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3. Meyerhold
Meyerhold in der TEO
1921 meinte der Kunstkritiker Petr Kogan:
„In no field of art has the October Revolution provoked such intense struggle as in the sphere of theater. In the crucial moments of this struggle as in the boundaries which divide the adversaries from each other have been sharply delionhated.“
(Pechat i revolyutssiya, 1921, no. 3, p. 117)
Meyerhold war der radikalste und auch bekannteste Avantgarde-Theaterkünstler. Er war der Meinung, dass die Revolution im Theater der sozialen Revolution folgen müsse, und rief deshalb am 27. 8. 1920 in der „Izvestija“ den „Theateroktober“ aus. Sein Zentralorgan war die „vestnik theatr“, deren Artikel immer besonders scharf formuliert waren – nicht umsonst war von einem „Bürgerkrieg im Theater“ die Rede. Das Theater sollte die Plattform für revolutionäre Ideen werden, den Sieg des Proletariats feiern. Meyerhold plante ein System von RSFR-Theatern, welche neue Mittel des theatralischen Ausdrucks und neue ästhetische Formen entwickeln sollten, die den Geist der Revolution ausdrücken und bewahren konnten. „Wir schützen nicht länger die Interessen des Autors, sondern des Publikums!“ war Meyerholds Maxime. Das hieß konkret, die Stücke so umzuformen, dass sie den „gegenwärtigen“ Erfahrungen näherstanden, zum Beispiel dem Bürgerkrieg.
Aber es war schwierig, den alten Formen mit neuen zu begegnen, sie existierten hauptsächlich in der Theorie; trotzdem wurde Meyerholds 1. RSFR-Theater zu einem Laboratorium für die verschiedensten Experimente mit neuen Spielformen. Mit seiner aus dem Taylorismus (von dem Amerikaner Taylor entwickeltes System zur Effektivierung der Arbeitsabläufe) entwickelten Biomechanik ließ er die Schauspieler akrobatische Übungen ausführen, die diesen die totale Kontrolle über ihre Körper abverlangten.
Auf dem Gebiet des Bühnenbildes fanden die revolutionärsten und bahnbrechendsten Neurungen ebenfalls auf Meyerholds Bühne statt, die namhaftesten Künstler arbeiteten mit ihm zusammen. Um ihn scharte sich auch die Künstler-Jugend, da seine Studios die innovativsten waren.
Meyerholds Konzeptionen
Meyerhold hatte schon lange vor der Oktoberrevolution mit dem naturalistischen Theater seines Lehrers Stanislawski gebrochen und seine eigenen Ideen vom Theater entwickelt, die er jedoch zum Großenteil erst danach umsetzen konnte, viele wiederum wurden aber auch nie realisiert.
Bereits 1906 beschrieb er in seinem Buch „Naturalistisches Theater und atmosphärisches Theater“ die neue Form des „bedingten Theaters“, die das bürgerliche Illusionstheater ablösen sollte. Sie orientierte sich sehr am antiken Amphitheater Griechenlands: die alte Illusionsbühne mit Rampe sollte abgeschafft werden, und damit auch die zweidimensionalen gemalten Kulissen. Stattdessen sollte der dreidimensionale Bühnenraum geschaffen werden, ähnlich dem antiken Theater, da dies Darsteller und Zuschauer näher zusammenbringen würde. Meyerhold sah überdies den Regisseur nicht als „Diktator“, sonder als denjenigen, der die „Brücke zwischen Autor und Schauspielern“ darstellen sollte, und damit dem Schauspieler auch mehr Freiheiten als vorher lässt.
Schon hier legte Meyerhold viel Wert auf die Bewegungen der Schauspieler als Ausdrucksmittel, im Gegensatz zum Worttheater seines Lehrers. Körperbeherrschung war für Meyerhold Vorrausetzung für schauspielerischen Tätigkeit. Diese Vorstellungen waren Ausgangspunkt für sein späteres Konzept der Biomechanik
Während die Maschine, Technik und Industrie für die deutschen Expressionisten furchteinflößend waren und das Mittel zur Zerstörung der Individualität des Menschen und eine Bedrohung für die Menschheit überhaupt darstellten, waren sie für die Sowjets die Hoffnung, das Land aus der Verwüstung zu führen. „Für uns sind Maschine und Technologie mit der Idee der Bewegung zum Sozialismus verbunden. Die Maschine ist eine bedingende Reflexion, die die Bilder vom Kampf, den Errungenschaften und der ersehnten Zukunft wachruft.“
Auch die biomechanische Lehre Meyerholds wie auch die Ideen der Konstruktivisten der LEF hingen mit der Vorstellung der Umgestaltung des Menschen durch eine neue sozialistische Welt zusammen, eines Menschen, der in der Lage sein sollte, physisch und geistig zu lenken. Meyerhold wurde in seinen Forschungen entscheidend von dem proletarischen Metallarbeiter und Dichter Gastew beeinflusst, der einer seit Februar 1920 vom Proletkult abgespaltenen Dichtergruppe „Die Schmiede“ angehörte, ebenfalls begeisterter Fan von Technik und Maschine war und versuchte, mit seinem 1920 gegründeten zentralen Institut für Arbeit, dem CIT, das Taylorsystem der Arbeitsorganisation auf russische Verhältnisse zu übertragen. Er machte sich daran, die optimale Aufteilung von Arbeits- und Bewegungsabläufen zu erforschen, um sie dem Rhythmus der Maschinen anzugleichen. Dabei übertrieb er ein wenig.
„Einen solchen Kollektivismus kann man als „mechanisierten Kollektivismus“ bezeichnen. Die Erscheinung dieses mechanisierten Kollektivismus ist jeder Personalität derartig fremd, ist derart anonym, dass die Bewegungen dieser Kollektivkomplexe sich der Bewegung von Dingen annähern, in denen es schon keine menschliche Individualität mehr gibt, sondern nur noch gleichförmige, normierte Schritte, Gesichter ohne Ausdruck und ohne Seele, die keine Lyrik, keine Emotionen mehr kennen und nicht durch Geschrei oder Gelächter bewegt, sondern mit Manometer und Taxometer gemessen werden. Es besteht kein Zweifel darüber, dass wir im Proletariat die wachsende Klasse vor uns haben, die gleichzeitig ihre lebendige Arbeitskraft wie auch die eiserne Mechanik ihres neuen Kollektivismus entwickelt; der neuen Masseningenieurismus verwandelt das Proletariat in einen sozialen Automaten.“
(Gastew: „Über die Tendenzen der proletarischen Kultur“, in Proletarskaja kultura, 1919)
In Kunst und Dichtung wollte er das auch durchsetzen; die künstlerische Avantgarde, besonders die LEF (Linke Front der Kunst??) ging in eine ähnliche Richtung – siehe Tatlin, Rodschenko, Popowa.
„Für das neue industrielle Proletariat, für seine Psychologie und seine Kultur ist vor allem die Industrie selbst charakteristisch. Stahlskelette, Turbinen, Röhren, Gebäude, Brücken, Kräne und die ganze komplizierte Konstruktion der neuen Bauwerke und Fabriken, die katastrophischen Dimensionen und die permanente Dynamik- das alles durchzieht das tägliche Bewusstsein des Proletariats.“ (Gastew)
Biomechanik
Meyerhold hat versucht, für seine Schauspieler ein „werktätiges Training“, so wie von Gastew gefordert, zu verwirklichen. Dabei orientiert er sich am Bewegungsablauf eines Arbeiters, um ihn auf seinen Schauspieler zu übertragen. Emotionen sollten sozusagen normiert werden, der Schauspieler sollte durch bestimmte Körperbewegungen bestimmte psychische Situationen zum Ausdruck bringen. Jede Bewegung müsse hier zweckmäßig sein und wie im Tanz im ständigen Kontakt zum Partner stehen. Die erzielten Ergebnisse könnten dann im Leben umgesetzt werden, die Schauspieler sollten also dem Publikum eine neue Art der Bewegung beibringen. Mit der Zeit hatte Meyerhold ein ganzes System von biomechanischen Stilmitteln entwickelt und seinen Schülern beigebracht. Die Übungen sollten die Schauspieler dazu befähigen, alle erdenklichen Bewegungen auf der Bühne problemlos auszuführen.
