsch ist gescheitert – dank der Aktionen der Massen der ArbeiterInnen und Armen in Venezuela. Chávez setzte nach dem Putsch auf De-Eskalalation, begnadigte die Putschisten und gab ihnen damit die Gelegenheit, sich neu zu formieren und die nächsten Schläge vorzubereiten.
Im Dezember 2002 folgte der zweite Akt. Die Opposition versuchte in der bis dahin längsten Aussperrung der venezuelanischen Geschichte (sie hatte es 2001 schon einmal probiert) die Regierung wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Offiziell nannten sie es „Streik“, ein Begriff der auch von der Weltpresse aufgenommen wurde – wohl um Sympathie zu erzeugen. Tatsächlich organisierten der Unternehmerverband gemeinsam mit dem Management und den leitenden Angestellten des staatlichen Erdölkonzerns PdVSA (mehr dazu weiter unten) eine Aussperrung, heute bekannt unter „Paro Civil“. V.a. weil die Produktion von den ArbeiterInnen in der Erdölindustrie eigenständig weitgehend aufrechterhalten wurde scheiterte auch dieser Versuch das Regime zu stürzen nach zwei Monate. Die wirtschaftliche Sabotage kostete dem Staat aber geschätzte 40 Milliarden US-$ und riss ein tiefes Loch in die Staatskasse.
Im August 2004 versuchte es die Opposition durch ein Abwahlreferendum. Die neue Verfassung von 1999 beinhaltet auch die Möglichkeit, PräsidentInnen in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit abzuwählen (wenn der/die AmtsinhaberIn bei einem solchen Referendum weniger Stimmen erhält als bei der ursprünglichen Wahl). Davon machte die Opposition Gebrauch. Im Vorfeld des Referendums versuchte die Opposition die Stimmung im Land gegen Chávez aufzuheizen, u.a. in dem sie die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Basisgütern destabilisierte (eine Taktik die die KapitalistInnen auch in Chile Anfang der 70er Jahre gegen Allende eingesetzt hatten). Sie nutzten die fast vollständig von der Opposition kontrollierten Medien und griffen zu Wahlbetrug (so befanden sich unter den von der Opposition zur Einleitung des Abwahlreferendums eingebrachten Unterschriften auch wiederholt welche von Menschen, die schon lange Tot waren) – trotzdem konnte sich Hugo Chávez auch diesmal durchsetzen. Bei einer für venezuelanische Verhältnisse sehr hohen Wahlbeteiligung von 70% stimmten 58,25% gegen eine Amtsenthebung und damit für Chávez. Selbst der als Wahlbeobachter anwesende ehemalige US-Präsident Jimmy Carter musste den einwandfreien Ablauf des Referendums bestätigen.
Schon im Mai 2004 flogen in Venezuela 130 rechtsextreme kolumbianische Paramilitärs auf, die die Regierung destabilisieren sollten, im Dezember 2004 folgte eine neuerliche Provokation (Kolumbien ist der engste Bündnispartner der USA in der Region).
Die Opposition erhielt stets Unterstützung von Seiten der USA, praktischer und finanzieller Natur. Seit 2001 wurden von den USA durch verschiedene Kanäle, u.a. USAID, mehr als 20 Millionen Dollar an Gruppen und Organisationen der venezuelanischen Opposition gezahlt. Die Regierung Bush (aber auch die Demokratische Partei) hat sowohl den Putschversuch, als auch die Aussperrungen unterstützt. Condoleezza Rice warnte vor dem US-Senat, dasss die Regierung Chávez „eine große Gefahr für die ganze Region darstellt“ und dass die USA „nicht teilnahmslos zu dem stehen können, was Venezuela hinter der eigenen Grenze macht“.
Was tun beim nächsten Mal?
Alle Versuche der Opposition Chávez zu stürzen sind bisher gescheitert. Im Gegenteil haben Chávez und seine BündnispartnerInnen seit 1998 jede Wahl und Abstimmung gewonnen. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Opposition sich zurückzieht und meint „Ok, Du hast gewonnen“. Im Gegenteil muss mit weiteren Destabilisierungsversuchen bzw. Sturzversuchen gerechnet werden. Aber wie können diese in Zukunft zurückgeschlagen werden? Wer sind dabei BündnispartnerInnen? Und wie kann der revolutionäre Prozess weitergehen und umfassende Verbesserung für die gesamte venezuelanische Bevölkerung bringen?
