Kommt es unter Chavez zu Volksbewaffnung und Massenerhebung gegen die Reaktion?
Im Mai flogen rund 130 kolumbianische Todesschwadrone in Venezuela auf, die zusammen mit venezolanischen Kapitalisten und Großgrundbesitzern im Interesse der USA einen gewaltsamen Sturz des Chavez-Regimes vorbereiteten. Hunderttausende ArbeiterInnen und Arme gingen daraufhin am 17. Mai auf die Straße, um ihre Unterstützung für Chavez? Reformen zu demonstrieren.
von Tinette Schnatterer, Stuttgart
Am 6. Dezember 1998 wurde Chavez mit 56,5 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt und im Jahr 2000 im Amt bestätigt. Er war mit dem Versprechen angetreten, Reformen für die Armen in Venezuela durchzuführen. Er präsentierte sich als Nachfolger des bürgerlichen Freiheitskämpfers Simon Bolivar aus dem 19. Jahrhundert und prangerte die korrupten Politiker an. Er wurde mit einer großen Mehrheit von den Beschäftigten und Ärmsten des Landes gewählt.
Unter Chavez wurden riesige Flächen Land an Bauern-Kooperativen verteilt. 3.200 neue Schulen wurden eröffnet und eine Million Menschen aus dem Analphabetentum befreit. Universitäten wurden für Kinder aus der Arbeiterklasse geöffnet. Millionen Menschen haben zum ersten Mal Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung, allein in Caracas eine Million. Unter anderem wurden 3.500 Ärzte aus Kuba eingestellt, die in Regionen entsandt wurden, die vorher nie einen Arzt gesehen hatten.
Dadurch entstand eine große Unterstützung für Chavez unter den ärmeren Teilen der Bevölkerung und der Mittelschicht, während er den Hass der Großunternehmer und der venezolanischen Elite auf sich zog.
1999 wurde in einem Referendum eine neue Verfassung für Venezuela beschlossen, die sogenannte ?bolivarische Verfassung?, die in vielen Punkten demokratischer ist als alle anderen in Lateinamerika. Sie beinhaltet zum Beispiel die Möglichkeit einen gewählten Mandatsträger nach der Häfte seiner Amtszeit abzuwählen, wenn 20 Prozent der Wahlberechtigten sich dafür aussprechen.
Außenpolitisch trat Chavez für höhere Ölpreise ein und kritisierte die Außenpolitik der USA, vor allem den Irak-Krieg.
Wirtschaftskrise
Noch immer leben allerdings zwei Drittel der Bevölkerung in Venezuela unterhalb der Armutsgrenze und die Arbeitslosigkeit beträgt 25 Prozent. Die Inflation liegt bei 26 Prozent und wird wahrscheinlich weiter steigen. Das trifft vor allem die Mittelschichten hart, deren Vermögen durch die Inflation aufgefressen wird.
In den letzten Jahren steckte Venezuela in einer tiefen Wirtschaftskrise, die durch die wirtschaftliche Sabotage der Unternehmer und des US-Imperialismus und durch die Kapitalabwanderung verschärft wurde. Auch wenn seit einem Jahr eine schwache Erholung einsetzt, reicht das nicht aus, das soziale Elend zu beseitigen (die Arbeitslosenquote sank von 20 auf immer noch verheerende 15 Prozent). Diese Entwicklung führt auch dazu, dass sich trotz weiterhin großer Unterstützung mittlerweile Teile der Mittelschicht von Chavez abwenden.
Bisher hat Chavez die wirtschaftliche Macht der Kapitalisten kaum angegriffen. Die Reformen wurden durch die Einnahmen der staatlichen Ölgesellschaft, öffentliche Investitionsprogramme und Hilfen aus Kuba finanziert. Um ein weiteres Abtauchen in die Wirtschaftskrise zu verhindern und den Lebensstandard der Masse der Bevölkerung nachhaltig zu heben, ist ein Plan nötig, wie die Ressourcen des Landes im Interesse der ArbeiterInnen und Armen genutzt werden können. Um das umsetzen zu können, müssen die Schlüsselindustrien vergesellschaftet werden: Statt Profite für wenige abzuwerfen, könnten sie genutzt werden, die Gesellschaft zu entwickeln.
Putschversuche
Die venezolanischen Unternehmer und die reiche Elite des Landes haben von Beginn an klargemacht, dass sie es nicht hinnehmen, ihre Privilegien von Chavez antasten zu lassen. Unterstützt werden sie dabei vom US-Imperialismus. Venezuela ist der fünftgrößte Öl-Exporteur weltweit und einer der wichtigsten Öl-Lieferanten für die USA. Durch die Krise im Nahen Osten ist es für die USA noch wichtiger geworden, dass dieses Öl unter der Kontrolle einer US-freundlichen und stabilen Regierung steht. Dazu kommt die ständige Kritik Chavez? an der US-Außenpolitik. Bush begrüßte sowohl den Putschversuch gegen Chavez als auch den Produktionsstopp 2002 / 03 durch die Unternehmer. Auch der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Kerry, bezeichnete Chavez als ?undemokratisch?.