So etwas hört sich im Theater nicht besonders spannend an, aber Meyerhold verband es mit Elementen der traditionellen Comedia dell“ Arte, die dem Ganzen dann etwas Zirkusartiges gab. Hierbei war die Inszenierung von „Ein großmütiger Hahnrei“ mit einem Bühnenbild von Popowa ein Wendepunkt, da sie die perfekte Verbindung und Ausarbeitung von Biomechnik und Konstruktivismus bedeutete, woran sich auch das Proletkult- Theater orientierte.
Später, als Meyerhold den „Theateroktober“ ausgerufen hatte, hatte er seine Zielsetzungen mit denen der Revolution verbunden: Theater sollte nicht mehr nur im Theaterraum stattfinden, sondern auch auf der Straße und in den den Fabriken selbst, wo Arbeiter nach Feierabend Theater spielen sollten (und nicht nur die ausgebildeten Schauspieler), um das Theater zum wirksamen Vermittler des Aufbaus des neuen Sowjetstaates zu machen („wir wollen im Leben selbst spielen“).
Dem Zuschauer kam schon in Meyerholds „bedingtem Theater“ eine aktive Rolle zu. Er sollte sich – genauso wie der Darsteller – immer bewusst sein, das er sich im Theater befindet, und möglichst viel am Geschehen teilnehmen. Der Zuschauer sollte in seiner Vorstellung vollenden, was auf der Bühne nur angedeutet wurde.
Nach der Oktoberrevolution wurde dies umso entscheidender, da dem Arbeiter ja vermittelt werden sollte, dass er in dieser Gesellschaft der Produzent ist, der sie steuert, dass er die Entscheidungen trifft und nicht mehr bevormundet wird – und deswegen auch im Theater nicht in eine passive Rolle gedrängt werden darf: „Die Revolution hat ein besseres Publikum geschaffen. Das will jetzt mitarbeiten, interessiert sich, fragt, lebt. Es erörtert neue Ideen, nimmt Stellung zu den großen Problemen. Die Rede ist von einer „Theatralisierung des Lebens.“
Bei den Massenaufführungen kamen Meyerholds Ideen besonders zum Tragen, da hier die Grenze zwischen Darsteller und Zuschauer ja kaum noch vorhanden war, die Zuschauer waren gleichzeitig auch Darsteller, der Bühnenraum war das gesamte Stadtviertel, spontane Improvisation nahm in einem vorgebebenen groben Rahmen viel Raum ein, dem Volkstheater und Zirkus entlehnte Darstellungsformen wie z.B. Pantomime wurden verwendet, welche ein Massen“publikum“ spontan begreifen und umsetzten konnte.
Nach Meyerhold sollte das Theater militärisch organisiert werden – analog zum Aufbau der Roten Armee. Es sollte zudem effektiver in die Agitproparbeit des Staates eingebunden werden. Im Oktober 1920 schlug er vor, die TEO so umzuorganisieren, „dass sie sich auf die Aufgabe konzentriert, auf dem Gebiet des Theaters zum Organ kommunistischer Propaganda zu werden. Vor der Theaterabteilung wie auch vor allen anderen Narkompros-Abteilungen erhebt sich die Frage nach den politisch aufklärenden Aufgaben des Theaters.“
Als allerdings die TEO des Narkompros direkt der Hauptpolitaufklärung unter Leitung der Krupskaja unterstellt worden war, bevor Meyerhold seine Konzeption umsetzen konnte, verließ er im Herbst 1920 die TEO, seine „Vestnbik theatr“ verschwand im August 1921.
Ein großer Teil der KPR-Führung war mit seiner Theaterpolitik nicht einverstanden gewesen, auch Lunatscharski nicht:
„The enthusiastic Meyerhold immediately mounted a Futurist warhorse and led the advocates of „Theatrical October“ on an assault against the bastions of academism. With all my love for Meyerhold, I had to part with him since such a one- sided policy sharply contradicted not only my views, but also with the views of the party…I had to recognize Meyerhold“s extreme line as unacceptable from the point of view of state adminiustration.“ (Lunatscharski, A. W., teatr segodnya, p. 106)
Mit der Einführung der NÖP wurden auch die Theater reprivatisiert und damit die Tickets wieder teuer. So kamen jetzt wieder andere Besucher ins Theater: Kleinkapitalisten, Geschäftsleute, neue Großbauern – die NÖP-Leute eben, denen nicht allzu lange später die Bürokraten und die kleinen Rädchen in deren Maschinerie folgen sollten. Das zerstörte nicht nur die Hoffnungen auf eine „proletarische Kunst“, sondern erschwerte die Arbeit der Theateravantgardisten und auch der vielen kleinen Gruppen sehr durch Wegfall der Subventionen und eine starke Vereinheitlichung. Freiräume fielen damit weg und die Experimentierfreudigkeit musste ihre Grenzen finden. Zuerst waren natürlich viele Künstler, besonders Graphiker, Theater- und später Filmleute, in die neue Propaganda eingebunden. Die NÖP musste den Arbeitern und Bauern nahegebracht werden, die neue Aufgabe des Sowjetregimes lag bei der Kulturarbeit und der Vorbereitung der internationalen Revolution.
Nach Meyerholds Vorstellungen sollte die gesamte TEO in einen theoretischen und einen praktischen Teil gegliedert sein, wobei das Hauptgewicht auf den nicht-professionellen Theatern liegen sollte – den Fabrik-, Dorf-, Armee- , Agitations-, Straßen-, Kinder- und Schultheatern sowie Zirkusvorstellungen.
4. Nichtprofessionelle Theater
Theaterepidemie
Überall waren amateurhafte und professionelle, mehr oder weniger permanente Theatergruppen wie Pilze aus dem Boden geschossen; es wurde schon von „epidemischen Ausmaßen der Theaterbegeisterung“ gesprochen. Auf betrieblicher Ebene, in Arbeiterclubs, in den Stadtvierteln, an der Front und auf dem Land bildeten sich Zirkel, in denen sich Menschen trafen, um Kunst selbst zu gestalten. Sie boten auch klassische Stücke dar, aber normalerweise führten sie propagandistisch geprägte Werke auf. Es entwickelten sich neue Formen wie theatralische „Gerichtsverhandlungen“, z. B. „Das Gericht über Wrangel ( General der Weißen Armee )“ oder „die lebende Zeitung“, wobei in unterschiedlichster Art und Weise die Neuigkeiten vermittelt wurden. Später zogen solche Gruppen auch umher, um die bolschewistische Politik populär zu machen. So wurden 1921 beispielsweise Stoßtrupps aufs Land geschickt, die die Bauern mit kleinen Szenen davon überzeugen sollten, Güter an die Stadt zu liefern. Bei großen Festumzügen gestalteten diese Leute Wagen, machten Performances und Straßendekorationen.