Vergesellschaftung statt Verstaatlichung
Die Verstaatlichung der Papierfabrik Venepal und der Ventilfabrik CNV, die Enteignung der Vestey-Ranch Anfang 2005 sind gute, erste Schritte. Aber sie reichen nicht aus. Chávez und seine Regierung haben zur Zeit kein Programm, das auf den Sturz des Kapitalismus hinarbeitet. Im Gegenteil machte der Minister für Grundstoffindustrie und Bergbau, Victor Alvarez, im August 2005 klar, dass es keine Welle von Enteignungen geben wird. „Wir legen nur eine Priorität auf Soziales vor dem Kapital. Aber kapitalistische Unternehmen und soziale Produktion können nebeneinander existieren“. Bei den Verstaatlichungen geht es zur Zeit um Unternehmen, die schon in Konkurs sind bzw. knapp davor stehen. Es geht eher um die Arbeitsplatzsicherung (was an sich nicht schlecht ist) als um ein grundlegend anderes Wirtschaftsmodell. Chávez macht nach der Enteignung von Venepal klar: „Die Enteignung von Venepal ist eine Ausnahme, keine politische Maßnahme der Regierung…Nur die Firmen, die geschlossen und aufgegeben werden. An diese werden wir rangehen.“ Obwohl von Sozialismus die Rede ist und die Brutalität von Neoliberalismus aber auch dem Kapitalismus selbst angeprangert wird, wird Kapitalismus an sich nicht in Frage gestellt. Die neue Verfassung von 1999 beinhaltet auch die Anerkennung des Marktes und des freien Wettbewerbes.
Zur Zeit geht es eher um die Errichtung eines starken staatlichen Sektors der korrigierend eingreift, eine Art Parallelwirtschaft zum unangetastet bleibenden Kapitalismus. Es werden neue, staatliche Banken gegründet, die v.a. Kleinkredite vergeben sollen. Eine Kreditform, die auch in der sogenannten „3.Welt“ eingesetzt wird mit dem Ziel, dass die armen Teile der Bevölkerung sich als KleinstunternehmerInnen selbstständig machen können. Meist sind es Frauen, die in „traditionellen“ Berufen Fuß fassen sollen. Geworben wird auch hier mit einer Frau an der Nähmaschine. Schon jetzt aber arbeiten rund 50% der Bevölkerung im informellen Sektor, d.h. mit niedrigeren Löhnen und noch mieserer sozialer Absicherung als in der Industrie oder im öffentlichen Dienst. Nach dem Paro Civil organisierte der Staat einen „alternativen Markt“ für Konsumgüter um die Opposition künftig daran zu hindern, das Volk im wahrsten Sinn des Wortes auszuhungern. Die „Misión Mercal“ bietet v.a. Basisgüter (aber zunehmend auch andere Konsumgüter) zu Preisen unter denen der Privaten an. Es ist im wesentlichen ein Konsumsystem, bei dem die um 20-70 % günstigeren Preise v.a. durch den Masseneinkauf und den Wegfall der Zwischenhändler möglich sind. Heute kaufen knapp 50% der Bevölkerung bei Mecal ein. Auch im Bereich der Information wurde der staatliche TV-Sender ausgebaut und soll mit Telesur ein lateinamerikanischer Sender errichtet werden, der die „bolivarische Revolution“ über die Grenzen hinaus verbreitet. Viel davon hat die Lebensumstände von Teilen der Bevölkerung verbessert – kann aber alles auch wieder rückgängig gemacht werden und hat die Armut nicht beendet.
Bis jetzt hat die Chávez-Regierung die kapitalistischen Unternehmen de facto unangetastet gelassen. In Chile in den 70er Jahren war der revolutionäre Prozess wesentlich weiter fortgeschritten. Allende hatte insgesamt 40% der Wirtschaft verstaatlicht. Aber er lies den bürgerlichen Staat unangetastet. Er hoffte, das Chile ohne revolutionären Umsturz – einfach durch Wahlen und Abstimmungen – zum Sozialismus gelangen könne. Die herrschende Klasse – mit Unterstützung der USA – aber kümmerte sich nicht um demokratische Spielregeln und setzte auf einen blutigen Putsch. In Folge wurde eine brutale Militärdiktatur errichtet, die als Spielwiese für neoliberale Ökonomen herhalten musste. Verstaatlichung ist ein erster wichtiger Schritt, aber solange der Kapitalismus an sich und der bürgerliche Staat unangetastet bleibt, nicht ausreichend, um Armut und Ungerechtigkeit zu beseitigen.
Auch die staatliche Ölgesellschaft PdVSA macht deutlich, dass Verstaatlichung allein noch nichts löst. Die PdVSA hat jahrzehntelang als „Staat im Staat“ agiert. Nach der Verstaatlichung in den 70er Jahren blieb das Management gleich und setzte sich zum Ziel, so unabhängig wie möglich vom Staat zu werden. Dies wurde v.a. durch Firmenbeteiligungen im Ausland und komplizierte Konstrukte sehr weit getrieben. Das Management macht Druck in Richtung Privatisierung und Lösung von der OPEC. Und sie waren erfolgreich: während in den 1970er Jahren noch ca. 80% der PdVSA-Einnahmen an den Staat gingen, lag dieser Wert in den 90er Jahren nur mehr bei 20%. Management und die leitenden Angestellten der PdVSA waren Teil der Opposition und beteiligt an Putsch, Aussperrung und Sabotage.
Das Einsetzen eines neuen Managements war daher auch ein wichtiger – und hart erkämpfter – Teil der Chávez’schen Reformen. Während der Aussperrung hatten die ArbeiterInnen in der Ölindustrie die Produktion weitgehend selbst organisiert und – trotz Sabotage durch die leitenden Angestellten – zu rund 80% aufrecht erhalten. Sie haben damals ein Gefühl davon vermittelt, wozu die ArbeiterInnenklasse in der Lage ist. Diese damalige ArbeiterInnenselbstverwaltung wurde aber nach Ende der Aussperrung wieder beendet.
