Gewerkschaften im Jahr 2004: Kampflose Niederlagen und offener Ausverkauf, aber auch beginnende Selbstorganisation an der Basis und in den Betrieben
Für die bundesdeutsche Gewerkschaftsbewegung war das sich nun seinem Ende zuneigende Jahr eines turbulenter Entwicklungen. Die fast flächendeckende Absenkung in der Vergangenheit erkämpfter Tarife zumeist gepaart mit der Drohung, Produktion und Arbeitsplätze zu verlagern , die Verbetrieblichung der Auseinandersetzung und damit einhergehende Zerfaserung des Flächentarifs und zunehmende Spaltung der Belegschaften, die Privatisierung öffentlichen Eigentums und die Vernichtung Tausender Arbeitsplätze … ein Großteil dieser Verschlechterungen wurden kampflos, flankiert von Co-Managern in Gewerkschafts- und Betriebsratsspitzen, durchgesetzt. Aber 2004 war auch das Jahr eines beginnenden Wiederauflebens betrieblichen und politischen Widerstands im Herbst mit den Begriffen »Montagsdemos« und »Opel« verbunden.
Ausverkauf
Die Rolle der Gewerkschaftsvorstände und Betriebsratsfürsten, die alles daran setzten, konsequenter Gegenwehr die Spitze zu nehmen, ist dabei so offensichtlich geworden wie lange nicht. Die Gründe hierfür sind sicherlich vielfältig. Zum einen haben Spitzengehälter und materielle Annehmlichkeiten so manchen Gewerkschaftsfunktionär wohl vergessen lassen, was es bedeutet, eine Familie von 1189,55 Euro (Bruttomonatslohn der von ver.di im Rahmen der »Tarifreform« abgesegneten Niedriglohngruppe im öffentlichen Dienst) ernähren zu müssen. Zum anderen sind die Ursachen ideologischer Natur: Die Gewerkschaftsspitzen haben die kapitalistische Wirtschaftsordnung vollständig akzeptiert und neoliberales Gedankengut sowie die Logik der Standortkonkurrenz übernommen. Ein Teil klammert sich an das von Kapitalseite längst aufgekündigte Modell der Sozialpartnerschaft und ist deren vehementen Offensive gegenüber schlicht hilflos. Nicht bereit, sich ernsthaft mit Unternehmern und Regierung anzulegen, hoffen sie, diese durch Zugeständnisse beschwichtigen zu können. Jedes Nachgeben zieht jedoch weitere Forderungen nach sich. Das Kapital und seine Repräsentanten sind unersättlich. Aber nicht aus moralischer Verderbtheit, sondern aus den Erfordernissen verschärfter Konkurrenz im globalisierten Markt. Ein Verständnis hierfür fehlt nicht nur in den Gewerkschaftsvorständen, sondern auch in weiten Teilen des Apparats und bei so manchem Betriebsrat. Letztere von den Gewerkschaften, die ihrer ureigensten Aufgabe, die Konkurrenz unter den Beschäftigten zumindest partiell aufzuheben nicht nachkommen, allein gelassen folgen zunehmend der Logik, den »eigenen« Standort gegen den anderen stärken zu müssen. Das Ergebnis ist eine nicht enden wollende Abwärtsspirale bei Tarifen und Bedingungen. Siemens, DaimlerChrysler, Karstadt, Volkswagen und Opel sind nur die schlagzeilenträchtigen Eisbrecher dieser Entwicklung.
»Traditionalisten« am Ende
Die von der bürgerlichen Presse als »linke Hardliner« titulierten Gewerkschaftsführer, wie Jürgen Peters und Frank Bsirske, haben sich in diesem Prozeß binnen kürzester Zeit in weiten Teilen der eigenen Organisation diskreditiert. Denn für die Beschäftigten macht es keinen Unterschied, ob die drastischen Lohnkürzungen von »traditionalistisch« gesinnten Gewerkschaftsfunktionären wie bei VW oder von offenen Co-Managern wie bei DaimlerChrysler und Opel abgesegnet werden. Letztere sind indes in den Gewerkschaftsapparaten auf dem Vormarsch. Der enorm angewachsene Einfluß der Betriebsratsspitzen einiger Großkonzerne gegenüber den hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären ist bereits beim Abbruch des Ostmetallerstreiks im vergangenen Jahr deutlich geworden. In diesem Jahr standen die Betriebsratsfürsten selbst im Rampenlicht und erwiesen sich als willige Helfer der Konzernbosse. Am offensichtlichsten ist dies im Falle des »Vorstandsverstehers« und Opel-Gesamtbetriebsratschefs Klaus Franz.