Unterabteilung Arbeiter- und Bauerntheater des Narkompros
„Diese revolutionäre Arbeit muss unterstützt werden von einer allgemeinen Ästhetisierung des Lebens mit Hilfe von Vorschul- und außerschulischer künstlersicher Bildung, Damit untrennbar verbunden ist die Ausbildung des Körpers , der Sprache und des Geistes. Diese Arbeit muss Hand in Hand gehen mit den Bemühungen, die auf die Durchdringung des alltäglichen Lebens und der gesamten materiellen Kultur unserer Tage mit Schönheit gerichtet sind, und sie muss sich ganz wesentlich auf die Entwicklung der Massenfeste konzentrieren, welche in der Lage sind, bei den Massen künstlerische Fertigkeiten und Geschmack zu entfalten. Das alles erweitert in hohem Maße den Kreis derjenigen, die zu schöpferischem Theater fähig sind, und schwächt zugleich die bisher scharfe Trennung zwischen Kunstschaffenden und Kunstkonsumierenden ab.“
(Deklaration des Narkompros im Dez. 1919 nach der Konferenz der Arbeiter- und Bauerntheater)
Die Aufgabe der Arbeiter- und Bauerntheater im Narkompros war es vor allem, ein Netz von Laientheatern in der ganzen SU aufzubauen. Dabei waren die Arbeiterclubs und -zirkel, die vom Proletkult initiiert und von den Gewerkschaften und Betrieben getragen wurden, von besonderer Bedeutung.
Diese Theater trugen entscheidend dazu bei, die Revolution gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen und im Alltag des ganzen russischen Volkes durchzusetzen.
In den Arbeiterclubs hatten typische Formen des Agitations- und Aufklärungstheaters ihre Ursprünge, so die „Lebende Zeitung!“ oder das „Gerichtsspiel“.
Arbeiterclubs
In einer in der „Proletarskaja kulktura“ geführten Auseinandersetzung über die Rolle der Arbeiterclubs in der Kulturarbeit hat Nadescha Krupskaja aus der Sicht des Narkompros den Arbeiterclub folgendermaßen charakterisiert:
„Seit der Revolution organisierten die Arbeiter überall ihre Arbeiterclubs. Aber man darf die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass die Arbeiterclubs, an deren Aufbau ihre Gründer mit solcher Eifer herangehen, nicht selten dahinsiechen und manchmal sogar ganz geschlossen werden. Mir scheint, der Grund hierfür liegt darin, dass die Gründer des Klubs sich nicht wirklich klargemacht haben, was ein Arbeiterclub sein muss, und die ganze Angelegenheit z. B. auf die Einrichtung einer Teestube und Kantine oder eines Saals für Versammlungen und Aufführungen hinausläuft. (…) Der Arbeiter braucht mehr als jeder andere einen öffentlichen heimischen Herd. er braucht ihn deshalb, weil in keiner anderen Klasse der Gesellschaft die gesellschaftlichen Instinkte so stark entwickelt sind wie in der Arbeiterklasse; der ganze Charakter ihrer Arbeit , der Kampf für ihre Interessen schweißt die Arbeiterklasse zusammen. (…) Der Schwerpunkt muss im Klub gerade auf diesen aktiven Arbeitern der Zirkel liegen. Vorlesungen, Vorträge, Filmvorstellungen oder Theateraufführungen sollen nur die Feste sein, die der alltäglichen aktiven Arbeit der Mitglieder des Klubs einen neuen, reicheren Inhalt und neue Kraft geben. Ein so aufgebauter Klub wird niemals anfangen dahinzusiechen und einzugehen. Ein solcher Klub wird einer der Grundsteine für den Aufbau des großen Gebäudes einer sozialistischen Kultur sein.“
Es gab Klubs in einem Werk, aber auch Klubs, welche alle Arbeiter eines Betriebs vereinten. Die Idee war, dass der Arbeiter keinen langen Weg zu seiner Betätigung und Unterhaltung zurücklegen musste und überdies ja auch mit seinem Arbeitsplatz nicht nur Arbeit verbinden sollte. Das Ziel war ja, die Entfremdung von der Arbeit aufzulösen, letztere von dem reinen Broterwerb abzulösen und zu einer menschlichen Notwendigkeit zu machen. Der Arbeiter im Sozialismus sollte ja nicht aus materiellem oder gar staatlichem Zwang arbeiten, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit und auch aus Freude. Das setzte natürlich eine erhebliche Verringerung der körperlichen, geistigen und zeitlichen Überlastung voraus – und auch entsprechende Gegenwerte. Die Situation in der jungen SU ließ an so etwas nur entfernt denken, aber die Einsicht in die Notwendigkeit war in der ersten Zeit an der Basis durchaus vorhanden.
Sie legten großen Wert auf das eigenständigen Wirken ihrer Mitglieder, auch wenn sie natürlich oft Berufsschauspieler, -sänger, -musiker oder -maler einluden.
Die Kulturarbeit war auf der Eigeniniative ihrer Mitglieder aufgebaut, die im Klubdienst und der Bildung freiwilliger Zusammenschlüsse bestand, sogenannter „Klub- Zirkel“, die sich für Studienzwecke, Kunst- und Sportpflege bilden konnten, also dramatische, musikalische, literarische, Chorgesangs-, Schachspiel- und Schützenzirkel, außerdem Zirkel für bildende Kunst, Malerei, Skulptur usw.
Beim Theater sollte sich der Arbeiter nicht auf die Zuschauerrolle beschränken, sondern mitwirken:
„Das eigenartig Neue ist hier in dem engen Anschluss der theatralischen Aktion an das Alltagsleben selbst zu suchen. Hier fehlte der weltfremde Klang einer Kunst, die nur für den ästhetisch genießenden und mit verfeinerter Aufnahmefähigkeit Begabten zugänglich ist. Kein Schwärmen in märchenhaften Fernen, kein Sichversenken in individuelle, erotisch-sexuelle Absonderheiten, kein Grübeln über metaphysisch-mystische „Geheimnisse des Lebens“. Nein, alle diese Themata, die die Kunst der Moderne so raffiniert-ausgeklügelt behandelt hat, blieben hier fern. Dagegen wurde alles auf die Bühnen gebracht, was mit der täglichen Arbeit in Zusammenhang steht, all das Frohe, Schöpferische, Gesunde und in die Zukunft Weisende.“
Die Verfasser der literarischen Vorlagen waren auch meist die aktiven Klubmitglieder. Natürlich waren dies alle wahrscheinlich keine besonderen dichterischen Höchstleistungen, aber das war erstmal nicht das wichtigste. Von Bedeutung war eher, dass die Stücke politisch up to date waren und irgendein politisches Ziel verfolgten. Häufig wurden sie speziell für die revolutionären Feiertage, wie den Jahrestag der Oktoberrevolution, der Pariser Kommune, den 1. Mai usw. geschaffen, oder für Tagesereignisse und agitatorische Kampagnen.
Diese „selbsttätigen Theater“ waren auch keine Laientheater, die nur versuchten, die Professionellen auf niedrigerem Niveau nachzuahmen. Die wichtigste Aufgabe war die kulturelle, politische und auch künstlerische Erziehung. Die „alten“ Spielvorlagen waren dazu nicht besonders gut geeignet – meistens konnten die Dramen von der Mehrzahl der Clubmitglieder nicht einmal gelesen werden. „Die lebende Zeitung“ z. B. entsprach eher den Bedürfnissen dieser Tage.
Die „Lebende Zeitung“
Sie wurde in den Clubs der Rote Armee, der Fabrikarbeiter und auf dem Dorf präsentiert. Dabei traten einfach ein paar Leute auf die Bühne und lasen die normalen Zeitungstexte vor. Bald weitete sich diese Lesung jedoch zur Darstellung aus, erstmal mittels eines Chores, der dem Vorleser gegenübergestellt wurde und – ähnlich wie im antiken griechischen Drama – mit ihm kommunizierte. Damit sollte dass Ganze einfach noch klarer werden. In dem professionellen Theater wurde daraus bald eine Revue, in den Klubs wurde es die variationsreichste und beliebteste Darstellungsform mit Elementen von Operette, Volkslied, Tanz, Gymnastik und Pantomime. Auch unter Einbeziehung des Films wurde sie zu Kabarett und Revue, mit praktischen, unkomplizierten Dekorationen.