Die Ölindustrie ist ein Plus, aber auch ein Schwachpunkt der venezuelanischen Wirtschaft. Der Boom in den 1970er Jahren und der darauffolgende Preisverfall haben die enorme Abhängigkeit vom Ölpreis gezeigt – mit all ihren sozialen Folgen. Das momentane historische Hoch des Ölpreises hilft dem Regime Chávez (nach Einbrüchen der Wirtschaft nach seinem Amtsantritt – auch als Folge der Aussperrung – wächst die Wirtschaft nun). Es bietet enorme Zusatzeinnahmen, die für Sozialprojekte aber auch seine Außenpolitik verwendet werden können (Chávez sucht Bündnispartner in Lateinamerika auch durch die günstigere Lieferung von Öl). Aber was geschieht bei einem sinkenden Ölpreis? Die PdVSA kommt für rund 30% des BIP und rund 80% der Exporte auf. 50% der öffentlichen Ausgaben werden aus den PdVSA-Gewinnen finanziert.
Manche meinen, das der hohe Ölpreis auf eine bewusste Politik der Chávez-Regierung in der OPEC zurückzuführen ist. Sie leiten daraus ab, dass der Ölpreis auch weiterhin durch eine solche Politik hoch gehalten werden kann (es ist das erklärte Ziel der venezuelanischen Regierung den Ölpreis auf 40-50$ pro Barrel zu halten). Einmal abgesehen davon, dass ein hoher Ölpreis für die Weltwirtschaft eine bremsende Wirkung hat und ein Angriff auf den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse in den nicht ölproduzierenden Staaten ist, ist diese Theorie an sich zu hinterfragen. Die wesentlichen Faktoren für den heutigen hohen Ölpreis ist die enorme Nachfrage der überhitzten chinesischen Wirtschaft und die instabile Lage im Nahen und Mittleren Osten. Auch wenn eine Stabilisierung der Region auch künftig kaum zunehmen wird ist doch fraglich, wie lange der Boom der chinesischen Wirtschaft noch anhalten wird. Bei einer wirtschaftlichen Krise, einem Rückgang der Produktion mit allen seinen Folgen für die Weltwirtschaft und für die ArbeiterInnenklasse würde das auch den Ölpreis drücken. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass ein wesentlicher Teil der Ölproduktion außerhalb der OPEC-Staaten stattfindet und daher der Preis nicht allein von der OPEC fixiert wird.
Die Konzentration auf die Ölindustrie ist daher Schwachpunkt der venezuelanischen Wirtschaft. Der Versuch der Chávez-Regierung, einen lateinamerikanischen Wirtschaftsraum zu errichten können diese Schwächen nicht grundlegend überwinden. Nur wenn der Kapitalismus in Venezuela gestürzt wird und Venezuela Teil einer sozialistischen Staatenföderation in Amerika wird kann der Reichtum des Landes und der Region zum Wohle der Menschen eingesetzt werden. Auch heute noch sind 70-80% der Menschen in Venezuela arm. Die Sozialmaßnahmen der letzten Jahre sind eine Verbesserung – aber sie reichen nicht. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei über 20%, der informelle Sektor ist noch immer dominierend.
Die Regierung Chávez hat zwar noch große Unterstützung, ist aber keineswegs unumstritten. Bei den Kommunalwahlen am 7.8.2005 lag die Enthaltung bei rund 70%. Die Regierungsparteien gewannen zwar 80% aller Sitze, aber die revolutionäre Begeisterung ist im Gegensatz zu 2002 und 2004 abgeflaut. Kritik wird auch an der wachsenden Korruption und Bürokratie laut und an der undurchsichtigen KandidatInnenauswahl. Es ist möglich, dass die Konterrevolution eine solche Stimmung ausnützt. Vielleicht für einen weiteren Putschversuch, aber vielleicht auch um sich in den Reihen der Bolivarischen Bewegung – die sehr inhomogen ist – BündnispartnerInnen zu suchen. Immer wieder laufen ehemalige UnterstützerInnen und auch Abgeordnete zur Opposition über. Hier kann auch die Möglichkeit einer „demokratischen Konterrevolution“ entstehen, wenn die Unzufriedenheit wächst, weil die Veränderungen nicht weit genug gehen. Insbesondere durch Währungsabwertungen hat die verbliebene Mittelklasse ihr restliches Vermögen verloren. Hatte Chávez Anfangs die Unterstützung einer bedeutenden Schicht der Mittelklasse, hat er diese nun verloren. Nur sozialistische Maßnahmen können diese Unterstützung zurückgewinnen, ansonsten sind die Mittelklassen ein potentielles Rekrutierungsfeld für die Reaktion.
