Zum 100-Tage-Programm von Gysi und Lafontaine
Am 7. September stellten Gysi und Lafontaine in Köln ihr "Programm für die ersten 100 Tage der linken Fraktion im Deutschen Bundestag" vor. Stop! Warum jetzt? Die Mitglieder der Bundestagsfraktion sind noch nicht mal gewählt, da sollen sie schon wissen, welche Initiativen sie in den ersten 100 Tagen starten wollen. Telepathie? Oder dreistes Top-down?
Auch bei vorherigen Wahlen veröffentlichte der PDS-Parteivorstand bereits vor den Wahlen ein 100-Tage-Programm, was jedesmal auf Unmut in einem Teil der PDS-Mitgliedschaft stieß. Jetzt ist die Lage jedoch noch brisanter. Da wird ein 100-Tage-Programm veröffentlicht – für die zukünftigen Abgeordneten von Linkspartei/PDS und WASG.
Keine Kritik durch WASG-Bundesvorstand
Das gesamte 100-Tage-Programm ist keine Überraschung, wenn man das Wahlprogramm der Linkspartei/PDS kennt. Es ähnelt ihm sehr stark. Neu ist nur, dass sich nun auch die WASG-Abgeordneten diesen Inhalten verpflichtet fühlen sollen.
Auf der WASG-Website erscheinen das 100-Tage-Programm unter dem Titel "Veränderung braucht uns – Die ersten Vorhaben der Linkspartei im Bundestag." Damit macht sich die WASG das 100-Tage-Programm zu eigen. Kein Wort der Kritik an Form und Inhalt des Programms. Das demokratisch auf dem WASG-Parteitag beschlossene WASG-Wahlmanifest scheint vergessen.
WASG-Abgeordnete in Zukunft gegen ein bißchen Hartz IV?
Wenn sich in den nächsten Tagen und Wochen kein Widerstand an der Basis der WASG und unter den zukünftigen Abgeordneten der WASG regt, stehen sie bald nicht mehr für die vollständige Rücknahme von Hartz IV, sondern nur noch für die Anhebung des Arbeitslosengeldes II auf 420 Euro in Ost und West!
Ihre längerfristige Alternative ist dann "die Umwandlung der Ein-Euro-Jobs in reguläre Jobs durch Einsatz der Mittel des ALG II, der Kosten für Unterkunft und der sogenannten Mehraufwandsentschädigung" (aus: 100-Tage-Programm). Das heißt übersetzt: Langfristig kämpfen unsere Abgeordneten dafür, dass die ALG-II-EmpfängerInnen sozialversicherungs-pflichtige Jobs bekommen. Das ist dann aber auch alles. ALG-II-EmpfängerInnen verdienen weiter zwangsweise einen Euro pro Stunde und bekommen weiterhin 345 beziehungsweise 331 Euro (oder gar 420 Euro?) ALG II plus Miete.
Das WASG-Wahlmanifest fordert dagegen die Abschaffung von ALG II und die Wiedereinführung der Arbeitslosenhilfe.
Realpolitik von Linkspartei/PDS
Das 100-Tage-Programm spiegelt in diesem Sinne leider die Realpolitik der Linkspartei/PDS wider. Sie leitet ihre Forderungen nicht von den Bedürfnissen der Menschen ab, sondern von dem, was sie realpolitisch sinnvoll findet.
Aber: Auch die Anhebung des ALG II auf 420 Euro wird die Linkspartei/PDS im Bundestag bei den jetzigen und zu erwartenden Kräfteverhältnissen ohne massiven gesellschaftlichen Druck nicht durchsetzen können.
Entscheidend für Verbesserungen und die Rücknahme von Hartz IV ist der Proteste und Widerstand auf der Straße und in den Betrieben. Die Aufgabe einer linken Bundestagsfraktion im Parlament wäre in erster Linie, ein Sprachrohr für die außerparlamentarischen Kämpfe und Forderungen zu sein. Sie sollte abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen Mut machen, ihre Forderungen laut vertreten und Teil dieser Bewegung selbst sein. Die Linkspartei/PDS scheint dagegen in der Logik des Establishments angekommen zu sein.
Schaffung neuer Arbeitsplätze?
Interessant ist auch, was im 100-Tage-Programm nicht drin steht: Das Programm schweigt beispielsweise zur Schaffung neuer Arbeitsplätze – einem zentralen Thema der WASG und der Masse der Erwerbslosen in Deutschland. So wird die wichtige WASG-Forderung nach einem Zukunftsinvestitionsprogramm zur Schaffung von Arbeitsplätzen nicht erwähnt. Im WASG-Wahlmanifest heißt es dagegen: "Wir sind für ein umfangreiches und längerfristig angelegtes öffentliche Zukunfts-Investitionsprogramm. Gegen die Arbeitslosigkeit brauchen wir deutliche Arbeitszeitverkürzungen."
Mindestlohn auch für Arbeitgeber attraktiv?
Lange hatten Linkspartei/PDS, Lafontaine und WASG über die Höhe des Mindestlohns gestritten. Während die Linkspartei 1400 Euro forderte (die WASG fordert 1500 Euro) schlug Lafontaine eine Senkung des Mindestlohns auf 1000 Euro vor. Der Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linkspartei/PDS) setzte noch einen drauf und forderte 980 Euro.
Nach langem Medienrummel profilierte sich die Linkspartei/PDS links und beschloss auf ihrem Bundesparteitag die Forderung von 1400 Euro.
