Zum Tod des einstigen Vorsitzenden der Gewerkschaft ÖTV, Heinz Kluncker
„Das waren noch Zeiten unter Kluncker. Da hat die Gewerkschaft noch gekämpft und was erreicht.“ So oder ähnlich wird sich manch älterer Müllwerker oder Straßenbahnfahrer, anläßlich des Todes von Heinz Kluncker äußern. Für den ver.di-Bundesvorstand ist es hingegen bezeichnend, daß er gerade die Kampftradition Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in seinem Nachruf ignoriert bzw. völlig unterbewertet geht es ihr doch derzeit darum, diese Tradition im neuen Jahrhundert vollends zu begraben. Mit ins Grab des einstigen Vorsitzenden der Gewerkschaft Öffentliche Dienst Transport und Verkehr (ÖTV) geben seine heutigen Nachfolger in der ver.di-Spitze den BAT, den Flächentarifvertrag des öffentlichen Dienstes. Ohne Gegenwehr wird das in den 70er Jahren Erkämpfte von den Kluncker-Erben auf dem Altar des Neoliberalismus geopfert. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Sozialzuschläge für Familien waren Ziele gewerkschaftlicher Tarifpolitik unter Kluncker. Für Bsirske und Co. ist das unmodern. Der von ihnen als „Jahrhundertreform“ und „Meilenstein“ gefeierte Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVÖD) enthält statt dessen „Leistungslöhne“, sprich Nasenprämien. Während der Ägide des Heinz Kluncker, der von 1964 bis 1982 den ÖTV-Vorsitz führte, wurden insbesondere für die Arbeiter Fortschritte erzielt. Heute gibt es hier die deutlichsten Rückschritte: Niedriglohngruppe, schlechtere Eingruppierung, Wegfall von Zuschlägen. Unter Kluncker wurde die Arbeitszeit verkürzt, unter Bsirske wird sie verlängert.
Heinz Kluncker war ein für die Nachkriegszeit typischer sozialdemokratischer Gewerkschaftsfunktionär. Als er 1961 in den geschäftsführenden Hauptvorstand gewählt und Leiter des Tarifsekretariats wurde, betrieb er die gleiche Politik der Lohnzurückhaltung wie alle anderen Gewerkschaftsführer. Dies wurde während der Großen Koalition 1967 in der sogenannten Konzertierten Aktion institutionalisiert.
Welle von „wilden Streiks“
1969 war der Punkt erreicht, an dem die Beschäftigten sich gegen die von oben verordnete Verzichtspolitik auflehnten. Ausgehend von der Stahlindustrie kam es im September 1969 in vielen Betrieben trotz Friedenspflicht und ohne Aufruf der Gewerkschaft zu spontanen Arbeitsniederlegungen für mehr Geld. Um „wilden Streiks“ im öffentlichen Dienst zuvorzukommen, forderte die ÖTV-Spitze unter Kluncker vorgezogene Tarifverhandlungen. Aber in vielen Betrieben des öffentlichen Dienstes warteten die Beschäftigten das Ergebnis dieser Verhandlungen gar nicht erst ab. Am 17. September 1969 begann eine Welle spontaner Arbeitsniederlegungen der Stadtreiniger und von Beschäftigten der Verkehrsbetriebe in Duisburg, Köln, Westberlin, Nürnberg, Herne, Mannheim, Offenbach, Kaiserslautern, Witten, Wanne-Eikel und Mülheim. Die Beschäftigten setzten so Voraberhöhungen durch in Duisburg beispielsweise eine Zulage von 150 Mark. Diese inoffiziellen Streiks waren ein Schock für Kluncker und die anderen Gewerkschaftschefs. Um die Kontrolle über die radikalisierten Belegschaften zurückzugewinnen, mußten sie fortan kompromißloser auftreten und für die Beschäftigten bei Tarifverhandlungen Erfolge rausholen. Allerdings hinkte ihre Politik weiter hinter den Erwartungen und Forderungen der Basis her. So kam es 1973 zu einer noch mächtigeren Welle inoffizieller Streiks, die sich von Februar bis Oktober hinzog. Insgesamt beteiligten sich 275 000 Beschäftigte in 335 Betrieben an den Ausständen. Erkämpft wurden meist Stundenlohnerhöhungen um bis zu 80 Pfennig oder Teuerungszulagen von bis zu 500 Mark. Diesmal versuchte die ÖTV-Spitze um Kluncker solche unkontrollierten Streiks zu vermeiden, indem sie in ohne Kündigung der Tarifverträge die Forderung nach einem vollen 13. Monatsgehalt stellte. Trotz Friedenspflicht drohte der ÖTV-Vorsitzende mit Streik. Diese Drohung reichte aus, um das volle Weihnachtsgeld durchzusetzen. Das war den Müllwerkern und Straßenbahnfahrern aber nicht genug. In selbstorganisierten Streiks in vielen Betrieben des öffentlichen Dienstes erkämpften sie sich zusätzliche Teuerungszulagen.