Es kann auch sein, dass Chávez unter dem Druck der Massen weiter getrieben wird. Eine Entwicklung wie in Kuba, dass durch eine kleine Elite stellvertretend für die ArbeiterInnenklasse der Kapitalismus gestürzt und die Macht übernommen wird, ist aufgrund der geänderten internationalen Rahmenbedingungen (1959 gab es mit den stalinistischen Staaten noch eine starke Systemalternative und damit einen Bündnispartner gegen den Imperialismus) eher unwahrscheinlich, kann aber nicht ausgeschlossen werden.
Venezuela braucht eine Regierung der ArbeiterInnen und BäuerInnen mit einem revolutionär-sozialistischem Programm, dass die Profitlogik des Kapitalismus nicht akzeptiert sondern sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Die bisherigen Enteignungen sind zu begrüßen – aber warum dabei stehen bleiben? Warum nur die bankrotten Betriebe übernehmen und die profitablen in den Händen der herrschenden Klasse lassen? Nach dem von den Armen und der ArbeiterInnenklasse zurückgeschlagenen Putsch wäre dieser Schritt angestanden. Die wichtigsten Banken und Finanzinstitutionen – national und international – müssen ebenso wie die Medien unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle und – verwaltung vergesellschaftet werden. Ein wirtschaftlicher Notfallplan muss aufgestellt werden. Nur eine demokratisch geplant und verwaltete Wirtschaft kann Armut und Elend beenden und verhindern, dass sich die Reaktion neu formiert und zum nächsten Schlag ausholt.
Für echte ArbeiterInnendemokratie
Im Laufe des Jahres 2005 wurde ein neuer Begriff in die Diskussion eingefügt: „Cogestión“. Darunter ist wohl am ehesten ArbeiterInnenmitbestimmung zu verstehen. Es erinnert ein bisschen an die Diskussion in der europäischen Gewerkschaftsbewegung in den 70er und 80er Jahren über „Mitbestimmung“, „Selbstverwaltung“ etc. Auch wenn manche unter „Cogestión“ gerne ArbeiterInnenkontrolle und ArbeiterInnenverwaltung verstehen wollen – und wohl auch manche ArbeiterInnen diese Vorstellung haben – ist es nicht das, was von offizieller Seite darunter verstanden wird. Genannt werden von RegierungsvertreterInnen u.a. Staatsbesitz und Einbeziehung der Beschäftigten ins Management oder auch die Ausgabe von Anteilen und Zahlung von Dividenden an die Beschäftigten und die Gemeinschaft. Chávez selbst bietet im Austausch für Cogestión finanzielle Unterstützung durch den Staat für die Betriebe an.
Eine sozialistische Gesellschaft braucht aber mehr, als ein paar Elemente von Mitbestimmung, sie braucht echte ArbeiterInnenkontrolle und ArbeiterInnenverwaltung. Tatsächlich gab es Elemente von ArbeiterInnenkontrolle und ArbeiterInnenverwaltung im Zuge der Aussperrung 2002, als eine Reihe von Betrieben von den ArbeiterInnen besetzt wurden und insbesondere in der PdVSA die ArbeiterInnen die Produktion auch gegen die Anordnungen des Managements und trotz der Sabotageversuche am Laufen hielten. Auch in einer Reihe bankrotter Betriebe – z.B. in der nun verstaatlichten Papierfabrik Venepal gab es diese Ansätze. Sie haben sich aber unabhängig vom Regime Chávez entwickelt.
Auch die neue Verfassung hat nicht nur positive Elemente. Neben den Elementen direkter Demokratie die eingeführt wurden kam es auch zu einer stärkeren Stellung des PräsidentInnenamtes und das Wahlrecht wurde von einem Verhältniswahlrecht zu einem Mehrheitswahlrecht verändert (das große Parteien stark bevorzugt).
Während der sozialen und wirtschaftlichen Krise in den 80er und 90er Jahren entstanden eine Vielzahl von NGO’s bzw. Nachbarschaftskomitees. Die „Bolivarischen Zirkel“ und die „Misiones“ schließen an diese Tradition an. Hier kommen Menschen zusammen, hier wird über Probleme diskutiert und Sozialprojekte werden organisiert. Es geht v.a. um regionale Themen und Probleme, nicht um die Mitentscheidung bei überregionalen oder staatlichen Themen. Aufgrund der Erfahrungen mit der jahrzehntelangen Zwei-Parteien-Herrschaft und der massiven Korruption und Freunderl/Vetternwirtschaft herrscht eine große Sensibilität zu diesen Fragen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Kritik an der wachsenden Bürokratie laut wird. Laufend werden neue Ministerien geschaffen, viele AktivistInnen und UnterstützerInnen des Regimes finden hier einen Job. Besonders im öffentlichen Dienst wurden Jobs geschaffen. Die öffentlich Bediensten der Stadt Caracas – Straßenreinigung etc. – tragen als Arbeitskleidung meist rote T-Shirts mit diversen Pro-Chavez-Slogans. Nähe zum Regime ist bei der Jobsuche hilfreich. Ein Faktum, das keinem, der jahrelang arbeitslos war und froh ist, endlich einen Arbeitsplatz zu haben, vorgeworfen werden kann, aber eine Grundlage für Korruption und Bürokratie.