Gerichtsspiel
Mit dem „Gerichtsspiel“ wurde das Problem der geringen Publikumsbeteiligung auch ein stückweit gelöst: Es konnte ganze Truppenteile in das „Bühnen“-Geschehen mit einbeziehen. Aktuelle Gerichtsverhandlungen in den frühen Jahren der Revolution wurden dramatisiert, z. B. im Juni 1920 der Prozess über das feudale Polen, das des kriminellen Angriffs auf die SU für schuldig befunden wurde. Dabei traten immer wieder die gleichen Charaktere auf – Bourgeois, Intellektuelle, Generäle, Arbeiter, Soldaten usw. Natürlich war die Welt hier sehr einfach in gut und böse aufgeteilt, was aber den Bedürfnissen der Revolution und der Menschen, die sie durchführten, entsprach. Das Urteil des Gerichtsspiels war immer schon gefällt, bevor es anfing, das Urteil der Revolution über die Konterrevolution oder die überwundenen alten Verhältnisse. Hier wurde die Revolution inhaltlich begründet und Argumente für eine neue sozialistische Zukunft gefunden.
Massenfeste
Massenfeste wurden zu Gemeinschaftsleistungen eines ganzen Betriebs oder ganzer Stadtbezirke, da die Ausgestaltung dieser Feste sonst nicht möglich gewesen wäre. Verschiedene Künstler machten de ganze Stadt zur Bühne und dekorierten sie ihrem Stil entsprechend. Den Rahmen bildeten Demonstrationszüge der Betriebe, Gewerkschaften und Verbände, die auf verschiedenste Art und Weise theatralisch ausgestattet wurden. Hier wurden u.a. auch die Erfolge einzelner Betriebe dargestellt. Politische Slogans wurden hier in Maske und Dekor und kleinen Szenen übertragen, oft auf Wagen ähnlich den Karnevalszügen.
Auch bedeutende Sänger und Schauspieler der klassischen Theater wirkten in diesen Zügen mit, Orchester und Ballet wurden aufgeboten, Revolutionslieder gesungen, usw. Es gab Radiokonzerte und Filmvorführungen, auf den Dächern der Tramwagen wurden Kindertheateraufführungen abgehalten. Gruppen verschiedener Fabriken führten Szenen aus Weltkrieg und Revolution auf. An solchen Massenfeiertagen wurde neben zahlreichen politischen Veranstaltungen noch vieles mehr angeboten. Die großen Massentheateraufführungen erlangten ebenfalls historische Bedeutung.
„Wenn ein Volk sich befreit, strebte das Theater in solchen Momenten aus dem stickigen Gebäude heraus auf die Strasse, und es nahm Formen an, die wir jetzt Massentheater nennen.“
(aus dem „Aufruf der Sektion für Massenschauspiel der TEO des Narkompros über die Einrichtung von Massenvolkstheatern“, in der „Vestnik teatra“, 1920)
Das Massentheater sollte zum Inbegriff des neuen, proletarischen oder sozialistischen Theaters werden, aber der Zeitpunkt für die Verwirklichung dieser Vorstellung war eigentlich schon vorbei. Dabei wurden die vergangenen revolutionären Ereignisse noch einmal lebendig gemacht, unter Einbeziehung des Publikums.
In Petrograd wurde am 1. Mai 1920 in den Kollonaden der ehemaligen Fondsbörse das erste Massenschauspiel der SU unter freiem Himmel aufgeführt, das „Mysterium der befreiten Arbeit“, das aus Vorlagen Majakowkis und Bessalkos Stück „Kampf und Sieg der Arbeit“ in der Roten Armee kollektiv erarbeitet worden war.
An dieser Aufführung, von Annenkow inszeniert, beteiligten sich 2.000-4.000 Rotarmisten, Schüler dramatischer Schulen und einige Schauspieler der Petrograder Bühnen; Flottenorchester untermalten das Ganze musikalisch. 35.000 Zuschauer wohnten bei.
Für den zweiten Versuch eines Massenschauspiels am 19.7.1920 zu Ehren des 2. Kongresses der Komintern, „Zur Weltkommune“ geleitet von Gorkis Frau M F. Andreewa, wurden Minenschiffe von der Newa aus für die Beleuchtung eingesetzt und ein weitverzweigtes Telephon- und Signalnetz errichtet, um die Aufführung zu leiten.
Die „Erstürmung des Winterpalais“ zum 3. Jahrestag der Revolution markierte den Höhepunkt der Entwicklung: „Etwa 10.000 Darsteller nahmen an der Aufführung teil, darunter viele Personen, die an dem Umsturz 1917 tatsächlich beteiligt waren.“ („Sovetzkij teatr“, Artikel von Derschawin „Die Einnahme des Winterpalais 1920“). Die Aufführung war aber nicht um eine möglichst genaue Kopie der Ereignisse bemüht, sondern um eine Interpretation mit theatralischen Mitteln – so wurde die Bourgeoisie z. B. sehr satirisch dargestellt, ebenso die Provisorische Regierung, die Massenaktionen aber wahren ziemlich echt. Im Gegensatz zu Stalin sah die damalige KPR-Führung diese Spektakel jedoch nicht als besonders lehrreich oder als großen Schritt in der kulturellen Entwicklung an. Lenin äußerte sich in einem Gespräch mit Klara Zetkin so:
„With regard to spectacles, there´s no harm in them! I don`t object. But it must not be forgotten that the spectacle is not truly great art, but only a pretty entertainment. Our workers and peasants really do derserve something greater than a spectacle.“
(W.I. Lenin o literature i iskusstve, p. 665)
Auf dem Dorf
Auf dem Dorf hängten sich vor allem die Jugendlichen in die Arbeit in Theaterclubs und -zirkeln. Dorf-“Lesehütten“ stellten wenigstens eine gewisse Versorgung mit Literatur sicher. Allerdings gab es viele Schwierigkeiten – wegen der kulturellen Rückständigkeit der Bauern, aber auch wegen der wachsenden Spannungen zwischen Stadt und Land.
Das Bauerntheater war eher unpolitisch; es wurden entweder klassische Einakter oder religiöse Stücke gespielt. Trotzdem stellte das Theater oft den einzigen Vermittler kultureller Inhalte dar; die anderen Zirkel, wie die für Selbstunterricht, Musik, Lesehallen, Klubs usw. gruppierten sich um es herum.
Theater an der Front
„In den Jahren 1918 und 1919 war es keine Seltenheit, an der Front Truppenteilen zu begegnen, an deren Spitze Kavallerie-Patrouillen ritten, während am Ende Wagen mit Schauspielern, Schauspielerinnen, Dekorationen und allerlei Requisiten fuhren. Der Platz der Kunst ist überhaupt – im Tross der geschichtlichen Bewegung. Bei plötzlichen Veränderungen an unseren Fronten gerieten die Wagen mit den Schauspielern und Dekorationen oft in sehr schwierige Situationen und wussten nicht, wo sie hin sollten. Sie fielen mitunter den Weißen in die Hände. Nicht weniger schwierig ist die Lage der ganzen Kunst, wenn sie von der jähen Veränderung an der geschichtlichen Front überrascht wird. Besonders schlimm erging es dem Theater, das schon überhaupt nicht mehr weiß, wohin es soll und was es „offenbaren“ soll. Und bemerkenswert dabei ist, dass das Theater, die wohl konservativste Form der Kunst, so überaus radikale Theoretiker hat.“
(Trotzki in „Kunst der Revolution und sozialistische Kunst“)
Der Bürgerkrieg, die Verteidigung der Sowjetmacht nach außen, bestimmte das gesamte gesellschaftliche Leben. Trotz der grausamen Umstände an der Front wurden auch die Soldaten nicht von der Theaterwelle und den Bildungskampagnen ausgenommen, die eine große Rolle bei der Hochhaltung der Moral und des Enthusiasmus der Soldaten spielten. 1920 gab es ungefähr 2.000 Theater in der Roten Armee, die an der Front, in Studios, Schulen, Unis, Scheunen oder unter freiem Himmel aktiv waren, bei Kerzenschein oder am Lagerfeuer. Dort spielten auch klassische Stücke eine wichtige Rolle. Sie wurden in patenschaftähnlicher Weise von den Arbeiterclubs unterstützt .
