Mehr als 50.000 demonstrierten gegen Hartz IV
Am 2. Oktober reisten Zehntausende aus dem ganzen Bundesgebiet nach Berlin, um an der bundesweiten Demonstration gegen Massenverarmung und Billigjobs teilzunehmen. Die meisten kamen aus Ostdeutschland. MontagsdemonstrantInnen aus Leipzig, Chemnitz und anderen ostdeutschen Städten organisierten eigene kleine Demoblöcke. Auf den vielen selbstgemalten Schildern und Transparenten war unter anderem zu lesen: „Kann es sein, dass sich Marx doch nicht geirrt hat?“ IG-BAU-KollegInnen protestierten in Käsekostümen unter dem Motto: „Das Hartzer Modell stinkt zum Himmel“. Mehrfach wurde auf Schildern und Pappen der Generalstreik gefordert.
Zu den Organisatoren des 2. Oktober gehörten attac, PDS, das Berliner Sozialbündnis und verschiedene Berliner Einzelgewerkschaften. Allerdings hatten die Spitzen von ver.di, IG Metall, GdP, GEW und IG BAU fast nichts getan, um die Demo in den Betrieben und Büros bekannt zu machen. Dies haben vor allem kritische KollegInnen gemacht. Dementsprechend war die gewerkschaftliche Beteiligung schwach. Die Berliner ver.di-Führung um Roland Tremper und Susanne Stumpenhusen trug ein Transparent und bildete einen Gewerkschaftsblock, in den sich jedoch kaum KollegInnen einreihten.
Bis zuletzt hatten sich die Bundesvorstände der DGB-Gewerkschaften geweigert, zu dieser Demonstration aufzurufen und aktiv zu mobilisieren. Um so höher ist es einzuschätzen, dass trotzdem mehr als 50.000 auf die Straße gingen. Die Demonstration hat einmal mehr gezeigt, dass die rückläufige Beteiligung auf den Montagsdemos nicht auf eine rückläufige Wut und Kampfbereitschaft schließen lässt. Obwohl in den letzten Wochen keine Perspektive für die Anti-Hartz-Bewegung aufgezeigt wurde, drückte die Demonstration am 2. Oktober auf dem Alexanderplatz die tiefsitzende Angst und Unzufriedenheit über Hartz IV und den weitverbreiteten Hass gegen das Kapital und seine Politikerfreunde aus. Es gab großen Diskussionsbedarf über die aktuellen Entwicklungen in Deutschland, die nächsten Kampfschritte und über grundlegende Alternativen zur Krise des Kapitalismus.
Bei der Auftaktkundgebung prangerte der Stuttgarter ver.di-Geschäftsführer Bernd Riexinger die „Missbrauch-Mentalität“ der Reichen und Superreichen an und bekam viel Beifall für die Aussage: „Wenn sich diese Wirtschaft den Sozialstaat nicht mehr leisten kann, dann müssen wir uns fragen, ob wir uns diese Wirtschaft länger leisten können.“
Riexinger brachte auch die Stillhaltepolitik der DGB-Führung zur Sprache. Den größten Applaus erhielt Riexinger, als er ausrief: „Gewerkschafter gehören hierher, mit oder ohne Auftrag ihrer Führungen.“ Leider unterließ er es, Vorschläge zur Steigerung der Proteste zu machen und stellte auch nicht den bundesweiten Aktionstag am 17. November heraus. Die bundesweite Aktionskonferenz in Frankfurt am 18./19. September hatte dazu aufgerufen, den ehemaligen arbeitsfreien Tag, der (bis auf Sachsen) im Zuge der Pflegeversicherung gestrichen worden war, in einen Protesttag umzuwandeln, an dem es zu möglichst vielen Arbeitsniederlegungen kommen soll.
Nachdem Polizei, Presse und Politiker wochenlang die Montagsdemos klein redeten, gab die Polizei auch am 2. Oktober nur 15.500, später 25.000 TeilnehmerInnen an. In den bürgerlichen Medien wurden dann 45.000 genannt. Auch wenn mit mehr als 50.000 DemonstrantInnen immerhin eine Teilnehmerzahl erreicht wurde, die in der Lage war, an diesem Tag in Berlin und bundesweit die Folgen der Arbeitgeberoffensive zu thematisieren, so wäre trotz der Blockade der Gewerkschaftsspitze mehr drin gewesen. Leider wurde für diese Demo nicht offensiv in Stadtteilen und Betrieben geworben. Es wurde auch nicht die Verbindung zwischen den Anti-Hartz-Protesten und dem Kampf der Karstadt-Beschäftigten gegen Massenentlassungen oder dem Tarifkampf der VW-ArbeiterInnen gegen Lohnraub aufgezeigt.
Die Sozialistische Alternative (SAV) trat an diesem Tag dafür ein, vom Protest zum Widerstand zu kommen. Die SAV argumentierte dafür, den Protest in die Betriebe zu tragen und auf einen bundesweiten Streik- und Protesttag, einen eintägigen Generalstreik, hinzuarbeiten – durch Druck auf die DGB-Führung und durch Initiativen von unten.
SAV-Mitglieder nahmen auch an einer Aktion teil, die auf die Verantwortung der DGB-Spitze hinweisen und die Streikfrage thematisieren wollte. Gemeinsam mit anderen, darunter AktivistInnen vom „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“, postierten sie sich mit einem Großtransparent neben der Kundgebungsbühne, auf dem stand: „Schluss mit der Sommer-Pause des DGB – Für einen Streik- und Protesttag am 17.11.“
Die SAV zeigte auf, dass die Profitkrise der Hintergrund von Hartz IV, Lohnraub und Arbeitsplatzabbau ist. Wenn die Unternehmer und Großaktionäre von Karstadt zum Beispiel über ihre Umsatzeinbrüche klagen, dann spricht das nicht für Stellenstreichungen, sondern gegen den Irrsinn des kapitalistischen Systems. Die SAV verteilte 5.000 Flugblätter, in dem ein sozialistischer Ausweg dargestellt wird. Es gab viel Interesse an der neuen Ausgabe der Solidarität mit der Überschrift „demonstrieren, protestieren, streiken!“, dem SAV-Aktionsprogramm und weiteren Broschüren und Materialien. Noch wichtiger: Einige DemonstrantInnen wollen die Diskussion über ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Perspektive fortsetzen und überlegen, Mitglieder der SAV zu werden.
von Aron Amm, Berlin