Ein Grund für die Sensibilität gegenüber Korruption und Bürokratie sind auch die Erfahrungen mit dem Gewerkschaftsverband CTV. Jahrzehntelang dominierte dieser auch mit Hilfe staatlicher Repression gegenüber kritischen GewerkschaftsaktivistInnen die Gewerkschaftsbewegung. Der extrem AD-nahe CTV war Teil des Punto Fijo. Er trug die neoliberalen Maßnahmen der 80er und 90er Jahre voll mit. Die CTV-Führung unterstützte Putsch, Aussperrung und Abwahlreferendum (und stellte sogar zwei Minister in der 48-Stunden-Putsch-Regierung). In vielen Bereichen – u.a. in der PdVSA – sorgte die CTV auch lange dafür, dass nur ihr genehme ArbeiterInnen Jobs erhielten. Die CTV ist eine zutiefst undemokratische Organisation. Als Folge der neuen Verfassung von 1999 mussten 2001 erstmals gewerkschaftsinterne Wahlen stattfinden. In der CTV war der Wahlbetrug derartig enorm, dass sich sogar der Präsident des CTV-Wahlvorstandes, ein Anhänger der Opposition, weigerte, das Ergebnis bekannt zu geben. Carlos Ortega, später Putschteilnehmer, erklärt sich dann selbst zum neugewählten Vorsitzenden.
Obwohl in den letzten Jahren eine gewisse Umorientierung der CTV stattgefunden hat, hat sie zunehmend an Bedeutung verloren. Die Erfahrungen mit der CTV sind auch der Grund für den niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von ca. 20%. Spätestens seit der Gründung des „bolivarischen“ Gewerkschaftsverbandes UNT befindet sich die CTV am absteigenden Ast, auch viele Gewerkschaften die bisher zum CTV gehörten schlossen sich dem UNT an. Deutlich wurde das u.a. bei den Maiaufmärschen 2005. Am CTV-Aufmarsch nahmen ca. 400 teil, dem UNT-Aufruf folgten Hunderttausende.
Auch wenn die ArbeiterInnenklasse lange v.a. durch die CTV in der Passivität gehalten wurde, so gibt es doch kämpferische Traditionen. 1936/37 gab es einen ÖlarbeiterInnenstreik gegen „imperialistische Ölgesellschaften“, 1950 und 1958 Streiks gegen die Diktatur Jiménez, letzterer erfolgreich. Auch Repression und Verfolgung können die Aktivitäten aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse nicht beenden. In den 40er Jahren sind rund 40.000 politische und gewerkschaftliche AktivistInnen verschwunden oder ermordet worden. Auch in der Phase der Demokratie sahen sich gewerkschaftliche AktivistInnen mit Verboten und Repression konfrontiert. Unter den Opfern der staatlichen Repression nach dem Caracazo 1989 waren unzählige GewerkschafterInnen. Trotzdem wurden Putsch und Aussperrungen gegen die Chávez-Regierung durch die Aktionen der ArbeiterInnenklasse vereitelt. Die Bedeutung der ArbeiterInnenklasse im revolutionären Prozess ist dabei deutlich geworden. Nur die ArbeiterInnenklasse ist aufgrund ihrer Erfahrungen mit kollektiver Organisierung im Betrieb, aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess, in der Lage eine sozialistische Revolution durchzuführen und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten.
Die Unterstützung für Hugo Chávez und seine Politik ist nach wie vor sehr groß. Chávez als Ikone, Werbeartikel und Hoffnungsträger. Chávez in allen Größen als Poster, in Staatsrobe vor einem Bild von Bolìvar, Chávez auf T-Shirts, auf Schlüsselanhängern, auf kleinen handlichen Bildchen für die Geldbörse. Chávez -Reden auf CD. Die Begeisterung für die Veränderungen in Venezuela ist nachvollziehbar und verständlich. Der oft unkritische Personenkult – der vor allem von ausländischen UnterstützerInnen betrieben wird – ist aber etwas anderes.