Die Soldaten, Kommandeure und Kommissare verfassten aber auch – in Kollektivarbeit – eigene Stücke, wobei sie grundsätzlich eigene Erlebnisse reproduzierten. Deren Aufführungen waren oft mit bolschewistischen Kundgebungen vorher und nachher verbunden.
Nach einem Aufruf Lunatscharskis bildeten auch die meisten etablierten Theater Moskaus und Petrograds Theatertruppen, die an die Front geschickt wurden oder sich für Kampagnen der kulturellen und politischen Aufklärung zur Verfügung stellten.
Die Strapazen an der Front waren ungewohnt, die Arbeitsbedingungen unmöglich, wie der Erfahrungsbericht einer Theatertruppe verdeutlicht:
„Es glückte nur an wenigen Tagen, irgendwo aufzutreten: Wir leiern für die Rotarmisten Schauspiel und Konzerte herunter. Dass die Schauspieler schlecht spielten, stimmt ohne Zweifel, aber das ist erst das halbe Unglück. Die andere Hälfte besteht darin, dass sie verschiedenen Unsinn, falsche und total unnütze Sachen liefern.“
(aus einem Brief des Kriegs-Politkommisssars Furmanow an das ZK der KPR(B) über das Repertoire der Fronttheater vom 16.6.1919)
Propagandatheater
„Nicht ohne Grund hat Engels die sozialistische Revolution einen Sprung aus dem Reich des Zwanges in das Reich der Freiheit genannt. Die Revolution selbst ist noch kein „Reich der Freiheit“. Im Gegenteil, die Züge des Zwanges erlangen in ihr die extremste Entwicklung. Während der Sozialismus zusammen mit den Klassen auch die Klassengegensätze beseitigt, treibt die Revolution den Klassenkampf bis zur höchsten Intensität. In der Zeit der Revolution ist diejenige Literatur notwendig und fortschrittlich, die den Zusammenschluss der Werktätigen im Kampf gegen die Ausbeuter fördert. Die Revolutionsliteratur muss vom Geist des sozialen Hasses durchdrungen sein, der in der Epoche der proletarischen Diktatur ein schöpfersicher Faktor in der Hand der Geschichte ist: Im Sozialismus ist die Solidarität die Grundlage der Gesellschaft. Die ganze Literatur, die ganze Kunst werden auf einen anderen Grundton abgestimmt sein. Diejenigen Gefühle, die wir Revolutionäre nur unter Hemmungen beim Namen nennen – weil diese Namen von scheinheiligen und trivialen Menschen so sehr missbraucht wurden: uneigennützige Freundschaft, Nächstenliebe, herzliche Anteilnahme – werden in der sozialistischen Poesie in mächtigen Akkorden aufklingen.“
(Trotzki, „Die Parteipolitik in der Kunst“)
Die Partei und die Sowjetregierung sah sich Bauernaufständen und Streiks gegenüber – infolge der schlechten Versorgungslage und der Politik des Kriegskommunismus. Der Krieg gegen die Konterrevolution musste jetzt im Inneren geführt werden, mit anderen Worten, Kulturaufbauarbeit musste geleistet werden.
Dabei änderte sich zwangsläufig auch die Einstellung der Partei zum Theater: sie hatte nun sehr viel mehr ein Auge auf den Nutzen des Theaters zu diesem Zweck. Und sie versuchte, Überzeugungsarbeit bei der Bevölkerung unter anderem mittels des Theaters zu leisten.
So wurde das „selbsttätige Theater“ durch das der Propaganda abgelöst, die Stücke auch der Laientheater meistens vorgegeben. Einige seiner Formen wurden aber trotzdem weiterentwickelt:
Produktionspropaganda
Da sich jetzt die gesellschaftspolitischen Aufgaben verändert hatten, veränderten sich auch die Inhalte der Agitation und der Kunst. Die Probleme betrafen jetzt den inneren Aufbau der Gesellschaft und nicht mehr die äußere Verteidigung. Fragen der Hygiene, des sozialen Verhaltens oder der Arbeitsmoral begannen eine größere Rolle zu spielen.
Mit Wandzeitungen, Plakaten, Slogans auf Gebrauchsgegenständen, Theater, Kino und Agitationsbrigaden in Arbeiteinsätzen und betrieblichen Gruppen begann die Schlacht an der Produktionsfront.
Dabei sollten die Aufführungen gut verständlich sein und Fakten liefern, aber auch erneut und umso mehr die Trennung von Zuschauern und Schauspielern aufheben, um diese in das Geschehen auf der Bühne mit einzubeziehen.
Auf dem Lande spielte vor allem jene Parteipropaganda die größte Rolle, die sich ganz pragmatisch die Durchsetzung der dringendsten Aufgaben des Staates konzentrierte. 1920 war das vor allem die Erklärung der Requirierung der Nahrungsmittel als Notwendigkeit des Kriegskommunismus und darüber hinaus der gemeinsamen Interessen von Bauernschaft und Proletariat – also höhere Getreideabgaben bei den Bauern durchzusetzen.
Dazu wurde vom Hauptkomitee für politische Aufklärung eine Getreidekampagne eingeleitet, die die Maßnahmen der roten Armee auf dem Land durch agitatorische Theatergruppen unterstützen sollte.
Kindertheater
Seit Mitte Mai 1918 bestand im Narkompros ein ständiges Büro für Kindertheater und Kinderfeste, welches zunächst die Aufgabe hatte, Aufführungen für Kinder zu organisieren, Stücke für Kinder zu sammeln und zu begutachten und praktische und theoretische Kurse über Kindertheater einzurichten. Das Theaterspielen sollte „die gelungene Verbindung der Freude am Spiel und am Bühnenschaffen mit der Freude an der Arbeit überhaupt“ darstellen („Thesen des Büros für Kindertheater“). In der Schule standen beim Theaterspielen künstlerische Techniken und Sprachübungen im Vordergrund. Am Anfang standen Improvisationen, erst später kam dann die Inszenierung nach Spielvorlagen, auch Klassikern. In den Kinderkommunen war die spielerische Improvisation oft die einzige Möglichkeit, an die verwahrlosten Kinder heranzukommen.
Auch professionelles Theater für Kinder wurde als Teil der außerschulischen Bildung entwickelt, die auch international geschätzt wurde – vor allem in Deutschland, wo es auf Tournee ging. Das „Moskauer Theater für Kinder“ zählte zu den besten Theatern nach der russischen Revolution. Es gab auch Einrichtungen für jugendliche Arbeiter: Sie hatten 40 Klubs in Moskau, wo Konzerte und Aufführungen stattfanden und Laienkunstzirkel angeboten wurden.
