Interview mit Yasmin Chaurau, Aktivistin der marxistischen Organisation U.T.O.P.I.A.
Venezuela ist reich an Erdöl. Kommt das allen zugute? Wie sind die Lebensbedingungen?
Wir leben im Kapitalismus. 80 Prozent der Bevölkerung lebt seit Jahren in Armut. Fünf Prozent werden zu den Superreichen gezählt und 15 Prozent zur Mittelschicht, also Akademiker, gut ausgebildete ArbeiterInnen, kleine Geschäftsinhaber.
In der Hauptstadt Caracas lebt die Mehrheit in Wellblechhütten auf den Hügeln um die Stadt. Das sind häufig Leute, die vom Land kommen. Die Stadt ist gespalten: Im Westen wohnen die Armen, im Osten ist die bürgerliche Wohngegend. Und genauso ist das Land gespalten: Die Armen unterstützen Regierungschef Chávez, die Reichen sind seine erbitterten Feinde. Das hat seine Gründe. So hat die Chávez-Regierung für 1,5 Millionen Menschen ein Alphabetisierungsprogramm gestartet, mit dem sie praktisch durch sind.
Wie unterstützt die Masse die Chávez-Regierung?
Viele haben sich auf freiwilliger Basis den ?Missiones? angeschlossen. Es gibt auch staatliche Strukturen, die ?asamblea ciudadanos?, in die viele einbezogen werden, um die öffentliche Verwaltung zu kontrollieren und Entscheidungen der gewählten VertreterInnen zu überprüfen. Am bekanntesten sind die ?Círculos Bolívarianos?. Eine Menge Menschen engagieren sich dort, verbreiten Informationen, bringen Zeitungen heraus, andere kümmern sich um Spendenaktionen.
Außerdem gibt es auch eigenständige Zusammenschlüsse in jedem Stadtteil, die so genannte ?esquina caliente? [?heiße Straßenecke?], wo Chávez-AnhängerInnen regelmäßig Flugblätter verteilen.
Chávez hat einen Putsch (April 2002), einen Unternehmerstreik (Ende 2002/Anfang 2003) und kürzlich den Einmarsch von Paramilitärs, die über Kolumbien ins Land eindrangen, überstanden. Daraufhin hat er zur Gründung von Milizen aufgerufen. Hatte der Aufruf reale Folgen?
Nein. Ein paar Tage nach dem Aufruf hat sich ein Militäroffizier zu dem Thema im TV geäußert. Er sagte, dass Chávez es nicht so meinen würde. Die Leute könnten regulär Wehrdienst leisten, oder Reservesoldaten werden. Chávez hat die Worte dieses Offiziers nie dementiert. In der Folge sind die Eintritte in die Reservearmee unglaublich angestiegen.
Das Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI) ist der Ansicht, dass eine unabhängige Bewegung der ArbeiterInnen und der armen Bauern notwendig ist, um den Kapitalismus durch eine sozialistische Gesellschaft zu ersetzen. Stimmst du darin überein?
Ja. Das ist auch unsere Meinung. Wir denken, dass Chávez kein Revolutionär ist, sondern nur ein Mittel zur Veränderung darstellt. Wir werden ihn auch kritisieren, wenn er weiter nach rechts geht.
Kannst du das näher erklären?
Nehmen wir die Bolivarianische Bewegung, die hinter Chávez steht. Bei der Aufstellung von KandidatInnen sucht sich Chávez seine Favoriten selber aus. Es gibt Leute, die für ihn kandidieren, aber fordern, dass sie von unten bestimmt werden sollen. Chávez widerspricht dem. ?Um der Einheit der Bewegung willen? wäre es angeblich notwendig, sie von seiner Seite her auszusuchen.
Viele Leute, die Chávez ausgewählt hat, haben sich später der Opposition angeschlossen. Aber die Leute sind jetzt rebellischer. In vielen Regionen und Wahlbezirken wurden KandidatInnen, die von Chávez vorgeschlagen worden waren, zunächst abgelehnt. Dennoch hat die Basis in den meisten Fällen am Ende ?zum Wohle der Einheit der Bewegung? nachgegeben.
Und eure Gruppe, U.T.O.P.I.A, ergreift da auch Partei?
Ja. In der Region Guayana haben wir einen Arbeiterkandidaten unterstützt: Ramon Maduca von einer Stahlfirma mit einer kämpferischen Belegschaft, er ist Präsident der SUTIS-Gewerkschaft. In dieser Vorwahl hat er gegen den General Gomez kandidiert, der von Chávez unterstützt wurde ? obwohl dieser General Chávez im Putsch vor zwei Jahren nicht unterstützt hatte. Aber oft handeln wir uns mit unserer Kritik auch Probleme ein. Die Leute denken dann gleich, dass wir für die Opposition sind ? nur weil wir Chávez kritisieren.