Chávez ist zweifellos eine zentrale Person in diesem Prozess, aber weder die einzige, noch unfehlbar. Chávez kann die Organisierung und die Bewegung der ArbeiterInnenklasse nicht ersetzen. Chávez ist weder unfehlbar, noch ist es nur die Frage falscher oder richtiger BeraterInnen. Ein revolutionärer Prozess aber braucht mehr, um erfolgreich sein zu können. Die ArbeiterInnenklasse ist nicht nur höchst lebendig sondern hat auch immer wieder ihre Fähigkeit gezeigt, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Für eine sozialistische Zukunft braucht Venezuela daher nicht nur ArbeiterInnenmitbestimmung sondern die Verwaltung und Kontrolle der Unternehmen und der Wirtschaft durch die ArbeiterInnenklasse und ihre Organe, demokratische Gewerkschaften und revolutionäre Parteien. Die bereits existierenden Basisstrukturen müssen um Delegierte aus Betrieben und Stadtteilen erweitert werden. Die Elemente von ArbeiterInnendemokratie, die es in den Betrieben gibt müssen ausgebaut und zu echten ArbeiterInnenkomitees zur Verwaltung und Kontrolle der Betriebe ausgebaut werden. Die ArbeiterInnen in den Betrieben müssen den täglichen Ablauf jeder Fabrik und jedes Unternehmens übernehmen. Ein solch demokratisches System muss es auch in der Landwirtschaft geben. Dies muss verbunden werden mit einem System von demokratischer ArbeiterInnenkontrolle und – verwaltung über die gesamte Wirtschaft. Die Verwaltung der verstaatlichten Unternehmen müssen aus gewählten RepräsentatntInnen der ArbeiterInnen der Industrie, der ArbeiterInnenregierung und der UNT gebildet werden. Alle gewählten Delegierten müssen jederzeit wähl- und abwählbar sein. Sie dürfen nicht mehr als einen durchschnittlichen FacharbeiterInnenlohn verdienen – das gilt für VertreterInnen auf allen Ebenen. Auch im Militär müssen Komitees einfach SoldatInnen aufgebaut werden, die damit anfangen alle Vorgesetzten, die die Reaktion unterstützen, zu entfernen und ein System zur Wahl der Vorgesetzten einzuführen. Diese Komitees müssen auf bezirks- und stadtweiter, auf lokaler, regionale und nationaler Ebene vernetzt werden und bilden die Basis für eine Regierung der ArbeiterInnen und BäuerInnen.
Für die Verteidigung der Revolution durch die ArbeiterInnenklasse
Der momentane revolutionäre Prozess in Venezuela wird permanent bedroht. Von der einheimischen herrschenden Klasse, unterstützt von den herrschenden Klassen in anderen lateinamerikanischen Ländern die das Beispiel fürchten und den herrschenden Klassen der imperialistischen Staaten (ganz vorne die USA). Bisher konnten alle Versuche, das Regime zu stürzen verhindert werden. 2004 sprach Chávez erstmals von Volksmilizen. Eine gute Idee – der aber keine konkreten Schritte folgten. Ein Argument, dass häufig genannt wird – auch als Unterschied zu Chile 1973 – ist, dass die Armee in Venezuela auf Seiten des Volkes steht. In Chile war die linke Regierung durch einen Militärputsch gestürzt worden. Kurz davor hatten 500.000 ArbeiterInnen bei einer Demonstration vor dem Präsidentenpalast Waffen gefordert, um Allende und den revolutionären Prozess zu verteidigen. Die Führung antwortete, die Waffen würden verteilt, sobald „die Zeit reif ist“. Als der Putsch kam, hatten sie keine Waffen und wurden abgeschlachtet.
Richtig ist, dass Chávez selbst und wichtige Teile der jetzigen politischen Führung aus dem Militär kommen. Als Folge der Militärpolitik der 70er Jahre, die einerseits die militärische Laufbahn auch für sozial Schwache öffnete und andererseits Offiziere auf öffentliche Universitäten schickte und sie somit in Kontakt mit der Zivilbevölkerung brachte, gab und gibt es im Militär große Teile, die sich der armen Bevölkerung nahe fühlen. Als das Militär 1989 zur Niederschlagung des Caracazo eingesetzt wurde war das ein Grund für Unmut in den Reihen des Militärs, den auch Teile des Militärs litten unter dem staatlichen Kürzungsprogramm. Die 1982 als militärische Geheimorganisation gegründete MBR 200, und in Folge die heutige Chávez-Partei MVR, haben starke Wurzeln im Militär. Teil des Plan Bolivar 2000 ist es das Militär auch bei diversen Sozialmaßnahmen einzusetzen. So weit, so gut.
Aber das Militär ist keine homogene Masse. Teile haben während des Putsches 2002 Chávez unterstützt – aber Teile waren auch auf Seiten und aktiver Teil der Putschisten. Auch in der Regierung gibt es unterschiedliche Flügel. Manchen ist er Prozess schon weit genug, oder sogar zu weit gegangen. Manche möchten es sich „gut“ mit den USA stellen, weil sie keine andere Perspektive sehen.
Kommende Auseinandersetzungen über den Kurs werden sich zweifellos auch im Militär niederschlagen. „Das Militär“ als ganzes ist also kein Bündnispartner, Teile davon aber sicher. Aber die Sturzversuche der Opposition der Vergangenheit haben deutlich gemacht, dass das Militär alleine nicht ausreicht. Nur durch das aktive Eingreifen der ArbeiterInnenklasse konnten sie gestoppt werden. Bis jetzt hat das ohne eine Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse funktioniert (allerdings auch Todesopfer gefordert). Das kann bei künftigen Angriffen zu wenig sein.
Die Organisierung der ArbeiterInnenklasse in Selbstverteidigungskomitees ist daher notwendig. Bedeutet das eine Militarisierung der Gesellschaft? Wird sie dadurch unsicherer? Keineswegs! Waffen sind in Venezuela weit verbreitet. Schießerein auf offener Strasse allgegenwärtig. Auch Teile von Polizei und Armee sind in Gewalt gegen die Bevölkerung verwickelt. Nur in demokratischen Selbstverteidigungskomitees kann Venezuela sicherer gemacht werden und vor neuerlichen Putschversuchen oder auch einer eventuellen militärischen Intervention von außerhalb geschützt werden.