5. Proletkult
Die Bewegung für Proletarische Kunst
„Die Kunst muss ihren Weg auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Methoden des Marxismus sind nicht die Methoden der Kunst. Die Partei lenkt das Proletariat, nicht den historischen Prozess. Es gibt Gebiete, auf denen die Partei unmittelbar und gebieterisch führt. Es gibt Gebiete, auf denen sie kontrolliert und fördert. Es gibt Gebiete, auf denen sie nur fördert. Und es gibt schließlich Gebiete, auf denen sie sich nur orientiert. Auf dem Gebiet der Kunst ist die Partei nicht berufen zu kommandieren. Sie kann und soll schützen, fördern und lediglich indirekt lenken. Sie kann und soll den verschiedenen Künstlergruppen, die sich aufrichtig um eine Annäherung an die Revolution bemühen, den bedingten Kredit ihres Vertrauens gewähren, um ihre künstlerische Gestaltung zu fördern. Und schon auf keinen Fall kann und wird die Partei sich auf den Standpunkt einer literarischen Clique stellen, die andere literarische Cliquen bekämpft, teilweise einfach nur, weil sie Konkurrenten sind. Die Partei steht auf der Warte der historischen Interesse der Klasse im Ganzen…. Es ist vollkommen klar, dass die Partei auch auf dem Gebiet der Kunst sich nicht einen einzigen Tag lang an das liberale Prinzip halten kann: laissez faire, laisser passer. Die ganze Frage besteht nur darin, wo die Einmischung beginnt und wo ihre Grenzen sind; in welchen Fällen die Partei verpflichtet ist – zwischen wem und wem – ihre Wahl zu treffen.“
(Trotzki, „Die Parteipolitik in der Kunst“)
Die Auffassung, es dürfe jetzt nur noch „proletarische Kunst“ geschaffen werden, und das könne nur durch die Proletarier selbst bewerkstelligt werden, war damals in der Kunstszene weit verbreitet und die Diskussionen um dieses Thema waren bestimmend, bis der Stalinismus endgültig auch die Kunstszene und die Künstler im festen Griff hatte. Die strengsten Vertreter dieser Auffassung waren die Künstler des „Proletkult“. 1906 war der Proletkult gegründet worden, er gewann jedoch erst nach der Oktoberrevolution an Bedeutung. „Proletarskaya kultura“ wuchs immens zwischen Februar 1917 und Oktober 1917 und zählte auf seinem Höhepunkt 400.000 Mitglieder, meist Arbeiter, die sich vor allem in Theaterclubs und Studios betätigten. Der Proletkult gab fast 20 Zeitschriften heraus, in denen verschiedene Kunsttheoretiker und Künstler ihr Ziel, die Schaffung einer „proletarischen Kultur“, erklärten. Besonders nahmen sie dabei Bezug auf das Theater. Nach Kerschentschew z.B. sollte das Theater Akteure und Zuschauer vereinigen und Raum für den „kreativen, künstlerischen Instinkt der breiten Massen“ schaffen. Das schloss dauerhafte Ensembles und professionelle Schauspieler aus – die Arbeiter selbst sollten die Produktionen entwickeln: „Das Prinzip des Amateurhaften muss soweit wie möglich bewahrt bleiben“, meinte Iwanow. „“Kunst soll eine exultante Arbeit werden, keine Unterhaltung.“
Dabei stützte sich der Proletkult vor allem auf den Theoretiker Bogdanov, mit dem sich Lenin und andere führende Bolschewiki immer wieder über die Grundsätze seiner Organisation auseinander setzten. Außerdem war er sowieso nicht besonders geschätzt, da er als in der Theorie ziemlich unmarxistisch galt, was auch seine Argumentationen betreffs des Proletkults und seiner Politik betraf. Wegen der sehr radikal ablehnenden Haltung des Proletkults gegenüber der „alten“, der „bürgerlichen Kunst“, die nicht von der Arbeiterklasse geschaffen worden war – dies hieß in der Realität, dass Bilder alten Stils nicht mehr gezeigt, Musik aus dem 19. Jahrhundert und davor nicht mehr gespielt, Literaturklassiker nicht mehr gelesen und vorrevolutionäre Stücke nicht mehr aufgeführt werden sollten – wurde die Debatte sehr wichtig genommen. Die KPR hielt es mehrheitlich für unumgänglich, dass das Proletariat und die Bauern die Kultur der ehemaligen Herrschenden kennen lernten, um schließlich selbst etwas neues schaffen zu können. Lenin forderte deswegen letztendlich die Vereinigung aller Organisationen unter einer zentralen Parteiverwaltung. Diese Meinungsverschiedenheiten verschärften sich immer mehr, und 1920 musste sich auch Lunatscharski, Kommissar für Volkserziehung, rechtfertigen, warum er den Anspruch des Proletkults tolerierte, „berufener Vertreter der proletarischen Kultur“ zu sein. Im Dezember ordnete Lenin die Unterordnung des Proletkults unter das Narkompros an.
Als die Bolschewiki 1921 endlich als Sieger aus dem verheerenden Bürgerkrieg hervorgegangen und die Hungersnöte überstanden waren und Aussichten bestanden, die Beseitigung des Elends endlich anzugehen und aufzubauen, also von der Verteidigung des Regimes zur Überwindung der Klassengesellschaft überzugehen, drückte sich das auch in der Kunst aus. Da aber auch die internationale Revolution wieder in die Ferne gerückt war und die Bolschewiki sich auf Maßnahmen wie NÖP und weiteres stützen mussten, schränkte dies auch Experimente und die freie künstlerische Entfaltung immer mehr ein – sowohl unter dem Aspekt des stärkeren ideologischen Griffs der Partei und anti-demokratischer Maßnahmen, als auch unter finanziellen Gesichtspunkten.
Die bestehenden Kunsteinrichtungen wurden jetzt straffer unter der Leitung Lunatscharskis und des Narkompros zusammengefasst, auch der Proletkult wurde eingegliedert. Dabei spielten nicht nur seine umstrittenen Theorien eine Rolle, sondern vor allem die fehlenden staatlichen Mittel, um Kulturarbeit zu fördern. Das ständige Problem des Proletkults war , dass er viel versprach und wenig Ergebnisse zeigte – welche überdies nicht so viel mit seinen Zielen zu tun hatten. Deshalb erschien es als am zweckmäßigsten, wenn er in das Narkompros aufgenommen würde.
1922 traten im Zuge dieser Eingliederung die meisten der konstruktivistischen oder ähnlichen Künstler im INCHUK dem Proletkult bei. Die teilweise Rückkehr zu kapitalistischen Einrichtungen im Zuge der NÖP hob die bisherige Vorherrschaft dieser Künstler auch teilweise auf.
Unter der NÖP bildete sich eine neue Bourgeoisie heraus, die im Gegensatz zur Regierung bald in der Lage war, Kunst zu fördern. Das brachte natürlich ihrem Geschmack entsprechend die vor-revolutionären Kunstformen wieder auf den Vormarsch. So mussten sich die linken Künstler in der Industrie ihren Rückhalt suchen.
Auch durch Lenins GOELRO – Plan für flächendeckende Elektrifizierung – verschob sich das Interesse in den Diskussionsprozessen stärker auf die sich verändernde Rolle der Technik und ihre Beziehung zur Kunst. Im konstruktivistischen Ansatz kam dies besonders deutlich zum Ausdruck .
Proletkultarbeit in Clubs und Studios
„Das neue Theater wird nicht von einem kapitalistischen Unternehmer, einer Aktiengesellschaft oder eine Schauspieler- und Künstlertruppe geschaffen, sondern von einer Kommune, einer Stadt, einem Dorf, einem Stadtviertel, einer Fabrik, einer Arbeitersiedlung, einem Sowjet, von den Massen selbst.“
Der Proletkult hatte zwar nicht politisch, aber organisatorisch großen Einfluss in den Arbeitertheatern. Er arbeitete außerdem sehr gut mit den anderen kulturell-aufklärenden Organisationen zusammen, und er schickte ebenfalls Mitglieder an die Front. Sein Hauptarbeitsfeld lag in den Proletkult-Studios, die immer zwischen 20 und 60 Schüler zählten. Dem Grundgedanken gemeinschaftlich schaffender Proletarier in ihrem Alltag entsprach das zwar nicht, aber eher der Realität, die arbeitenden Menschen einfach kaum Zeit und Energie für wirklich tiefgehende Schauspielstudien ließ. Die Studiomitglieder, die durch Stipendien fürs Lernen freigestellt waren, wurden meist von gestandenen Theatermachern ausgebildet.