Auflebender Widerstand
2004 war aber nicht nur das Jahr kampfloser Niederlagen und des Ausverkaufs durch die eigenen Funktionäre. Es markierte auch den Beginn auflebenden Widerstands und, nach einer langen Phase des Niedergangs, die ersten Schritte zu größerer Selbstorganisation und Vernetzung an der Basis. Ein Wendepunkt in dieser Hinsicht war die Demonstration der 100000 am 1. November letzten Jahres durchgesetzt gegen den erklärten Willen der Gewerkschaftsbosse. Danach sahen diese sich, um die Kontrolle wiederzuerlangen und aus gewissem Eigeninteresse, dazu gezwungen, eine Welle von Arbeitsniederlegungen zur Verteidigung der Tarifautonomie zu organisieren und zu den Großdemonstrationen am 3.April aufzurufen. Mit mehr als einer halben Million Teilnehmern dokumentierte diese zwar einerseits die Bereitschaft zur Gegenwehr, andererseits waren die Gewerkschaftsspitzen damit zunächst in der Lage, den Unmut zu kanalisieren.
Im Herbst dann die für alle überraschenden Massenproteste gegen »Hartz IV«. Spontan und abseits der traditionellen Organisationen entlud sich die Wut der Bevölkerung vor allem Ostdeutschlands. Die Führungsetagen des DGB begegneten dieser von Erwerbslosen getragenen Bewegung mit einem schier unglaublichen Maß an Ignoranz. Obwohl die Gesetze zu Arbeitszwang und Leistungskürzung eine fundamentale Attacke auch auf die Beschäftigten darstellt viele von ihnen werden das erst in den kommenden Wochen vollständig realisieren verweigerten die Bundesvorstände der Gewerkschaften ihre Unterstützung für die Proteste, die auf Demonstrationen beschränkt blieben und in der Folge zumindest vorerst abflauten.
Betriebliche Gegenwehr
Auch auf betrieblicher Ebene hatten die bürokratisierten Gewerkschaftsapparate nicht immer die sonst übliche Kontrolle über das Geschehen. So beim bundesweiten Aktionstag der DaimlerChrysler-Belegschaften am 15. Juli, als die seither als »Mettinger Rebellen« bezeichneten Kollegen die B10 von Mettingen nach Untertürkheim blockierten. Bei Siemens in Kirchheim/Teck und Märklin im schwäbischen Göppingen traten die Beschäftigten ohne gewerkschaftliche Aufrufe in Aktion. Der vorläufige Höhepunkt dieser wichtigen Entwicklung kam dann mit dem siebentägigen Ausstand der Bochumer Opelaner im Oktober. Organisiert von Aktivisten im Betrieb fand dieser »wilde Streik« nicht nur ohne, sondern gegen die Führung von IG Metall und Betriebsrat statt. Nur mit großer Mühe und reichlich Tricksereien gelang es diesen schließlich, den Kampf abzubrechen.
