Offener Brief von verdi-Mitgliedern aus Leipzig/Nordsachsen zu den aktuellen Verhandlungen über den "Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst" (TVöD)
An alle Mitglieder der Bundestarifkommission
( nachrichl. bereits erhalten: Dr. Karin Eulenberger – Leipzig, Ralf Zeidler Leipzig, Katharina Mönch – Jena)
an das ver.di Tarifsekretariates z.Hd. Kurt Martin
an die Mitglieder des ver.di Bundesvorstandes
an Frank Bsirske
Leipzig, den 4.1.2005
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
als ver.di-Mitglieder verschiedener Bereiche aus Leipzig/Nordsachsen haben wir uns zu dem neu verhandelten "Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst" (TVöD) informiert und beraten.
Dabei sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass eine Umsetzung dieses Tarifvertrages sofort gestoppt werden muss. Die Abschaffung des Flächentarifvertrages BAT/BMT-G/MTArb darf keine Bundestarifkommission allein entscheiden! Zuerst müssen alle Gewerkschaftsmitglieder über die neuen Regelungen aufgeklärt werden und dann abstimmen.
Das "Verhandlungsergebnis" bringt keine Verbesserung, sondern Verschlechterungen insbesondere für alle Familien mit Kindern, geringer Verdienende, ältere Beschäftigte. Ist das sozial und solidarisch? Für die Verbesserung der Lebensbedingungen, Lohn und Arbeitszeit sind wir mit unseren KollegInnen in unserer Gewerkschaft organisiert. Eine Verschlechterung ist kein Ziel gewerkschaftlichen Handelns. Im Gegenteil: Dadurch werden die Massenaustritte noch beschleunigt und keine neuen Mitglieder gewonnen. Unsere Gewerkschaft wird so existentiell bedroht.
Um welche Verschlechterungen geht es konkret:
1. Streichung aller Sozialzuschläge
Die Ortszuschläge in der heutigen Form werden aufgelöst. Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten unabhängig von ihrem Familienstand einen Zuschlag. Dabei werden jedem Beschäftigten pauschal 0,66 Kinder zugerechnet, egal ob mit oder ohne Kinder. Beschäftigte mit Kindern werden weniger Geld zum Leben haben.
2. Wegfall bisheriger Lebensaltersstufen und Bewährungsaufstiege
Lebensalter bedeutet Lebenserfahrung – dies wurde durch bisheriges Tarifrecht berücksichtigt. Jetzt sollen nur noch 6 Stufen des finanziellen Aufstiegs gelten, wobei ab Stufe 3 auch noch individuell bestimmt. Die neuen Eingruppierungsrichtlinien stehen noch nicht einmal fest. Klar ist nur: neu eingestellte ArbeitnehmerInnen verdienen bis auf einzelne Ausnahmen weniger. Die angeblich neue Einheitlichkeit des Tarifrechts wird zu einer Spaltung der Belegschaft führen.
3. Einführung von leistungsbezogenen Entgeltbestandteilen
Wird in einer Tarifrunde Lohnerhöhung erkämpft, so soll diese nur zum Teil ausgezahlt werden. Der Rest bleibt in der Verfügung des Arbeitgebers, der "leistungsbezogen" verteilt. Aus der freien Wirtschaft ist bekannt, leistungsbezogene Entgelte sind immer subjektiv und arbeitgeberbestimmt. Sie führen zu ungerechten, zweifelhaften Lohnverteilungen. Die ArbeitnehmerInnen verlieren die Kontrolle über ihr Einkommen.
4. Einführung von Tabellenspreizungen und eines Niedriglohnsektors
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das heißt, die sofortige Angleichung von Ost an West wird auch in dieser Tarifrunde nicht erfüllt. Im Gegenteil: Mit der Einführung von Tabellenspreizungen kann der öffentliche Arbeitgeber regional von den Tariflöhnen nach unten abweichen. Die Gefahr besteht, dass im Öffentlichen Dienst bald überall weniger Einkommen als heute gezahlt wird. Der Lohn wird so nicht auf das bisherige Niveau des Westens angehoben, sondern auf das niedrigere des Ostens abgesenkt. Weiterhin soll ein neuer Niedriglohnsektor im Schnitt 300 Euro unter der bisherigen Untergrenze eingeführt werden. Damit verlieren die am wenigsten Verdienenden am meisten.
5. Abschaffung des Kündigungsschutzes
Der Kündigungsschutz nach 15 Beschäftigungsjahren und zusätzlich für Beschäftigte jenseits des 40. Lebensjahres wurde gar nicht erst auf den Osten übertragen und soll jetzt auch für Neueinstellungen im öffentlichen Dienst im Westen abgeschafft werden.
