Superausbeutung, Massenelend und soziale Proteste kennzeichnen das heutige China
   
  Weltweit feiern die Kapitalisten China als neue Hoffnung für die   Weltwirtschaft – nicht zuletzt in Deutschland, konnten die VW-Bosse doch   letztes Jahr zum ersten Mal mehr Volkswagen in China absetzen als in der   Bundesrepublik.
Welche Rolle spielt China tatsächlich für die   Weltwirtschaft? Wie lange werden die Wachstumsraten der chinesischen   Wirtschaft noch anhalten? Was sind die Ursachen für diesen Aufschwung?
Der   neoliberale Economist hat genau das ausgedrückt, was sich die   Unternehmer und Regierungen international vom chinesischen Markt   erwarten: "Die Integration Chinas mit seinen 1,3 Milliarden Menschen   wird für die Weltwirtschaft ebenso bedeutsam, wie es der "Schwarze Tod’,   (von dem man ausging, dass er in China seinen Ursprung hatte), für das   Europa des 14. Jahrhunderts war – aber mit den entgegengesetzten   Auswirkungen. Der "Schwarze Tod’ kostete einem Drittel der Bevölkerung   Europas das Leben, Löhne stiegen, Kapital und Ländereien gingen   verloren. Demgegenüber wird die Integration Chinas Löhne von schlecht   ausgebildeten Beschäftigten und die meisten Verbrauchsgüterpreise   drücken und das globale Kapital mehren."
Das Magazin legt   noch eins drauf und behauptet: "Binnen eines Jahrzehnts wird es   wahrscheinlich Export- und Importweltmeister sein und eines Tages die   USA als größte Wirtschaftskraft der Welt ablösen."
Im   September letzten Jahres, während des 16. "Volkskongresses", wurde die   Macht von Staat, Regierungspartei und Armee endgültig in den Händen von   Hu Jintao konzentriert. Er ist der erste Herrscher, der keine   Verbindungen zur Revolution 1949 hat. Einige Kommentatoren bezeichneten   ihn als den "chinesischen Gorbatschow". Fakt ist, dass Hu Jintao für   Tibet zuständig war, als dort 1989 das Kriegsrecht verhängt wurde.   Zutreffend ist, dass er für einen marktwirtschaftlichen Kurs eintritt.
Wirtschaftsboom
Chinas   Wachstum seit der Marktreformen von 1978 und vor allem in den letzten   zehn Jahren ist in der Tat eindrucksvoll. Es stellt einen realen Faktor   für den Aufschwung der Weltwirtschaft dar. Seit dem Beginn dieses neuen   Kurses 1978 stieg das Bruttosozialprodukt im Schnitt um 9,5 Prozent im   Jahr.
In China werden heute zwei Drittel aller Kopiergeräte,   Mikrowellen und DVD-Spieler weltweit produziert, mehr als die Hälfte   aller Digitalkameras und Schuhe und zwei Fünftel aller PCs. 2003 nahm   China ein Viertel des Stahls auf dem Weltmarkt ab und wurde der   zweitgrößte Öl-Importeur. Es ist auch der größte Abnehmer von Kupfer,   Kohle und Zement.
Chinas Export von Produktionsgütern erreichte ein   Volumen von 400 Milliarden Dollar 2003. Inzwischen nimmt China nach   Deutschland und den USA beim Export den dritten Platz ein.
Chinas   Anteil am globalen Bruttosozialprodukt (BSP) beträgt vier Prozent.   Berücksichtigt man die Kaufkraftparität, sprich die internationale   Kaufkraft des Landes, soll China sogar 13 Prozent vom weltweiten BSP   ausmachen (die Kaufkraftparität gibt an, wie viel Einheiten der   jeweiligen Währung erforderlich sind, um den gleichen repräsentativen   Waren- und Dienstleistungskorb zu kaufen, den man für einen US-Dollar   erhalten könnte).
Obgleich der chinesische Exportsektor großen   Anteil am "Wirtschaftswunder" hat, macht der Export nicht mehr als 30   Prozent vom gesamten Sozialprodukt des Landes aus, was vergleichbar ist   mit den Zahlen für Europa. Ohne seinen ihren Binnenmarkt würde die   Wirtschaft zusammenbrechen.
Auslandskapital
Das   Land ist der größte Empfänger ausländischer Direktinvestitionen (sie   betragen um die 50 Milliarden Dollar). Investitionen ausländischer   Konzerne machen 36 Prozent vom gesamten Bruttosozialprodukt aus.
Die   Zölle wurden im Schnitt von 41 Prozent im Jahr 1992 auf sechs Prozent   2001 gesenkt, also dem Jahr, in dem China der Welthandelsorganisation   (WTO) beitrat. Das sind die niedrigsten Zölle von allen   "Entwicklungsländern".
2004 wurden in China 2,2   Millionen Personenwagen abgesetzt. Allerdings wird die Autoindustrie,   wie auch andere Branchen, nicht von einheimischen Herstellern getragen.   70 Prozent der hier verkauften Pkw stammen aus Joint Ventures, weitere   20 Prozent stammen von Importen aus den USA, Westeuropa, Japan und   Südkorea.
