Das Land steht vor einer sozialen Explosion
Wütende Menschenansammlungen, brennende Polizeiautos, Demonstrationen und Arbeitskämpfe: Soziale Unruhen in China nehmen zu. Die Proteste richten sich gegen bittere Armut, Umweltzerstörung, Bereicherung und Korruption.
Das Land, das in einer Handelsblatt-Umfrage unter europäischen Managern die Schulnote Eins bekam, wirtschaftet unter frühkapitalistischen Bedingungen. Chinesische ArbeiterInnen sind oft billiger als Maschinen. Kinderarbeit ist weit verbreitet.
Die Marktreformen haben dazu geführt, dass 45 Millionen staatliche Arbeitsplätze vernichtet worden sind. Das Sozialsystem, die "eiserne Reisschüssel" wurde abgeschafft. Der Krankenhausaufenthalt war umsonst, auch die Ausbildung der Kinder. Gleichzeitig haben die "Reformen" Tür und Tor geöffnet für eine schamlose Bereicherung einer kleinen Minderheit. Viele lokale Parteibonzen haben sich ehemalige Staatsbetriebe angeeignet.
Landarmut
Auf dem Land gibt es erbitterten Widerstand gegen den Verkauf von Grund und Boden und gegen ungerechte Steuern. Die Stadtverwaltungen schrecken nicht davor zurück, notfalls die Ernten mit Polizeigewalt zu vernichten, um das Land den neuen Besitzern auszuhändigen. Bauern schließen sich immer wieder zusammen und bewachen Tag und Nacht ihre Felder. In Shengyou in der Provinz Hebei wurden sechs Bauern getötet und hundert weitere schwer verletzt. Der Protest wurde durch den Versuch der Kommunalverwaltung ausgelöst, Land für den staatlichen Kraftwerksbetreiber Guohua Dingzhou zu enteignen.
Ein Arzt beschreibt die Lage so: "Die Zunahme des Bruttosozialprodukts in China basiert darauf, dass 800 Millionen Bauern keine Garantie für ein minimales Leben, keine Rente, ja sogar keine Krankenversicherung haben! Der Kreis, in dem ich lebe, ist nicht der ärmste in China; aber jeden Tag kann ich, der ich ein Arzt bin, Kranke sehen, die wegen der hohen Kosten auf einen Arztbesuch verzichten. Jedes Mal beim Frühlingsfest oder in der Zeit, in der das Schulsemester beginnt, oder in der man Steuern zahlen muss, nimmt die Zahl derjenigen rapide zu, die Gift nehmen. Es gibt verschiedene Gründe dafür, im allgemeinen sagen sie mit dieser Handlung aber: "Wir sind zu arm!""
140 Millionen Wanderarbeiter kommen aus den ärmsten Gegenden in die Städte, um dort nach Arbeit zu suchen. Entrechtet, hausen sie in Baracken in den Vororten. Sie arbeiten mehr als zwölf Stunden am Tag. Sie verdienen jährlich im Schnitt 9.236 Yuan (920 Euro). Millionen von ihnen bekommen nicht mal das ausgezahlt.
Zunahme von Arbeitskämpfen
Arbeiter wehren sich gegen Hungerlöhne oder menschenunwürdige Arbeitsbedingungen. In einem der wirtschaftlich wichtigsten Gebiete in China, dem Pearl-River-Delta (nördlich von Hongkong in der Provinz Guangdong) hat es in den letzten fünf Jahren in der Hälfte aller Fabriken Streiks gegeben. Im April haben 10.000 ArbeiterInnen für eine unabhängige Gewerkschaft innerhalb der Fabrik Uniden Electronics gestreikt.