Das Referendum, das die Opposition gegen Chávez anstrengte, war die bislang letzte große Auseinandersetzung zwischen der Regierung und den verarmten Massen auf der einen und den Kräften der Reaktion auf der anderen Seite. Was spielte sich im Vorfeld des Referendums ab?
Diese Abstimmung führte zu einer ungeheuren Polarisierung in der Gesellschaft, zwischen Arm und Reich, zwischen links und rechts. Chávez sprach von der Schlacht von ?Santa Ines?. Das war eine berühmte Schlacht im Unabhängigkeitskrieg. Er hat das gesamte Netz von UnterstützerInnen mit militärischen und religiösen Begriffen versehen. Da gibt es die ?Misión Fiorentino? ? das ist eine religiöse Figur, die dem Teufel die Stirn bietet. Dann das ?Comando Moisanta?. Moisanta war ein Ururgroßvater von Chávez. Und schließlich die UBE´s (?Unidad de batalla electoral?) ? kleine Gruppen auf Wahlkreisebene.
Das Gespräch führte Pablo Alderete.
Referendum abgewehrt – Selbstorganisation von unten nötig
1998 wurde der ehemalige General Chávez zum Präsidenten gewählt. Seitdem konnte er sich in acht Wahlen und Abstimmungen erfolgreich behaupten. Zuletzt im Referendum Mitte August, das Kapitalisten und Großgrundbesitzer zu seiner Abwahl angestrengt hatten. 58,25 Prozent stimmt für ihn, die Opposition kam auf 41,74 Prozent. 4,9 Millionen (bei einer Bevölkerung von 24 Millionen) gaben Chávez ihre Stimme, das ist eine beeindruckende Steigerung gegenüber der letzten Präsidentschaftswahl im Juli 2000, als Hugo Chávez 3,75 Millionen Stimmen erhielt.
Vor dem Referendum hatte die rechte Opposition im April 2002 versucht, die Regierung wegzuputschen. Von Dezember 2002 bis Februar 2003 organisierten die Unternehmer und Anhänger der Opposition innerhalb der staatlichen Ölgesellschaft eine Massenaussperrung. In beiden Fällen scheiterte die herrschende Klasse, die massiv vom US-Imperialismus unterstützt wurde, kläglich.
Warum riskieren die Kapitalisten ihre Profite? Warum gehen sie mit allen Mitteln gegen die Regierung vor? Weil Chávez und sein Kabinett unter dem Druck der Arbeiterklasse und der verarmten Bauern LehrerInnen zu Alphabetisierungskampagnen in die Provinzen schickt, 10.000 kubanische Ärzte in den Elendsvierteln einsetzt, Kredite für den sozialen Wohnungsbau vergibt, Schulbesuch und Schulspeisung subventioniert, eine Landreform beschlossen hat, die den Reichtum der Großgrundbesitzer in Frage stellt und eine Verfassung beschließen ließ, die demokratischer ist als alle anderen in ganz Lateinamerika. Selbst der Spiegel muss gestehen: ?Die mit Öldollar finanzierten Sozialprogramme sind bei den Armen populär? (33/2004). In der Tat hilft Chávez, dass Venezuela der fünftgrößte Ölexporteur der Welt ist, sich die Ölgesellschaft PDVSA in Staatshand befindet und die internationale Nachfrage nach Öl sowie die instabile Lage in vielen Ölregionen die Preise allein seit Januar um dreißig Prozent steigen ließ.
Auch wenn die Sozialprogramme unter Chávez international herausstechen, hat er bislang die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse unangetastet gelassen. Nach dem rechten Putschversuch vor zwei Jahren versuchte er sogar der Reaktion weiter entgegenzukommen, in dem er Vertretern aus ihren Reihen zu hohen Posten im Staatsapparat verhalf. Obgleich die herrschende Klasse nach ihrer Niederlage im Referendum möglicherweise Zeit braucht, sich neu zu formieren, so wird sie mit Sicherheit früher oder später zum nächsten Schlag ausholen. Darum gilt es, die Ansätze zur Selbstorganisation von unten weiterzutreiben, zu vernetzen und den Kampf der Lohnabhängigen und der verarmten Bauern um die staatliche und ökonomische Macht aufzunehmen. Die marxistische Gruppe U.T.O.P.I.A., mit der das Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI) in Diskussion steht, spricht von der Notwendigkeit einer ?Revolution in der Revolution?.