Im 100 Tage-Programm wird nun "die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns" gefordert, ohne dass ein genauer Betrag genannt wird. Es kommt noch besser. So wird im 100-Tage-Programm ausgeführt, dass Arbeit "existenzsichernd und zugleich für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wir Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber attraktiv sein" soll.
Solche WASG- (und Linkspartei/PDS-) Mitglieder, die bisher eine Vorstellung davon hatten, dass in der kapitalistischen Gesellschaft unterschiedliche Interessen zwischen abhängig Beschäftigten einserseits und Kapitalbesitzenden andererseits bestehen, kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Die Konkretisierung wird prompt hinter her geschoben: "Gegebenenfalls werden wir Unterstützungen begehren, damit auch kleinere Unternehmen Mindestlöhne zahlen können." Durch Subventionen? Durch Kombilöhne, die das Lohngefüge insgesamt unter Druck setzen?
Auch in diesem Punkt deckt sich die Stoßrichtung des 100-Tage-Programms mit dem Programm der Linkspartei/PDS. Deutlich wird, dass die Linkspartei/PDS eher eine linke Mittelstandspolitik als eine kämperische Politik im Interesse von Lohnabhängigen und Erwerbslosen betreibt.
Wer ausbildet, wird unterstützt?
Dies wird auch an der Forderung zur Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe im 100-Tage-Programm deutlich. Richtigerweise greifen die Autoren die bekannte Forderung auf: "Wer nicht ausbildet, muss zahlen". Doch anstatt dieses Geld für die Schaffung von neuen Ausbildungsplätzen (zum Beispiel im öffentlichen Dienst) einzusetzen, sollen dem 100-Tage-Programm zufolge ausbildende Betriebe unterstützt werden. Diese Forderung wird auch nicht besser, weil sie von den Gewerkschaften mitgetragen wird.
Für den Schulbereich fordert das 100-Tage-Programm "eine Initiative zur Sicherung gleicher Qualitätsstandards für Schulbildung in ganz Deutschland." Was soll das genau bedeuten? Ist damit gemeint, dass die Linkspartei/PDS unter anderem das Zentralabitur in Deutschland einführen will?
Raus aus Afghanistan – und sonst?
Mindestens nachdenklich sollte einen auch die Forderung nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus Afghanistan stimmen. Die Forderung ist richtig. Aber warum nur aus Afghanistan? Was ist mit den deutschen Truppen in Kosova, Makedonien, am Horn von Akfrika und so weiter. Werden die akzeptiert? Zumindest drängt sich die Frage auf.
Was ist zu tun?
Der Bundesvorstand der WASG muss dem 100-Tage-Programm seine Unterstützung entziehen und es öffentlich ablehnen. Das Wahlmanifest ist die Grundlage, auf der die WASG in den Wahlkampf gezogen ist. Die zukünftigen WASG-Abgeordneten sind den programmatischen Grundlagen dieses Wahlmanifestes verpflichtet – das gilt auch für Oskar Lafontaine.
Statt der Unterstützung des 100-Tage-Programms muss der WASG-Bundesvorstand eigene Vorschläge für erste Initiativen der Bundestagsfraktion nach der Wahl entwickeln. Wie zum Beispiel die gesetzliche Einführung eines Mindestlohns von 1500 Euro. Oder die Rücknahme von Hartz IV. Nur wenn die WASG diese Positionen, für die sie sich gegründet und starken Zulauf bekommen hat, auch lautstark im Bundestag vertritt, kann sie einen Beitrag dazu leisten, die außerparlamentarische Bewegung zu stärken und sich das Vertrauen vieler tausend Mitglieder, AktivistInnen und hunderttausender WählerInnen zu sichern.
Diese Anträge könnte die WASG mit einer bundesweiten Kampagne gegen Hartz IV und für die Einführung eines gesetzlichen Mindestohns verbinden, um deutlich zu machen, dass der Druck auf der Straße und in Betrieben entscheidend für Veränderungen im Parlament ist. Eine gute Präsenz der WASG beim nächsten bundesweiten Treffen der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken am ersten Oktoberwochenende und bei der außerparlamentarischen Oppositionskonferenz am 19./20. November wären wichtige Schritte, um den Widerstand mit voran zu treiben. Und sie könnte beweisen, dass sie auch nach der Wahl zu ihren Positionen steht, für die sie bei der Wahl angetreten ist.
Gegen eine schnelle Fusion
Die Existenz des 100-Tage-Programms zeigt auf ein Neues, dass sich die WASG auf keine Eilfusion mit der Linkspartei/PDS einlassen darf. Inhaltliche Mindestbedingungen wie zum Beispiel die Ablehnung jeglichen Sozialkahlschlags, Privatisierungsmaßnahmen und Stellenstreichungen müssen Voraussetzung für Gespräche mit der Linkspartei/PDS sein. Die WASG muss zudem die Beendigung der Regierungsbeteiligung der Linkspartei/PDS in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern einfordern. Im WASG-Wahlmanifest steht dazu: "Eine Regierungsbeteiligung ist nur denkbar, wenn dies zu einem grundlegenden Politikwechsel auf der Basis unseres Gründungsprogramms führt. Wir werden uns nicht an einer Regierung beteiligen, die Sozialabbau betreibt oder sie tolerieren."
Eine Fusion der heutigen Linkspartei/PDS mit der WASG wäre keine Neuformierung der Linken. Entscheidend ist, dass AktivistInnen aus Gewerkschaften, Betrieben, sozialen Bewegungen und Initiativen in den Prozess mit einbezogen werden – zur Schaffung einer kämpferischen Interessensvertretung von abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen.
von Lucy Redler, Mitglied des WASG-Länderrats