Die ArbeiterInnenklasse Venezuelas und die Basis der Armee müssen die konkreten notwendigen Schritte unternehmen, um eine bewaffnete ArbeiterInnenmiliz zu schaffen. Die SoldatInnen müssen Basiskomitees wählen und beginnen Waffen an ArbeiterInnenselbstverteidigungstrupps zu verteilen, die zusammengestellt werden müssen. Diese SoldatInnenkomitees sollten auch ein System entwickeln, ihre Offiziere zu wählen und die, welche mit den rechten pro- putschistischen Kräften sympathisiert haben, abzusetzen. Einige pro- putschistische Offiziere sind bereits abgesetzt worden, aber das muss nun ausgeweitet werden. Jeder Offizier, der sich zur Wahl stellt, muss jederzeit wieder durch die gewählten Komitees der Basissoldaten abwählbar sein können. Jede Fabrik, jeder Betrieb und Slum muss eine Selbstverteidigungstruppe organisieren, diese müssen vernetzt und Teil einer sozialistischen Regierung der ArbeiterInnen und BäuerInnen sein.
Für internationale Solidarität der Millionen
Sozialismus in einem Land ist nicht möglich. Wirtschaftlich nicht, aber auch nicht, weil es rasch militärisch überrannt werden würde, weil der Imperialismus so ein Beispiel nicht zulassen kann. Völlig richtig daher, dass Chávez sich international nach BündnispartnerInnen umsieht. Seine Auswahl dabei ist aber höchst zweifelhaft. Die „harmloseren“ sind noch der stalinistische Diktator Fidel Castro und der rasch gewendete ehemalige ArbeiterInnenführer Lula. Zweifellos ist Castro ein Bündnispartner gegen die USA. Aber er ist kein Bündnispartner für Sozialismus. Die stalinistische Bürokratie in Kuba (die allerdings weniger abgehoben und weniger repressiv war und ist als andere stalinistische Bürokratien wie z.B. in Rumänien) betreibt selbst den Abbau der Errungenschaften der kubanischen Revolution. ArbeiterInnendemokratie gibt es auch in Kuba nicht, die Komitees zur Verteidiung der Revolution dienen in erster Linie der Information (und auch hier v.a. von oben nach unten), aber nicht der Verwaltung und Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft durch die ArbeiterInnenklasse. Dies bleibt in der Hand der Staats- und Parteibürokratie. Die Errungenschaften der kubanischen Revolution – Bildung, Gesundheitswesen etc – müssen verteidigt werden. Aber internationale Beispiele wie China, Osteuropa und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion zeigen, dass es gerade die Bürokratie ist, die diese abbaut. Das gilt auch – wenn auch noch abgeschwächt durch den Druck der USA (Druck von außen stärkt immer das interne Regime) – für Kuba. Für die Errichtung eines echten, demokratischen Sozialismus in Kuba wären Castro und seine Bürokratie ein Hindernis – sie können daher auch keine Bündnispartner für den Aufbau von Sozialismus in Venezuela sein.
Beim brasilianischen Präsidenten Lula ist es noch eindeutiger. Ebenso wie andere Präsidenten und Regierungschefs in Lateinamerika, mit denen Chávez einen Wirtschaftblock gegen die USA bilden möchte steht er für neoliberale Wirtschaft und ist im eigenen Land unter zunehmender Kritik von ArbeiterInnen, Landlosen und Linken.
Aber Chávez macht bei solchen vermeintlichen „Linken“ nicht halt. Lobende Worte findet er auch für den russischen Präsidenten Putin – bekannt für Demokratieabbau und einen blutigen, imperialistischen Krieg gegen Tschetschenien – und den neuen iranischen Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad, einen religiösen Hardliner. Das verbindende Element ist hier wohl die Opposition zu den USA. Aber Putin und Ahmadinedschad sind Gegner einer sozialistischen Politik und gehen brutal gegen die eigene ArbeiterInnenklasse vor.
Die Politik „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ taugt vielleicht für taktische Manöver im Rahmen des Kapitalismus. Für eine sozialistische Gesellschaftsveränderung ist sie aber untauglich. Die BündnispartnerInnen müssen hier anders aussehen. Es sind die Millionen SozialistInnen und KommunistInnen, die Milliarden ArbeiterInnen, Jugendlichen und Armen, die unter dem Kapitalismus leiden. In der Vergangenheit gab es immer wieder riesige internationale Solidaritätsbewegungen für Revolutionen, für den Kampf gegen den Faschismus, für den Kampf gegen Imperialismus. Für die Sowjetunion nach 1917, für die spanische Republik in den 30er Jahren, für Kuba in den 60er Jahren, für Nicaragua in den 80er Jahren,…. Internationale Solidarität ist nicht nur ein netter Demospruch, sondern existiert in der Praxis und ist die stärkste und wirkungsvollste Waffe, die ein sozialistisches Regime hat. Das sind die BündispartnerInnen, die Venezuela braucht. Ob es sie bekommt hängt aber wesentlich davon ab, wie weit der Prozess in Venezuela geht.
