15 Jahre Wiedervereinigung: Frauen besonders betroffen
Unmittelbar vor dem 15. Jahrestag der Wiedervereinigung attackieren die Unionspolitiker Schönbohm und Stoiber die Ostdeutschen im Wahlkampf. Der eine macht die Proletarisierung der DDR-Gesellschaft für Kindsmorde, Gewalt und Werteverlust in der Gesellschaft verantwortlich und der andere beschimpft sie als dumme Kälber.
Erst hatte Kohl blühende Landschaften versprochen. Dann wurde der Aufschwung Ost von der SPD zur Chef-Sache Ost gemacht. Einen Aufschwung gibt es aber nur bei den Arbeitslosenzahlen. Viele Ossis fühlen sich inzwischen nur noch als Stimmvieh für Wahlen, das während des Wahlkampfes hofiert und danach vergessen wird, so Elmar Brähmer, Soziologe an der Uni Leipzig (Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 12. August). Dieser ist auch der Meinung, dass sich seit der Wiedervereinigung eine ostdeutsche Identität als Bürger zweiter Klasse entwickelt hat, die es vor der Wende gar nicht gab.
Absturz Ost
Die Entstehung einer eigenen Identität ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man betrachtet, was sich in den letzten Jahren verändert hat. Während es bis zur Wende Vollbeschäftigung gab, ist die Arbeitslosenrate heute mit offiziell 20 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es sogar Regionen wie den Ücker-Randow-Kreis, in denen jeder Dritte ohne Arbeit ist. Die Ursache für so eine hohe flächendeckende Arbeitslosigkeit ist der rapide Abbau von drei Viertel aller Industriearbeitsplätzen.
Zudem sind die Einkommen derjenigen, die noch in Arbeit und Brot stehen, weiterhin deutlich niedriger als im Westen: Mit 22.517 Euro je Arbeitnehmer verdient ein Erwerbstätiger in den neuen Bundesländern durchschnittlich 5.000 Euro weniger als ein Beschäftigter in den alten Bundesländern (FAZ vom 19. August). Die Einkommensschere zwischen Ost und West klafft weit auseinander. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Ostdeutschland liegt bei 64,5 Prozent des Westniveaus. Wen wundert es da, dass die vielen Spaßbäder, die in den neunziger Jahren in diversen Kommunen gebaut wurden, kaum ausgelastet sind.
Frauenarbeitslosigkeit
August Bebel, Sozialist und Gründungsmitglied der SPD im 19. Jahrhundert, stellte fest, dass der Zustand einer Gesellschaft sehr gut anhand der Stellung der Frau in dieser Gesellschaft beurteilt werden kann.
In der Zeit von 1990 bis 2000 haben knapp die Hälfte der ostdeutschen Frauen ihre Arbeit verloren. Viele junge Frauen gehen deshalb auch in die westdeutschen Bundesländer.
Außerdem wurde das System der Kinderbetreuung, welches es in der DDR gab, zum Großteil abgebaut. Von kostenlosen und ausreichenden Kita- und Krippenplätzen können die Frauen im Osten nur noch träumen. Die Erziehung der Kinder und deren Betreuung lastet heute wieder viel mehr auf den Schultern der Frauen als noch vor dem Mauerfall. Trotzdem arbeiten im Osten immer noch ungefähr 50 Prozent der Mütter Vollzeit, während es im Westen nur 20 Prozent sind (Mikrozensus 2002). Von CDU-Politikern wie Biedenkopf wurden gerade auch die Frauen im Osten oft kritisiert. Sie sollten doch bitte schön lieber zu Hause bleiben, um sich um Haushalt und Kinder zu kümmern, statt arbeiten zu gehen.
Mit Hartz IV hat sich für viele Frauen im Osten die Lage weiter verschlimmert. Denn viele bekommen, obwohl sie jahrelang hart gearbeitet haben, keinen Cent mehr an Arbeitslosengeld. Sie sind, wenn sie einen erwerbstätigen Partner haben, völlig von diesem abhängig.
Radikalisierung
Die Wechselstimmung ist noch da, aber verfinstert von einer Gewitterwolke. Aufgeladen mit der Wut eines knappen Viertels der ostdeutschen Wähler über das „BRD-System“ schlechthin (…) trübt die außerparlamentarische Linke den bürgerlichen Parteien die gerade noch so klare Aussicht auf ein Comeback als Bundestagsmehrheit (FAZ vom 5. August).
Die Ostdeutschen haben die Erfahrung mit zwei Systemen machen können: DDR-Stalinismus und BRD-Kapitalismus. Seit Jahren zeigen Umfragen, dass über 70 Prozent der Ossis Sozialismus für eine gute Sache halten, die nur falsch umgesetzt wurde.
Lange dominierten im Osten Frust und Verzweiflung. Vor einem Jahr haben sich Erwerbslose und Beschäftigte im Osten eindrucksvoll zurückgemeldet – mit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Politischer Ausdruck der Proteste vor allem der letzten beiden Jahre in Ost und West ist die WASG. Die große Unterstützung für WASG und Linkspartei im Osten, die dort am 18. September mehr als ein Viertel aller Stimmen erhalten könnte, drückt die Sympathie mit radikalen, linken Ideen, die Kritik am bestehenden System üben, aus.
von Maren Wiese, Rostock