Materiell hat die Bochumer Belegschaft bislang nichts wahrnehmbares erreicht. Aber die Auseinandersetzung könnte, trotz der Angst und Frustration vieler Arbeiter, jederzeit wieder aufflammen. Nicht zu unterschätzen jedenfalls sind die Erfahrungen, die Aktivisten in Bochum, Mettingen, Göppingen usw. bei solchen Konflikten sammeln. Sie sind eine notwendige Voraussetzung dafür, daß zukünftige Auseinandersetzungen zugunsten der Beschäftigten entschieden werden können. Eine weitere ist, daß sich eine Vernetzung der Aktivisten über Betriebs- und auch Ländergrenzen hinweg entwickelt, die nicht beim Austausch von Informationen und Analysen stehenbleibt, sondern auch gemeinsames Handeln ermöglicht. Die Entstehung einer kampagnefähigen oppositionellen Struktur organisierter Gewerkschaftsaktivisten mit Verankerung in wichtigen Betrieben und Bereichen kann die gewerkschaftliche Landschaft der Bundesrepublik und Europas nachhaltig verändern. Sie kann Katalysator für den angestauten Unmut vieler Beschäftigter werden. Die Möglichkeiten, aber auch die Dringlichkeit hierfür haben im Jahr 2004 deutlich zugenommen.
von Daniel Behruzi, erschienen in der Jungen Welt vom 28.12.2004
Widerstand 2004
Im folgenden eine bei weitem unvollständige Zusammenstellung der Proteste im Jahr 2004.
* 9. Januar: Beginn des bis heute andauernden Streiks bei den Herweg Bus-Betrieben (HBB) in Leverkusen für die Einführung des von ver.di ausgehandelten Sparten-Tarifvertrags
* Januar/Februar: 500000 Metaller aus 1800 Betrieben beteiligen sich im Rahmen der Tarifrunde an Warnstreiks
* 29. Januar: Beginn des vierwöchigen Streiks der Tageszeitungsredakteure. Vereinzelt kommt es zu Solidaritätsstreiks von Druckern und Verlagsangestellten
* 16. März: In München demonstrieren 10 000 Gewerkschafter gegen die Streichung von 18000 Stellen, Arbeitszeitverlängerung und Lohnraub im öffentlichen Dienst des Freistaats
* 3. April: Mehr als 500000 Menschen beteiligen sich in Berlin, Köln und Stuttgart an Demonstrationen gegen Sozialabbau
* 21. April: Mit einem »wilden Streik« legen 20 S-Bahn-Beschäftigte in Berlin am Tag der Tarifverhandlungen 120 Züge still
* 18. Juni: 25000 Siemens-Beschäftigte nehmen an Protesten gegen Arbeitszeitverlängerung, Lohnraub und Produktionsverlagerung teil
* 22./23. Juni: Warnstreiks in zehn Städten Nordrhein-Westfalens mit 2500 Landesbeschäftigten
* 29. Juni21. Juli: In den baden württembergischen Uni-Kliniken beteiligten sich an vier Warnstreiks gegen Arbeitszeitverlängerung und Lohnraub 6200 Kollegen, darunter viele Nichtorganisierte. 1000 Beschäftigte waren im Vorfeld bei ver.di eingetreten
* 5. Juli: Beim Daimler-Aktionstag gehen 60000 Arbeiter während der Arbeitszeit auf die Straße. Die Belegschaft von Daimler in Mettingen blockiert eine Stunde lang die B 10
* 26. Juli: Beginn der Montagsdemonstrationen, auf deren Höhepunkt im September in 250 Städten 150000 Menschen demonstrieren
* 2. September: Protesttag der Hamburger Erzieherinnen mit 8000 Demonstrantinnen
* 6. September: Einwöchiger Streik gegen Arbeitszeitverlängerung und Lohnraub bei Maggi in Singen
* 1. Oktober: 2000 Beschäftigten des Wälzlagerherstellers FAG Kugelfischer in Schweinfurt reagieren mit einer mehrtägigen Arbeitsniederlegung gegen die drohende Verlagerung von 1000 Arbeitsplätzen nach Osteuropa
* 2. Oktober: In Berlin demonstrieren ohne Aufruf der Gewerkschaften bis zu 70000 gegen »Hartz IV«
* 14.20. Oktober: »Wilder Streik« bei Opel Bochum
* 26./27. Oktober: Spontane Arbeitsniederlegung bei Siemens in Kirchheim/Teck gegen Tarifabbau ohne Standortsicherung
* 2. November: 46000 Arbeiter nehmen im Rahmen der VW-Tarifrunde an Warnstreiks teil
* 17. November: In 20 Städten beteiligen sich 15000 Landesbedienstete an Warnstreiks und Protesten.