Streik 1974
Die Tarifrunde 1974 sollte schließlich für eine kräftige Lohnerhöhung sorgen. Durch die inoffiziellen Streiks 1973 hatten die Beschäftigten an Selbstbewußtsein gewonnen. Die ÖTV-Führung stand unter solchem Druck ihrer Basis, daß sie dieses Mal trotz massiver Kritik von Regierung, Presse und Unternehmern nicht nachgeben konnte. Des „Kanzlers beste Verbündete“ (Frankfurter Rundschau) mußten hart bleiben, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Und so kam es zum legendären Streik von 1974. Nach drei Streiktagen war eine Lohnerhöhung von elf Prozent und mindestens 170 Mark durchgesetzt. Viele wollten weiterstreiken und noch mehr rausholen. Bei der Urabstimmung über die Annahme des Ergebnisses stimmten nur 61,8 Prozent für Annahme, in Hessen sogar nur 44 Prozent. Mit dem Streik durchbrach die ÖTV die staatlich verordnete Lohnleitlinie. Der ÖTV-Streik im Februar 1974 hatte damit entscheidenden Anteil daran, daß Kanzler Willy Brand, ausgelöst durch die Spionageaffäre um Guillaume, drei Monate später zurücktrat.
von Ursel Beck, Gewerkschaftspolitische Sprecherin der SAV
Biographisches
20. Februar 1925: Heinz Kluncker wird in Wuppertal-Barmen als Sohn eines Schlossers und Drehers geboren
16. April 1952: erster Volontär in der Hauptverwaltung der ÖTV in Stuttgart, wird Sachbearbeiter im Tarifsekretariat
Juni 1958: Gewerkschaftstag der ÖTV in München, Wahl zum Bundesarbeitersekretär
Juni/Juli 1961: Gewerkschaftstag der ÖTV in Berlin, Wahl zum Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes, Leiter des Tarifsekretariats
Juni /Juli 1964: Wahl zum Vorsitzenden der ÖTV auf dem Gewerkschaftstag in Dortmund, mit 39 Jahren jüngster Gewerkschaftsvorsitzender der Bundesrepublik, unangefochtene Wiederwahlen bis zu seinem Rücktritt
September 1965: Teilnahme an einem Kongreß in Karlovy Vary (CSSR), Gespräche mit Gewerkschaftern aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Polen
März 1966: Erste offizielle Gewerkschaftsdelegation aus der UdSSR als Gast der ÖTV in der Bundesrepublik
Juli 1970: Vereinbarung über den Monatslohn als neues Lohnsystem für Arbeiter im öffentlichen Dienst
Juli/August 1971: Kongreß der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) in Wien, Wahl zum Vizepräsidenten
Januar 1972: Vereinbarung über die Reduzierung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im öffentlichen Dienst ab 1. Oktober 1974 von 42 auf 40 Stunden
September 1973: Vereinbarung über das 13. Monatseinkommen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst
Oktober 1973: Weltkongreß der Internationale der öffentlichen Dienste in New York, Wahl zum Präsidenten, Wiederwahlen 1977 in Edinburgh und 1981 in Singapur
10.13. Februar 1974: Arbeitskampf im öffentlichen Dienst. Gegen die von der Bundesregierung festgelegte Lohnleitlinie von weniger als zehn Prozent setzt die ÖTV eine Erhöhung der Einkommen um elf Prozent, mindestens jedoch 170 DM durch und verteidigt damit die Tarifautonomie
2. Juni 1982: Rücktritt vom Vorsitz der ÖTV auf dringenden Rat der Ärzte
März 1985: Berufung zum Mitglied der Programmkommission der SPD
November 1985: Weltkongreß der IÖD in Caracas (Venezuela), einstimmige Ernennung zum IÖD-Ehrenpräsidenten auf Lebenszeit
(www.verdi.de/geschichte/heinzkluncker)