Es gab zwei Proletkultheater, eines in Moskau, wo die Regisseure Eisenstein, Tretjakow und Arwatow am Werk waren, und eines in Petrograd, was sich aus einem Arbeitertheater im Baltikum entwickelt hatte, das der futuristische Schauspieler A. Mgebrow im Februar 1917 aufgebaut und das seinen Anfang mit szenischen Dichterlesungen genommen hatte .
Das Moskauer Theater ist der Ausdruck der Neuorientierung des Proletkults unter dem Narkompros, wo er sich von Kerschentschews Vorstellungen verabschieden musste. Mit““Der Mexikaner“ nach einer Erzählung von Jack London, inszeniert von Smyschljaew und Eisenstein am 10.3.21, begann die Geschichte dieses Theaters.
Bei dieser Inszenierung machten sich die Erfahrungen Eisensteins am Frontheater bemerkbar, wo er die Zuschauer mitspielen ließ, indem sich deren natürliche Reaktionen auf das Bühnengeschehen bei einem Boxkampf mit der Handlung verbanden. Später wandte er sich dann dem Film zu und wurde zum berühmtesten sowjetischen Filmregisseur.
6. Stalinismus
Gerade das Theater hatte unter den Privatisierungen unter der NÖP zu leiden. Lunatscharski selbst verurteilte diese Entwicklungen in einem Artikel von 1922:
„Wenden wir uns jetzt dem gegenwärtigen Zeitpunkt zu, so werden wir den großen Unterschied des Jahres 1922 gegenüber 1918 und 1919 bemerken. Vor allem taucht der private Markt wieder auf. (..) Unter diesem Blickpunkt hat sich das Rad mit der NÖP gleichermaßen rückwärts gedreht. Und wirklich sehen wir, während das Agitationstheater fast völlig verschwindet, ein laszives Bühnenwesen und jenes Kneipwesen aufkommen, welches das Gift der Bürgerwelt ist.“
(„Die Revolution und die Kunst“)
Mit dem langsamen Absterben der Räte und damit dem Ende der – beschränkten – Selbstorganisation der Gesellschaft brachen auch die 3.000 kleinen Arbeiter-, Bauern- und Soldatentheater zusammen, die in der Sowjetunion existiert hatten – oder wandelten sich in ziemlich niveaulose Laientheater um.
Der Proletkult wurde dem Narkompros untergeordnet. Wirklich gefährlich wurde es für die „proletarischen“ Künstler und die Avantgardisten aber erst mit Stalins Machtübernahme. Die bürokratische Clique bediente sich einiger weniger Äußerungen Lenins, um einen zweifelhaften Leitfaden zusammenzustellen.
Als klar geworden war, dass das Proletariat den Staat fürs erste nicht selbst in die Hand nehmen konnte, auch die Kultur nicht, wandte sich Lenin schärfer gegen die Avantgardetheoretiker und -künstler:
„Die proletarische Kultur fällt nicht vom Himmel, sie ist nicht eine Erfindung von Leuten, die sich als Fachleute für proletarische Kultur bezeichnen. Das ist alles kompletter Unsinn. Die proletarische Kultur muss die gesetzmäßige Weiterentwicklung jener Summe von Kenntnissen sein, die sich die Menschheit unter dem Joch der kapitalistischen Gesellschaft , der Gutsbesitzergesellschaft, der Beamtengesellschaft, erarbeitet hat.“
(aus Lenins Rede über „Die Aufgaben der Jugendverbände“ am 2. 10. 1920)
Daraus machte Matyzin einige Zeit später:
„Lenin unterzog die formale, ideenlose Kunst der Proletkultler immer scharfer Kritik. Er unterstrich, dass der Formalismus in der sowjetischen Kunst nicht geduldet werden könne, dass es notwendig sei, mit ihm, als einer fremden, der sowjetischen kunstfeindlichen Richtung zu kämpfen. Lenin wies darauf hin, dass die Proletkultler, die der bürgerlichen Intelligenz entstammen, sich mit dem Geschrei einer proletarischen Kultur tarnen und den Arbeitern und Bauern ihre Schmierereien und Ausgeburten einer krankhaften Phantasie aufschwätzen wollen.“
(in „Der Kampf Lenins gegen die vulgarisatorischen Ansichten des Proletkult von der Kunst“, Studienmaterial zur Diskussion)
Lunatscharski hatte zwar immer betont: „Ich wiederhole noch einmal, Wladimir Iljitsch hat nie seine ästhetischen Sympathien und Antipathien als richtungsweisend hingestellt.“, und dass es nicht darum ging, eine bestimmte Kunst zu verurteilen, sondern um die Prioritäten in der Kulturförderung:
„Nun gewiss, wir führen einen wirklich hartnäckigen Feldzug gegen das Analphabetentum. Wir errichten Bibliotheken und „Lesehütten“ in den großen Städten und Dörfern. Wir organisieren Kurse der verschiedensten Art. Wir veranstalten gute Theatervorstellungen und Konzerte, wir senden „Bildungszüge“ und Wanderausstellungen durch das Land. Aber ich wiederhole: Was ist das alles für die vielen Millionen, denen es an dem elementaren Wissen, der primitiven Kunst gebricht! Während sich in Moskau heute vielleicht Zehntausend an den glänzenden Aufführungen des Theaters berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, dass die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, dass Naturgesetze und nicht zusammen mit dem „himmlischen Väterchen“ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.“
Die gesamte sowjetische Kunst sollte jetzt der Agitation dienen und natürlich niemals kritisch gegenüber dem Regime sein. 1931 schließlich wurde konsequent damit begonnen, unliebsame Agitprop-Künstler – sowie überhaupt kritische Künstler und alle anderen kritischen Menschen – aus dem Verkehr zu ziehen. Die Künstler gerieten in eine Schaffenskrise, begingen teilweise Selbstmord oder wurden umgebracht.
Im Stalinismus sahen sich die herausragenden Theaterkünstler schnell immer härteren Problemen gegenüber und gerieten immer mehr in Konfrontation mit dem Regime. Majakowski hatte sich durch der Bürokratie gegenüber äußerst kritische Aufführungen sehr unbeliebt gemacht, wie z. B. mit dem Stück „Die Wanze“ 1930. Am 14.4.1930, fünf Wochen nach der Premiere von „Das Schwitzbad“, nahm er sich das Leben.
Meyerhold hatte sich noch sehr lange halten können und noch bis Ende der Zwanziger Jahre durch immer neue begeisternde Stücke hervorgetan. Aber auch er musste aus Anlass desselben Stückes 1931 sein Theater schließen und sich letztlich wieder klassischen Stücken zuwenden. Das rettete ihn schließlich aber nicht vor der Verhaftung 1939 und seiner Ermordung in einem Moskauer Gefängnis ein Jahr später.
7. Schluss
Der Meyerhold-Schüler und spätere Theatedirektor Nikolai Petrow sagte 1923:
„Theatre is sharply split in two camps. In one the old is rotting in respectable routine (having lost all his freshness and vitality), and in the other the new is making a fool of itself with its stridency, obscurity and sillyness.“
Die Meinungen zu den Experimenten Meyerholds und anderer Regisseure der Zeit waren schon damals geteilt; auch die Arbeit der Laientheater wurde unterschiedlich einschätzt. Fest steht aber, dass in der Kunst – und im Theater im Besonderen – sehr rasante Entwicklungen stattgefunden haben, die zur damaligen Zeit ihresgleichen suchten und von vielen Theatermachern bis heute aufgegriffen werden.
