Im Dezember will die EU über Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden
1963 wurde die "Assoziierung" der Türkei mit dem EU-Vorläufer EWG beschlossen. Warum wollen Schröder und EU-Kommission jetzt daraus eine Mitgliedschaft machen? Warum will Merkel eine "privilegierte Partnerschaft" einführen, die es schon seit 41 Jahren gibt?
Die letzten Jahre haben die USA und Britannien die Aufnahme des NATO-Landes Türkei in die Europäische Union (EU) gefordert, während Länder wie Deutschland und Frankreich eher zögerten. Beides hatte den selben Grund. Die Türkei galt wie Britannien als besonders enger Verbündeter der USA, während die Herrschenden in Frankreich und Deutschland versuchen, die EU zu einer mit den USA konkurrierenden Weltmacht aufzubauen. Dazu dient die Aufrüstung der EU, die sogar in der EU-Verfassung verankert werden soll. Dazu dient die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Dass Chirac und Schröder jetzt für den EU-Beitritt der Türkei sind, drückt die Hoffnung aus, die Türkei im Laufe der jahrelangen Beitrittsverhandlungen "umpolen" zu können. Dann wäre die Türkei mit ihrer Lage – grenzend an Irak und Kaukasus, also auf dem Weg zum Erdöl des Persischen Golfs und Kaspischen Meers – ein großer Trumpf im Konkurrenzkampf mit den USA. Wenn die Rechnung nicht aufgeht, wäre sie neben Britannien ein weiteres "trojanisches Pferd" der USA in der EU. Diese Unsicherheit ist einer der Gründe, warum die Herrschenden in der EU sich keineswegs einig sind, ob sie für den Beitritt der Türkei sein sollen.
Die Opposition Merkels und der CDU hat aber andere Gründe. Sie wollen mit dem Schüren von dumpfen nationalistischen, rassistischen und anti-islamischen Vorurteilen auf Stimmenfang gehen. Ein paar Tage haben sie sogar mit dem Gedanken an eine Unterschriftensammlung gegen einen EU-Beitritt der Türkei gespielt. Damit haben sie schon erreicht, dass die rechtsextremen Parteien NPD und DVU erklärt haben, sie würden eine solche Unterschriftensammlung auch alleine machen.
In wessen Interesse?
CDU und CSU machen mit Schreckgespenstern Stimmung von Milliarden Subventionen, die zum Beispiel an die türkische Landwirtschaft fließen würden und Millionen ArbeiterInnen, die nach Westeuropa kommen würden. Tatsächlich wollen die EU-Kommission oder Schröder genauso wenig türkischen KleinbäuerInnen ein besseres Leben ermöglichen oder türkischen ArbeiterInnen zu deutschen Tariflöhnen verhelfen (an deren Demontage Schröder ja eifrig arbeitet). Ihnen geht es neben den strategischen Zielen um die Öffnung der Türkei für westeuropäisches Kapital. Wenn Hilfen in "die Türkei" fließen werden, wird ein Großteil des Geldes in den Taschen westeuropäischer Industrie- und Agrarkapitalisten landen. Die große Masse der BäuerInnen in der Türkei wird dabei gegen die Wand gedrückt werden, wie das in Polen mit dem EU-Beitritt auch passiert ist. Die EU wird den Aufbau moderner Fabriken (mit vielen Maschinen und wenig Arbeitskräften) in der Türkei subventionieren, mit denen dann die ArbeiterInnen hier in Deutschland (egal, ob sie einen deutschen, türkischen oder sonstigen Pass haben) erpresst werden.
Dass die EU-Agrar- und Strukturpolitik den multinationalen Konzernen zugute kommt und nicht den arbeitenden Menschen in der Türkei, dafür werden schon die von der EU-Kommission angekündigten "langen Übergangsfristen" sorgen (die natürlich erst nach den über zehn Jahre langen Verhandlungen beginnen sollen!) Bei der Freizügigkeit der ArbeiterInnen ist sogar von "permanenten Schutzklauseln" die Rede (geschützt wird durch sie der Staat vor dem Zahlen von Sozialleistungen).
Menschenrechte und Waffen
Wenn "unsere" Politiker die Öffnung des türkischen Marktes meinen, dann sagen sie Menschenrechte. Die einen preisen Fortschritte, die nur auf dem Papier bestehen (auch wenn dieses Papier "Gesetz" heißt). Die anderen kritisieren Folter, Pressezensur, Unterdrückung der KurdInnen, Zwangsehen und so weiter, die bisher die Mitgliedschaft der Türkei in der "Wertegemeinschaft" NATO nicht behindert haben.
Ein Nebenprodukt der Beitrittsverhandlungen ist, dass das deutsche Auswärtige Amt ankündigte, über eine Lockerung der Rüstungsbeschränkungen an die Türkei müsse neu nachgedacht werden. 1999 war der türkische Wunsch nach 1.000 deutschen Leopard-2-Panzern noch abgelehnt worden. Wenn die Türkei von Washington nach Berlin-Paris "umgepolt” werden soll, muss der deutsche Imperialismus nicht nur als Handelspartner und Investor, sondern auch als Waffenlieferant die Türkei abhängig machen.
1991 waren der Türkei unter Kohl schon 300 NVA-Schützenpanzer überlassen worden. Das ZDF-Magazin "Frontal 21" berichtete kürzlich, dass Spezialkräfte der türkischen Gendarmerie diese Panzer in der Provinz Sirnak gegen aufständische KurdInnen einsetzten.
Wirtschaftsblöcke
Ein weiterer Grund, dass die "privilegierte Partnerschaft" (Assoziation seit 41 Jahren, Zollabkommen seit acht Jahren) durch eine EU-Mitgliedschaft ersetzt werden soll, ist die wachsende Gefahr von Handelskriegen und die zunehmende Aufteilung der Welt in Wirtschaftsblöcke, vor allem NAFTA (USA, Kanada und Mexiko, soll auf ganz Nord- und Südamerika erweitert werden zur FTAA) und EU. In Zukunft könnten diese Blöcke, wie es in früheren Jahrzehnten üblich war, sich wieder durch Zollmauern und andere Handelshemmnisse von einander abschotten. Um für solche Entwicklungen vorzusorgen, ist es wichtig, genügend Länder im eigenen Block fest zu verankern, um dann genügend Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Anlagesphären für Kapital, Arbeitskräfte reserviert zu haben.
Die EU-Erweiterungspläne sind voller Widersprüche und zu einem guten Teil eine Flucht nach vorn. Es ist wahrscheinlich, dass statt einem EU-Beitritt der Türkei ein großer Katzenjammer kommt.
Die SAV lehnt nicht die Türkei ab, sondern will die EU des Kapitals den Menschen weder in der Türkei noch in Deutschland oder anderswo zumuten. Der Kapitalismus ist zu einer wirklichen Vereinigung Europas unfähig. Ziel muss eine sozialistische Föderation Europas – einschließlich einer sozialistischen Türkei – sein.
von Wolfram Klein, Stuttgart