Die venezolanischen Herrschenden haben bereits drei Anläufe unternommen, den gewählten Präsidenten loszuwerden ? die bisher alle am entschiedenen Widerstand der Bevölkerung scheiterten. Im April 2002 führten unternehmerfreundliche Teile des Militärs einen Putsch durch, nahmen den Präsidentenpalast ein und inhaftierten Chavez. In den Medien wurde verkündet, Chavez sei zurückgetreten und die USA gratulierte den neuen Machthabern.
Was sich allerdings in den Tagen des Putsches abspielte, war beeindruckend. Demonstrationen von ArbeiterInnen und Armen füllten die Straßen, sie zogen zum Präsidentenpalast und forderten die Wiedereinsetzung von Chavez. Die spanische Zeitung El Pais berichtete von einem einfachen Soldaten, der Chavez im Militärgefängnis fragte, ob es stimme, dass er zurückgetreten sei. Chavez verneinte, woraufhin der Soldat ihn bat, eine Nachricht zu verfassen und im Papierkorb zu hinterlassen. Der Soldat faxte die Stellungnahme des Präsidenten nach Caracas, wo tausende Exemplare an die Demons-trantInnen verteilt wurden. Innerhalb weniger Stunden musste Chavez freigelassen und zurück in den Präsidentenpalast gebracht werden.
Nachdem der Putschversuch gescheitert war, versuchte die Opposition Chavez mit einem sogenannten ?Generalstreik? zu stürzen. In Wirklichkeit war dieser ?Streik? allerdings nichts anderes als eine Massenaussperrung der Beschäftigten. Wieder gingen Massen dagegen auf die Straße, es kam zu gewalttätigen Kämpfen von Chavez-Gegnern und UnterstützerInnen. Dieser Boykott der Unternehmer zwischen Dezember 2002 und Januar 2003 führte allerdings zu riesigen Produktionsausfällen, vor allem bei der staatlichen Ölraffinerie.
Neben neuen Putschplänen versucht die Opposition nun, auf ein Referendum zur Abwahl des Präsidenten zu setzen. Der Einreichtermin musste mehrfach verschoben werden und nach Abgabe der Unterschriften stellte sich heraus, dass viele Unterschriften gefälscht waren. Einige der ?Unterzeichner? waren seit über zehn Jahren tot. Trotzdem erkannte Chavez das Referendum an, das im August stattfinden soll.
Selbstorganisation?
Bisher hat Chavez nichts getan, um die Gefahr eines Putsches zu verhindern. Bereits Monate vor dem Putsch 2002 hatte es Gerüchte darüber gegeben. Chavez hatte damals verkündet, er würde sich nicht stürzen lassen, aber nichts dagegen unternommen. Nach dem Putsch wieder zurück im Präsidentenpalast rief er als erstes zu ?nationaler Einheit? auf und appellierte, wieder nach Hause zu gehen. Er versuchte, die Opposition durch Kompromisse zu besänftigen, zum Beispiel stellte er einige Manager wieder in der staatlichen Ölindustrie ein, die den Putsch unterstützt hatten. Alle Angriffe der Opposition konnten bisher nur durch entschlossenen und spontanen Widerstand der Beschäftigten und Armen abgewehrt werden.
Seitdem jetzt die Pläne der kolumbianischen Todesschwadrone bekannt wurden und Chavez mit dem Rücken zur Wand steht, benutzt er eine deutlichere Sprache. Am 17. Mai erklärte er, er werde in den nächsten Wochen neue Direktiven herausgeben: ?Ich bitte alle Stadträte und sozialen Bewegungen um Unterstützung. Männer und Frauen, die nicht in der Reserve sind, aber Soldaten werden wollen, sollen militärisches Training aufnehmen und sich zur Verteidigung des Landes organisieren.?
In Chile hatten die ArbeiterInnen vor dem Militärputsch 1973 gegen die Regierung des Sozialisten Allende Waffen eingefordert, um die Revolution zu verteidigen. Einige ArbeiterInnen hatten sogar leichte Waffen und in manchen Fabriken waren Verteidigungskomitees organisiert worden. Allende hatte damals verkündet, Waffen würden ausgegeben, ?wenn die Zeit reif? sei. Dies passierte aber nicht und Tausende von chilenischen ArbeiterInnen wurden wehrlos abgeschlachtet.