Schon direkt zu Beginn der Zwanziger eiferten viele Theater in Europa und besonders in Deutschland den russischen Revolutionstheatern nach. Auch proletkultartige Organisationen entstanden, die sich hauptsächlich mit Theaterarbeit beschäftigten, wie z.B. das „Theater des Bundes für proletarische Kultur“ in Berlin und das „Proletarische Theater“ Erwin Piscators. Auch diese Theater sollten der Aufklärung, Erziehung und Mobilisierung der Massen gelten. Piscator sagte in „Über die Grundlagen und Aufgaben des Proletarischen Theaters“ in der Zeitschrift „Der Gegner“:
„Die Leitung des Proletarischen Theaters muss anstreben: Einfachheit in Ausdruck und Aufbau, klare eindeutige Wirkung auf das Empfinden des Arbeiterpulikums, Unterordnung jeder künstlerischen Aktivität dem revolutionären Ziel: bewusste Bewegung und Propagierung des Klassenkampfdenkens.“
Er orientierte sich besonders an Meyerhold.
Aber auch später nahmen ihn viele andere zum Vorbild, zum Beispiel der brasilianische Regisseur Augusto Boal, der gegen Ende der Sechziger für sein „Theater der unterdrückten“ bekannt wurde, versuchte, die Zuschauer zu einem Teil des Schauspiels zu machen und die Grenze aufzuheben, wie es auch Meyerhold vorhatte. Auch erstrebte er zwar kein Theater von Proletariern für Proletarier, sondern bezeichnete es als „Volkstheater“, womit er Bauern, Studenten und Kleinbürger offen mit einschloss, aber auch ihm ging es um Aufklärungsarbeit, aber auch in gewissem Sinne Vorbereitung auf einen gesellschaftlichen Umsturz. Auch Laientheaterformen, die in die Richtung der sowjetischen „Gerichtsverhandlungen“, der „lebenden Zeitungen“ und darüber hinaus gingen, probierte er aus mit Slumbewohnern in Lateinamerika, aber auch mit Menschen in Europa.
Politisches Theater gibt es heute, und es hat immer theatralische und künstlerische Formen gegeben, um Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse zu leisten, immer Kritik ,die auf künstlerischer Ebene vorgetragen wurde, immer die Verwendung künstlerischer Mittel, um politische Veränderungen, um Revolutionen zu erreichen.
Was am Theater der Russischen Revolution 1917 so besonders ist, ist, dass dieses politische Theater im Umsturz entstanden ist. Gleichzeitig mit der Aufgabe, die neu errungene Gesellschaftsordnung zu verteidigen, also gegen das alte kapitalistische System zu agitieren, sollte es auch dazu beitragen, die neue sozialistische Gesellschaftsordnung zu etablieren, die Menschen über die Funktion zu unterrichten, ihnen Mut zu machen, ihre eigene Rolle zu verdeutlichen. Es entwickelte sich – im Gegensatz zum politischen Theater in anderen Ländern und der Welt heute – in einem Staat, wo zumindest für eine kurze Zeit richtige Demokratie aufgebaut wurde, wo die Herrschaft einer kleinen reichen Minderheit über die armen Massen ein Ende hatte. Das Theater waren zum ersten Mal in der Geschichte von staatlichen Zwängen und Verboten befreit worden, erstmals die Voraussetzungen geschaffen, allen Mitgliedern der Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, Kunst zu machen.
Die Tatsache, dass trotz der widrigen Umstände von Bürgerkrieg, schlechten Arbeitsbedingungen und Nahrungsmittelknappheit sehr viele Menschen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, hat für mich auch noch einmal gezeigt, dass es ein Bedürfnis von einer großen Masse von Menschen ist, sich künstlerisch zu betätigen – und nicht nur einer weniger „Genies“. Außerdem erscheint mir auch die Herangehensweise, Werke kollektiv zu schaffen und nicht unter der Leitung eines einzigen „begnadeten Künstlers“, als wesentlich natürlichere künstlerische Arbeit. Da es heute nur in sehr kleinem Rahmen möglich ist, so etwas zu praktizieren und doch hauptsächlich die von Lenin angesprochene „Abhängigkeit vom Geldsack“ immer noch der Masse der Bevölkerung verbietet, künstlerisch tätig zu sein, ist das Beispiel der Theaterarbeit der frühen SU ein wichtiges Beispiel für das – vorübergehende – Fehlen dieser Zwänge.
Auch bei den politischen Einsätzen des Theaters waren Laien wie professionelle Künstler voller Enthusiasmus dabei, da es um den Aufbau ihrer neuen, klassenlosen Gesellschaft ging. Endlose harte Diskussionen damals zeigen, wie schwierig diese Aufgabe war und wie viel Bedeutung der Kunst im Alltagsleben, in der kulturellen Erziehung und der Politik beigemessen wurde. Natürlich kann man auch sehen, wie in der SU wenig später unter Stalin die Kunst zu diktatorischen Zwecken umfunktioniert werden konnte. Deshalb konzentriere ich mich auf den Zeitraum von 1917-23, wo man die SU durchaus als Beispiel eines Staates verwenden kann, der zumindest viele sozialistische Elemente aufwies. Wie Kunst und Theater nach der Revolution und auf einer höheren Gesellschaftsstufe aussehen werden, kann uns das Theater der frühen SU zwar auch nicht zeigen, aber zumindest einen Eindruck der Richtung geben, in die sich das kulturelle Leben entwickeln könnte. Auch die Theoretiker der Bolschewiki gaben zu, im kulturellen Bereich nicht sonderlich versiert zu sein und besonders dort nur spekulieren zu können. Eine dieser sehr begeisterten Spekulationen hat Trotzki in seinem Buch „Literatur und Revolution“ von 1923 entworfen, als das neue Zeitalter der Menschheit, das die Oktoberrevolution einläuten sollte, nicht mehr so fern schien:
„Zweifellos tritt in der Entwicklung einer neuen Gesellschaft , die alle beklemmenden und abstumpfenden Sorgen um das tägliche Brot abgeworfen hat, für die in Gemeinschaftsrestaurants gute, bekömmliche, schmackhafte Speisen zubereitet werden in einer alle befriedigenden Auswahl; in der öffentliche Wäschereien gute Wäsche – für alle – gut waschen; in der die Kinder satt, gesund und vergnügt sind – alle Kinder – und die Grundelemente der Wissenschaft verschlingen – Eiweiß, Luft und Sonnenwärme; in der die Elektrizitätswerke und der Rundfunk nicht so primitiv arbeiten wie heute, sondern wie ein unerschöpflicher Wasserfall zentralisierter Energie, der auf einen Knopfdruck planmäßig reagiert; in der es keine „überflüssigen“ Esser gibt; in der der befreite Egoismus des Menschen – eine gewaltige Kraft! – voll und ganz auf die Erkenntnis, Umgestaltung und Verbesserung des Weltalls gerichtet ist – in einer solchen Gesellschaft wird die Dynamik der kulturellen Entwicklung alles übersteigen, was es in der Vergangenheit gegeben hat. (…) Der gesellschaftliche Aufbau und die psychisch-physische Selbsterziehung werden zu zwei Seiten ein und desselben Prozesses werden. Die Künste: Wortkunst, Theater, bildende Kunst, Musik und Architektur, werden diesem Prozess eine herrliche Form verleihen. Genauer gesagt: Jene Hülle, in die sich der Prozess des kulturellen Aufbaus und der Selbsterziehung des kommunistischen Menschen kleiden wird, wird alle Lebenselemente der gegenwärtigen Künste bis zur höchsten Leistungsfähigkeit entfalten. Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben, und über diese Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“
Die Revolutionäre und die revolutionären Künstler in der Sowjetunion haben ihr Ziel nicht erreicht, das kapitalistische System abzuschaffen und durch wirkliche Demokratie zu ersetzen. Auch wenn heute weniger das Theater als der Film und die Musik in der Politik die wichtigste Rolle einnehmen werden, wird es meiner Meinung nach Formen des revolutionären Kampfes auf der Bühne geben. Deshalb halte ich es für notwendig, dass sich Theaterkünstler, die sich vor die selben Aufgaben wie die russischen Revolutionäre gestellt sehen, nicht nur mit linkem Widerstandstheater auseinandersetzen, sondern auch für mit dem Theater der Russischen Revolution beschäftigen und daraus lernen.