Superausbeutung
Billige   Arbeitskräfte sind ein entscheidender Grund dafür, dass immer mehr   Produktionsstätten in China angesiedelt werden. In dem verarbeitenden   Gewerbe beläuft sich der Durchschnittslohn auf umgerechnet weniger als   zwei Euro für drei Stunden.
Eine relativ gute Infrastruktur und   gut ausgebildete Belegschaften waren nur möglich auf Grund der   Chinesischen Revolution von 1949, die zur Verstaatlichung der Industrie    geführt hatte. Aber diese Errungenschaften, die ohne eine geplante   Wirtschaft nicht denkbar gewesen wären, sind nicht von Dauer – im   Gegenteil, sie gehören schon bald der Vergangenheit an.
Zu   alledem kommt die brutale Diktatur und die Repressionen durch den   Staatsapparat. Die Bürokratie an der Spitze von Staat und Wirtschaft   bedeuteten jahrzehntelang ein enormes Hindernis für die   Weiterentwicklung der Planwirtschaft. Heute werden diese   Unterdrückungsorgane von den Kapitalisten genutzt, um die Arbeiterklasse   in Schach zu halten und die Arbeitskosten zu senken.
Kapitalistische Entwicklung
Die Konjunktur der letzten Jahre hat zu   einer Anhäufung gewaltiger Widersprüche geführt, die eine Fortdauer des   bisherigen Wachstums, selbst wenn die schwache Erholung der   Weltwirtschaft andauern sollte, extrem unwahrscheinlich macht. Sehr viel   eher sind ein wirtschaftlicher Einbruch und dramatische soziale Unruhen   und Konflikte zu erwarten; Entwicklungen, welche die Krise der   südostasiatischen Nachbarstaaten von 1997 noch weit in den Schatten   stellen könnten.
Die sozialen Errungenschaften der Revolution   sind heute weitgehend beseitigt. Obwohl China nie sozialistisch war,   sondern immer eine stalinistische Diktatur, legte die Enteignung der   herrschenden Klassen und der Aufbau einer Planwirtschaft die Grundlage   für eine enorme Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Zwischen   1955 und 1975 erhöhte sich die durchschnittliche Lebenserwartung um 16   Jahre. Ein staatliches Gesundheits- und Bildungswesen wurden geschaffen,   sowie ein soziales Sicherungsystem, das in ganz Ostasien ohne Beispiel   war. Heute ist die Hälfte der Bevölkerung von der Gesundheitsfürsorge   abgeschnitten, die Armut steigt rapide.
Mit der Öffnung für den Markt   wurde unter Deng Xiaoping 1978 begonnen. Im Zuge des Zusammenbruchs der   Sowjetunion und dem Ostblock vollzogen sich aber qualitative   Veränderungen in den Produktionsverhältnissen. Heute ist der nach   kapitalistischen Mechanismen "funktionierende" Privatsektor die   treibende Kraft in der Wirtschaft Chinas; es ist dieser Sektor, der   maßgeblichen Einfluss auf die Politik des Staatssektors nimmt, nicht   umgekehrt.
Den Hintergrund für den wirtschaftlichen Aufschwung des   letzten Jahrzehnts bildet in keiner Weise die angebliche Überlegenheit   der kapitalistischen Produktion, sondern die Plünderung öffentlichen   Eigentums, sowie die Öffnung Chinas für das Auslandskapital und die   Superausbeutung der arbeitenden Bevölkerung. Auch der große Binnenmarkt   ist ein Faktor. (Dabei können die einstigen Erfolge der Planwirtschaft –   die trotz der Bürokratie erzielt wurden – jetzt von den Kapitalisten für   ihre Interessen genutzt werden).
Krisentendenzen
China   hat sich mit dieser Politik der "Öffnung" auch den Widersprüchen des   kapitalistischen Systems geöffnet. Damit verbunden sind soziale Proteste   und Klassenkämpfe.
Das Hauptproblem sind die Krisen durch   Überproduktion und Überkapazitäten, die dem Kapitalismus latent   innewohnen und in China akut zu Tage treten. Die Konsumentennachfrage   hält längst nicht Schritt mit dem Tempo der Produktionssteigerungen.   Kein Wunder, wird die Arbeiterklasse doch generell nur für einen Teil   der geleisteten Arbeit bezahlt. In China basiert die wirtschaftliche   Entwicklung noch dazu weitgehend auf Niedrigstlöhnen.
Die   Regierenden versuchten, diese Probleme zu meistern, indem sie sich auf   eine fahrlässige Kreditpolitik einließen. Die Verschuldung der   Konsumenten beläuft sich heute auf das 20-fache des Jahres 1998. In   Schanghai beträgt das Schuldenniveau 155 Prozent des jährlichen   Einkommens. Es wird geschätzt, dass sich die "faulen Kredite" im   Bankgewerbe auf sage und schreibe 40 Prozent des Bruttosozialprodukts   hochgeschraubt haben.