6. Verlängerung der Arbeitszeit
Bis zu 45 Stunden pro Woche und 12 Stunden am Tag sollen als Arbeitszeit erlaubt sein. Die Überstundenzuschläge entfallen, der Ausgleichszeitraum ist auf ein Jahr verlängert. Die Folgen werden sein: erhöhter Stress für ArbeitnehmerInnen und Abbau weiterer Arbeitsplätze. Außerdem würden damit die Arbeitszeitverlängerungen für ArbeitnehmerInnen der Länder und BeamtInnen im Nachhinein akzeptiert.
Lohnabsenkung und Flexibilisierung öffnen den Öffentlichen Dienst der Konkurrenzlogik. Sie setzen eine Abwärtsspirale der Löhne auch in den schon privatisierten Bereichen in Gang. Zusätzlich drohen mit der Zerstörung des BAT/BMT-G/MTArb weitere Privatisierungen im Öffentlichen Dienst. Damit wird der Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge weiter und schneller vorangetrieben. Es kann jedoch nicht Aufgabe der Gewerkschaft sein, Privatisierungen und Abbau öffentlicher Leistungen auf diese Weise zu ermöglichen und zu begleiten. Nur erfahrene und kampfstarke Belegschaften bieten Schutz gegen weitere Privatisierungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Neufassung des Tarifvertrages im öffentlichen Dienst ist keine Verbesserung, sondern die Zerstörung des einheitlichen Flächentarifvertrages im öffentlichen Dienst!
Es gibt keinerlei Anlass, für diese Verschlechterungen dem öffentlichen Arbeitgeber die Hand zu reichen und auch noch auf die Kündigung der Entgeltverträge zu verzichten. Solange die Entgelttarifverträge nicht gekündigt sind, stehen die Beschäftigten der Länder allein, die bereits durch die Streichung der Sonderzahlungen und die Arbeitszeitverlängerung angegriffen wurden. Ein Reallohnverlust besteht für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes ohnehin schon. Deshalb bedeutet der Verzicht auf eine Lohnforderung eine Verschlechterung für alle.
Wir wissen, was wir mit dem jetzigen BAT/BMT-G/MTArb haben!
Wir wissen, was wir verlieren!
Umfassende Aufklärung und gewerkschaftliche Diskussion mitabschließender demokratischer Abstimmung aller Kolleginnen undKollegen!
Kündigt die Entgelttarifverträge und mobilisiert dieBeschäftigten von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam für eineVerbesserung der Einkommen und eine Rücknahme aller bisherdurchgeführten Verschlechterungen!
So werden sich dieBeschäftigten wieder von ihrer Gewerkschaft vertreten fühlen. Nur sostoppen wir Massenaustritte und stärken unsere gewerkschaftlicheEinheit und Widerstandskraft!
Mit kollegialen Grüssen für ein gemeinschaftliches gewerkschaftliches Engagement!
ErstunterzeichnerInnen:
Bodo Alpert (FB VII, Vors. d. FG Feuerwehr Leipzig Nordsachsen)
Gerhard Avanzini (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Hans-Jörg Barthel (FB II, Vors. d. PR Stadtreinigung Leipzig)
Gunter Bichel (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Heike Böhm (FB V, Hochschulgruppe Leipzig)
Michael Borngräber (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Jens Cornelius (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Thomas Dolnitzki (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Bernd Demut (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Hilmar Geiger (FB II, stellv. Vorsitzender d. PR Stadtreinigung Leipzig)
Diana Heinze (FB II, Mitgl. der JAV d. Stadtreinigung Leipzig)
Manuela Haubold (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Babett Jantke (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Fernando Joaquim (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Ilona Kahl (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Michael Kaufmann (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Matthias Kienzler (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Fritz König (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Gert Kutzschke (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Doris Langer (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Vieira Malua (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Cornelia Matzke (FB III, Ärztin)
Ingmar Meinike (FB V, Universität Leipzig)
Annett Mett (FB III, Mitgl. d. PR d. Landesklinik Hubertusburg)
Michael Miller (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Kathrin Mittmann (stellv. Vorsitzende d. JAV d. Stadtreinigung Leipzig)
Diana Rasser (FB II, Ersatzmitgl. d. PR d. Stadtreinigung Leipzig)
Ute Reinsdorf (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
André Sachse (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Peter Schwartz (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Kathrin Stoever (FB III, Mitgl. d. PR d. Universitätsklinikum Leipzig)
Frank Töpfer (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Ramona Uhlemann (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Christoph Wälz (FB V, Hochschulgruppe Uni Leipzig)
Bernd Wiesner (FB II, Stadtreinigung Leipzig)
Sebastian Will (FB III, Vorsitzender d. PR d. Universitätsklinikums)
Karl-Heinz Zimmermann (FB II, Mitgl. d. GPR d. Stadt Leipzig)
Kontakt: Heike Böhm