Irakische Massen widersetzen sich imperialistischer Besatzung und irakischer ?bergangsregierung
Die Belagerung von Nadschaf ging am 26. August zu Ende. Von einer Stabilisierung und Befriedung kann seitdem aber keine Rede sein. Das US-Verteidigungsministerium musste zugeben, dass die US-Armee mittler-weile die Kontrolle über große Teile des Zentral-Irak an Aufständische verloren hat. In den vergangenen Monaten wurden aus mehreren Städten im sunnitischen Teil des Landes die Besatzungstruppen vertrieben: Falludscha, Ramadi, Baquba, Samarra …
Anschläge auf Ölanlagen im Süden sind ein Anzeichen dafür, dass auch die britischen Truppen ?ihre? Zone nicht unter Kontrolle haben und der Widerstand ebenfalls in den schiitischen Regionen wächst. Insge-samt wurden im August 87 Anschläge pro Tag gezählt.
Selbst die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte am 18. September: ?Sowenig man das alte Regime in Schutz nehmen muss, so sehr muss man feststellen, dass sich die Lage im Irak fast täglich verschlechtert. Sogar der amerikanische Präsident hat inzwischen eingeräumt, dass man mit einer solchen Radikalisierung, Fanatisierung und Militarisierung, wie sie jetzt zum Ausbruch kommen, nicht gerechnet habe. Die Zahl der ?befreiten Regionen? ? so die Sprache der Aufständischen und der Terroristen ? nimmt zu.? Stimmt, wobei vor allem die massiven Luftangriffe als Reaktion auf die Erfolge der Aufständischen Terror sind. So wurde Falludscha mehrfach bombardiert, Märkte wurden getroffen, Stadtteile standen in Flammen, Familien flohen aus der Stadt.
Die Zahl der getöteten IrakerInnen schätzt amnesty international auf mindestens 10.000 Menschen. Zehntausende sind schwer verwundet oder obdachlos. Wie kürzlich bekannt gegeben wurde, starben im Irak mittlerweile über 1.000 US-Soldaten, der größte Teil davon kam nach dem offiziellen Kriegsende im Mai 2004 ums Leben.
Irakische Sicherheitskräfte scheitern
Die US-Regierung und die irakische Übergangsregierung halten trotzdem am Wahltermin im Januar fest. Der neue von den USA eingesetzte Premierminister des Irak, Ijad Allawi, ist der Meinung, es sei kein Grund, die Wahlen zu verschieben, wenn in einigen umkämpften Städten Wahlen erst einmal nicht stattfinden können. Einige Städte? US-Verteidigungsminister Rumsfeld musste eingestehen, dass zwei bis drei Fünftel ausgeklammert werden müssten. Für Bush ist es wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl in den USA wichtig, den Anschein von beginnender Demokratie und Stabilität zu erwecken.
Die zahlreichen Anschläge im Land richten sich immer öfter auch gegen irakische Polizisten oder Vertreter der Übergangsregierung ? als Handlanger der Besatzer. Mehr und mehr wird die Übergangsregierung als scheindemokratisches Feigenblatt des US-Imperialismus bloßgestellt.
Neben Washington baut auch die NATO zunehmend auf die irakischen ?Sicherheitskräfte?. Unter anderem soll für diese im Irak ein Ausbildungszentrum eingerichtet werden. Auch die Schröder-Regierung will in Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten irakische Polizisten und Soldaten ausbilden und Bestände der Bundeswehr ins Kriegsgebiet liefern.
Al-Sadr und Sistani
Die US-Truppen mussten sich Ende August aus Nadschaf zurückziehen und al-Sadrs Milizen ungestört abziehen lassen, obwohl sie nicht entwaffnet wurden. Es war keine militärische Niederlage der Besatzer, sondern eine politische. Nach den Konflikten im Frühjahr war es der zweite fehlgeschlagene Versuch, al-Sadr und seine Milizen zu zerschlagen. Durch die Belagerung wurde al-Sadr zum Symbol für Widerstand gegen die Besatzer. Noch vor neun Monaten zeigte eine Umfrage, dass gerade mal ein Prozent der irakischen Bevölkerung den schiitischen Kleriker Muqtada al-Sadr unterstützten. Als die Umfrage im letzten Mai wiederholt wurde, fanden sich 68 Prozent der Befragten auf al-Sadrs Seite.
Al-Sadrs Einfluss ist besonders groß in Sadr-City, einem Zwei-Millionen-starken Armenviertel von Bagdad (mit seinen 5,5 Millionen). Mit Phrasen von irakischem Nationalismus versucht er, auch Schichten der sunnitische Bevölkerung anzusprechen. Doch al-Sadrs Programm für einen reaktionären theokratischen Schiiten-Staat bietet keinen Ausweg für die irakische Bevölkerung. Schon zeigt sich, wie brüchig die scheinbare Einheit der irakischen Widerständler ist.
Ayatollah Sistani, einer der ranghöchsten schiitischen Persönlichkeiten im Irak, spielte bei den Verhandlungen um die belagerte Stadt Nadschaf eine Schlüsselrolle. Er erlöste die USA aus der für sie festgefahrenen Situation, indem er einen Friedensvertrag zwischen al-Sadr und den amerikanischen Besatzern aushandelte. Sistani versucht einen gefährlichen Balanceakt. Doch seine Unterstützung wird schwinden, je eindeutiger es wird, dass er letztlich die amerikanische Besatzung unterstützt. Anfang des Jahres rief er zu Protesten für freie Wahlen auf ? nur, um gegenüber anderen radikaler erscheinenden schiitischen Führern mithalten zu können. Als er kalte Füße bekam und die Aktionen schnell wieder absagte, verlor er damals an Ansehen.
Klasseninteressen
Dauerhaft ist Einheit zwischen ethnischen Gruppen und Religionen innerhalb des Widerstands nur erreichbar, wenn sich die Akteure sich der gemeinsamen materiellen und politischen Interessen bewusst werden. Dann wird rasch klar, dass ArbeiterInnen, Erwerbslose und benachteiligte Bauern untereinander mehr gemeinsam haben als mit Kapitalisten, Großgrundbesitzern und reichen Familien, die ? teilweise unter dem Deckmantel der Religion ? um Einfluss und Macht streiten. Die wachsende Unterstützung für al-Sadr zeigt das Potenzial für eine Massenbewegung der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen gegen die Besatzung, welche die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen vereint.
Unmittelbar nötig wäre die Bildung von multiethnischen Verteidigungsmilizen unter der demokratischen Kontrolle der verarmten Massen, um einen wirksamen Schutz gegen die Übergriffe der Besatzungstruppen zu organisieren und ethnische und religiöse Zusammenstöße zu verhindern.
Beim Widerstand gegen die Besatzer sollte die Frage in den Vordergrund gestellt werden, wer das Öl und alle Reichtümer des Landes kontrolliert. Eine breite Protestbewegung sollte einfordern, dass auf allen Ebenen demokratisch gewählte Delegierte zu einer landesweiten Versammlung zusammenkommen. Eine gewählte Regierung der Beschäftigten, Erwerbslosen und armen Bauern könnte die zentralen Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Kriegsgefahr angehen ? aber nur, wenn Kapitalismus und Großgrundbesitz überwunden werden.
von Linda Schütz, Rostock