Im Juni kam es in der Stadt Xinchang in der Provinz Zhejiang zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Polizei und örtliche Regierungsbehörden, an der sich 15.000 Menschen beteiligten. Anlass war ein Unfall in einer chemischen Fabrik, die mit giftigen Stoffen arbeitet. Ein Arbeiter wurde getötet, viele verletzt und das Flusswasser in der ganzen Umgebung verseucht. Die AnwohnerInnen, die mit der Bitte um Entschädigung und der Frage nach kostenfreier medizinischer Versorgung an die Fabrikleitung herantraten, wurden vom Werksschutz zusammengeschlagen. Die Empörung in der Stadt schwoll so schnell an, dass den Autoritäten vor Ort nichts anderes übrig blieb, als die Fabrik zu schließen.
Zu den größten Opfern des chinesischen "Wirtschaftswunders" gehören die Bergarbeiter. Nach offiziellen Angaben sind in den letzten zwölf Monaten 6.000 Bergarbeiter umgekommen. Viele Minen sind im Besitz lokaler Parteibonzen, die falsche Sicherheitszertifikate ausstellen und Unfälle vertuschen. Ihre Arroganz hat auch hier zu Unruhen geführt. Angehörige von Bergbauopfern, denen Informationen verweigert wurden, stürmten lokale Verwaltungsgebäude und verprügelten Regierungsvertreter.
Perspektiven für den Widerstand
Die wachsende Radikalisierung in der Bevölkerung ist nicht zu übersehen. Massenproteste sind kometenhaft angestiegen – auf offiziell 74.000 im letzten Jahr, im Gegensatz zu 10.000 im letzten Jahrzehnt. In allen Großstädten kommt es im Schnitt auf drei bis vier Demos pro Woche.
Es gibt einige Beispiele, bei denen aus Verkehrsunfällen Massenunruhen entstanden sind, weil es sich bei den Beteiligten auf der einen Seite um einen Angehörigen der Oberschicht und auf der anderen Seite um einen Angehörigen der ärmsten Schichten handelte. Der Protest entlädt sich oft gegen Polizei und örtliche Verwaltungsbehörden. In einigen Gegenden führten soziale Spannungen tragischerweise auch zu Ausschreitungen gegen nationale Minderheiten.
Die Regierung will nun eine Spezialeinheit gegen soziale Unruhen aufbauen. Sie soll mehrere tausend Mann stark sein und mit Panzerfahrzeugen, Tränengas und Schlagstöcken ausgerüstet werden. In Shanghai und Peking sollen jeweils 600 Elite-Polizisten im Dauereinsatz sein.
Bisher sind die Massenproteste auf regionaler Ebene begrenzt geblieben. Die chinesische Regierung macht sich jedoch Sorgen, dass ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen kann. Seit dem Massaker 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat es keine landesweite Protestbewegung mehr gegeben.
Die ersten Proteste, die von ihrer Ausweitung her einen nationalen Charakter annahmen, waren die antijapanischen Proteste im Frühjahr diesen Jahres. Doch sie waren kein Protest gegen die Regierung. Im Gegenteil, die nationalistische und chauvinistische Ausrichtung kam der Regierung entgegen. Erst als sie ihnen außer Kontrolle zu geraten schien, schritt die Regierung ein. Streiks in der japanischen Elekronikfirma Taiyo Yuden in Dongguan gegen niedrige Löhne wurde von der Polizei beendet. Die Streiks hätten sich auf andere Betriebe mit ähnlichen Bedingungen ausweiten können und nicht mehr Japan als Hauptgegner sehen, sondern jegliche Bosse egal welcher Herkunft bekämpfen können.
In China wird von einer neuen Massenpsychologie gesprochen, der sogenannten "chou fu xinli" (feindliche Haltung gegenüber Reichen). Dies bildet die Basis für eine Radikalisierung unter großen Teilen der Bevölkerung. Die Entwicklung der chinesischen Opposition ist von großer Bedeutung für die internationale Arbeiterbewegung. Immerhin umfasst die Industriearbeiterklasse in China 350 Millionen Arbeiter, mehr als in Europa und den USA zusammen.
von Kim Opgenoorth, Köln