In Venezuela ist es jetzt allerhöchste Zeit, Arbeitermilizen zu gründen. Jeder Betrieb, jeder Stadtteil und jedes Elendsviertel braucht ein Verteidigungskomitee. Soldaten müssen Komitees aus ihren Reihen wählen und damit beginnen, Waffen an die Komitees zu verteilen. Diese Soldatenräte sollten außerdem ein System von gewählten Offizieren aufbauen und diejenigen, die mit den rechten Putschkräften sympatisieren, aus der Armee entfernen.
Die Verteidigungskomitees könnten durch die Bolivarischen Zirkel (Unterstützungskomitees für Chavez, deren Gründung er zu Beginn seiner Amtszeit in ganz Venezuela initiiert hatte) koordiniert werden. Die Bolivarischen Komitees sollten durch gewählte VertreterInnen aus allen Betrieben, Stadtteilen und der Gewerkschaft ergänzt werden, die jederzeit auch wieder abwählbar sind. Diese Komitees müssen sich auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vernetzen und eine revolutionäre Regierung der ArbeiterInnen und Bauern bilden.
Revolution?
Aber auch die Bildung von Milizen reicht nicht aus. Notwendig ist eine Arbeiterregierung mit einem sozialistischen Programm. Die großen Banken und Unternehmen, sowohl die nationalen wie die ausländischen, müssen vergesellschaftet und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten gestellt werden. Die Kapitalisten haben bereits gezeigt, dass sie sich nicht an demokratische Wahlen halten. Nur durch die Enteignung kann verhindert werden, dass sie ihre Macht nutzen, um Chavez zu stürzen. Dann könnte die Wirtschaft demokratisch geplant werden. Es gibt bereits in einigen Betrieben Elemente von Arbeiterkontrolle und kürzlich streikten 7.000 Stahlarbeiter von Sidor, der größten Stahlgesellschaft in ganz Lateinamerika, über einen Monat und forderten die Verstaatlichung ihrer Fabrik.
Referendum
Chavez ist in der Vergangenheit nur gegen die Auswüchse des Systems vorgegangen und hat den Kapitalismus nicht grundlegend in Frage gestellt. Er versuchte im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten Verbesserungen durchzuführen und die herrschende Klasse durch Kompromisse zu besänftigen. So sagte Jorge Giordani, venezolanischer Planungsminister, noch vor ein paar Wochen: ?In Venezuela gibt es einen Übergang, keine Revolution. Das neoliberale Modell ist in Gefahr, nicht der Kapitalismus? (La Tercera, 31. Mai).
Durch die Gefahr eines neuen Putsches und durch den Druck von unten ist Chavez radikaler geworden. Am 14. Mai erklärte Chavez: ?Nach dem Kalten Krieg haben viele Linke aufgehört, von Kapitalismus zu sprechen und diesen Begriff durch das Wort Neoliberalismus ersetzt. Beide Begriffe stehen für die gleiche mörderische, perverse und stinkende Herrschaft.?
Chavez hofft darauf, dass ein positives Ergebnis im Referendum ihn stärken wird. Bei der Abstimmung am 15. August benötigt die Opposition mehr als 3,7 Millionen Stimmen (soviel erhielt Chavez bei seiner Wiederwahl vor vier Jahren). Dann würde es innerhalb von einem Monat zu einer Neuwahl des Präsidenten kommen. In den letzten Wochen hat Chavez eine große Wahlkampagne gestartet. Anfang Juli erklärte er vor mehreren tausend AnhängerInnen in Puerto Ordaz: ?Unsere Hauptgegner sind die imperialistischen Kräfte. Sie werden unser Öl nicht bekommen.?
Der entscheidende Kampf wird aber nicht an den Wahlurnen geführt. Es geht jetzt darum, die Unternehmer zu enteignen, die Betriebe unter Arbeiterkontrolle zu stellen und für eine sozialistische Gesellschaft zu kämpfen. In Nicaragua wurden nach dem Sturz des Diktators Somoza in den achtziger Jahren sehr viel weitergehende Verstaatlichungen durchgeführt. Doch nachdem der Kapitalismus nicht abgeschafft wurde, gelang es der Konterrevolution, wieder an die Macht zu kommen. In Nicaragua dauerte dieser Prozess, auch vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes, zehn Jahre. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass Chavez jetzt zehn Jahre Zeit haben wird.
Auf den Demonstrationen am 1. Mai diesen Jahres trugen einige GewerkschafterInnen Transparente mit Losungen wie: ?Lasst uns unser Land verteidigen!?, ?Nein zu einer US-Intervention!? ?Venezuela hin zum Sozialismus!?
In diesem Sinne muss der Kampf gegen die Reaktion weiter geführt werden.