Um den Erfolg zu sichern, muss der Kapitalismus durch das Ausführen eines revolutionären sozialistischen Programms überwunden werden. Dies muss auch einen Appell an die ArbeiterInnenklasse Lateinamerikas und den USA für Solidarität und Unterstützung beinhalten, und für den solidarischen Kampf gegen jeden Versuch des Imperialismus, solch eine Revolution niederzuschlagen. Solch ein Appell, im Kontext des massiven antiimperialistischen Bewusstseins, das sich als Konsequenz aus dem Irak-Krieg entwickelt hat, würde international massive Unterstützung bekommen – auch unter den ArbeiterInnen und Jugendlichen der USA. Ein Appell für internationale Solidarität müsste mit der Idee verbunden werden, eine demokratische sozialistische Föderation Lateinamerikas und der USA aufzubauen. Nur solch ein Programm kann den Imperialismus und die herrschende Klasse in Venezuela besiegen.
Für eine unabhängige revolutionär-sozialistische Partei der ArbeiterInnenklasse, Jugendlichen und der armen Bevölkerung
Der revolutionäre Prozess in Venezuela steht erst am Anfang. Es ist kein geradliniger Prozess, sondern hat Auf- und Abschwünge, Fortschritte und Rückschläge. Diskussionen, das Abwägen verschiedener Vorschläge, die Entwicklung von Perspektiven, das Lernen aus der Vergangenheit – ohne diese Dinge kommt eine Revolution nicht aus. Viele revolutionäre Prozesse der letzten 100 Jahre haben Entwicklungen genommen, die für Venezuela wichtig sind. Die Erfahrungen mit der zögernden Sozialdemokratie nach dem 1. Weltkrieg in Europa und die Widerholung dieser Politik in Portugal nach der Nelkenrevolution. Die Hoffnungen auf eine „vernünftige“ Einigung mit der herrschenden Klasse und ein Hinüberwachsen in den Sozialismus wie in Chile in den 70er Jahren, die in einem blutigen Putsch versenkt wurden. Der Glaube, man müsse erst das Volk „informieren“ bevor man in der Zukunft für Sozialismus kämpfen könne, der 1998 in Indonesien die Revolution in den Sand setzte. Die Illusion, man könne Sozialismus stellvertretend für die ArbeiterInnenklasse durch eine kleine militärische Elitetruppe erkämpfen wie in Kuba 1959. Was letztlich zwar zum Sturz des Kapitalismus führen kann, wo aber dann die Beteiligung der ArbeiterInnenklasse bei der Planung und Organisierung der Gesellschaft fehlt und es zur Errichtung eines stalinistischen Regimes kommt Und viele mehr.
Eine Erfahrung ist auch: „Time matters“. Die Armen in Venezuela haben keine Jahrzehnte Zeit, um auf Verbesserungen zu warten und die herrschende Klasse wird keine Jahrzehnte zusehen. Eine Chance, den revolutionären Prozess weiter zu treiben, wurde vertan. Nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch hätte die Chance bestanden einen großen Schritt Richtung Sozialismus zu machen. Es wird weitere Möglichkeiten geben – aber nicht beliebig oft.
Wie der weitere Prozess sich entwickelt hängt davon ab, ob sich in Venezuela eine unabhängige revolutionär-sozialistische Partei der ArbeiterInnenklasse, Jugendlichen und der armen Bevölkerung entwickelt. Je früher so eine Partei in einem revolutionären Prozess existiert, um so größer die Chancen auf eine erfolgreiche Revolution. In Russland existierten die Bolschewiki lange vor der Oktoberrevolution und waren in der ArbeiterInnenklasse verankert. Eine solche Partei fehlt heute in Venezuela. Sie ist aber notwendig, um die internationalen und historischen Erfahrungen der ArbeiterInnenbewegung einzubringen – nicht jeder Fehler muss selbst ausprobiert, selbst gemacht werden. Die chilenische ArbeiterInnenklasse hat schon zuviel Blut vergossen. Die venezuelanische soll sich diese Erfahrung ersparen. Eine solche Partei hat auch die Aufgabe, Kräfte zu bündeln und ein klares revolutionär-sozialistisches Programm zu entwickeln, in die Bevölkerung zu tragen und für dessen Umsetzung zu kämpfen. Der Aufbau einer solchen Partei ist auch zentral um letztendlich die Gefahr einer Konterrevolution – „demokratisch“ oder per Putsch – abzuwenden.
Unser Ziel ist es in Venezuela eine solche Partei aufzubauen und den revolutionären Prozess in Venezuela zu unterstützen und Richtung Sozialismus vorwärts zu treiben. Venezuela zeigt, dass politische Arbeit mehr ist, als ein bisschen an den Problemen des Kapitalismus herum zu doktern. Sozialismus ist für Venezuela, für Lateinamerika und auch für die restliche Welt die Alternative zum jetzigen System von Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung. Sozialismus ist eine reale Perspektive. Es liegt an uns, sie in die Tat umzusetzen. Schließen Sie sich/Schließ Dich uns an, um für ein sozialistisches Venezuela und eine sozialistische Welt zu kämpfen.