Um die Wirtschaft vor einer "Überhitzung" zu   bewahren und um zu verhindern, dass der Kreditberg wie eine Seifenblase   platzt, hat die chinesische Notenbank die Zinssätze zum ersten Mal seit   neun Jahren heraufgesetzt.
Ungleiche Entwicklung
Es   tun sich mittlerweile Engpässe bei der Stromversorgung auf und die   Probleme bei der Erneuerung der Infrastruktur häufen sich. Die   Infrastruktur ist nur in bestimmten Teilen entwickelt, nämlich in den   Regionen, die für den Export von besonderer Bedeutung sind und generell   in den Küstengebieten. Ein Beispiel für die einseitige Entwicklung ist   das boomende Zhongshan in der Region von Guangdong (der reichsten Region   überhaupt): dort gibt es zwar fünf Flughäfen innerhalb von 90   Kilometern, aber nicht eine einzige Zugverbindung.
Das   Auslandskapital tummelt sich nur an den Küsten und einigen wenigen   Regionen und Städten. Ein Großteil Chinas bleibt außen vor. Darum zielen   die neuen Kapitalisten auf eine "Kolonialisierung" des eigenen   Hinterlandes ab. In der Tat sind die Zölle zwischen den verschiedenen   Regionen häufig höher als zwischen China und anderen Staaten.
Hölle auf Erden
Die meisten Subventionen, die bislang noch   der Landbevölkerung zu gute kamen, sind gestrichen worden. Mit der   Beseitigung des sozialen Netzes werden mehrere hundert Millionen   ehemaliger Bauern gezwungen, vom Land in die Stadt zu ziehen. Diese   "Urbanisierung" im letzten Vierteljahrhundert ist die größte   "Auswanderungwelle" in der Geschichte überhaupt.
Es   gibt 150 Millionen Wanderarbeiter. Gleichzeitig werden jährlich zwischen   sieben und neun Millionen dadurch erwerbslos, dass Staatsbetriebe   verkauft oder dichtgemacht werden. Die offizielle Arbeitslosenquote   liegt bei fünf Prozent, inoffiziell ist sie jedoch deutlich höher.
Laut   amtlichen Angaben kamen zwischen 2001 und 2003 42.000 Frauen und Kinder   frei, die für den Frauen- und Kinderhandel festgehalten worden waren.   Mit der Wiedereinführung "moderner" kapitalistischer Methoden hält also   auch der antike Sklavenhandel wieder Einzug.
Die   Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz werden in einem Maße   vernachlässigt, dass zum Beispiel im Bergbau weltweit 80 Prozent aller   Grubenopfer in China zu beklagen sind, obwohl China nur 35 Prozent der   global produzierten Kohle aufbringt.
Die Umweltzerstörung Chinas hat   katastrophale Ausmaße angenommen. So wird erwartet, dass China in fünf   Jahren der weltweit größte Verursacher von Treibhausgasen sein wird. Die   Weltbank gibt an, das sich sieben der zehn am meisten verschmutzten   Städte der Welt in China befinden.
Protestbewegungen
Die   Nationalitätenfrage ist auf kapitalistischer Grundlage eine "tickende   Zeitbombe". 92 Prozent im Land sind Han-Chinesen, daneben gibt es jedoch   55 ethnische Minderheiten. Nicht nur in Tibet erhalten Separatisten   heute schon Zulauf.
Die wichtigste Entwicklung ist allerdings die   Rückkehr des Klassenkampfs. Gerade in den jüngsten Monaten gab es einen   sprunghaften Anstieg sozialer Proteste. Allein im vergangenen September   sollen 3,1 Millionen Menschen an Streiks und Demonstrationen  beteiligt   gewesen sein.
Im Oktober letzten Jahres protestierten in Schenzhen   3.000 Fabrikarbeiter dagegen, dass sie sieben Tage die Woche 14 Stunden   am Tag an den Fließbändern sitzen müssen. Im Herbst gab es auch einen   Streik, der sieben Wochen andauerte. Beteiligt waren vor allem   Textilarbeiterinnen, die sich gegen die Privatisierung ihrer Fabrik   wehrten – in der Provinz Schanxi. Das war der längste Streik, seit die   "Volksrepublik" 1949 ausgerufen wurde.
In der gleichen Zeit   lieferten sich im Südwesten Chinas Tausende Straßenschlachten mit der   Polizei, nachdem sie gegen korrupte Funktionäre protestiert hatten. In   der Stadt Chongquing gingen Polizeiautos in Flammen auf,   Regierungsgebäude wurden gestürmt. Im ländlichen Sichuan besetzten   100.000 Bauern das Gelände eines Staudamm-Projektes, um gegen Korruption   Alarm zu schlagen.
Die chinesische Arbeiterklasse muss dafür sorgen,   dass der neue, kapitalistische "Schwarze Tod" überwunden wird und – wie   der "Schwarze Tod" vor 650 Jahren – nur noch in den Geschichtsbüchern   auftaucht.
von Tommy Lindqvist, Berlin