Fehlt den Gewerkschaften die Kampfkraft?
Kein Tag vergeht, ohne dass Unternehmer Belegschaften unter Druck setzen und erpressen. 30 Prozent weniger Lohn und eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden und mehr, das ist die grobe Marschrichtung. Siemens erzielte mit dem Abschluss für die Werke in Nordrhein-Westfalen bereits einen Durchbruch. Sind die Gewerkschaften zu schwach?
von Ursel Beck, Stuttgart
Die Kampfkraft der Gewerkschaften wird bestimmt von der Kampffähigkeit und -bereitschaft ihrer Mitglieder und die Organisierung dieser Kampfkraft durch Gewerkschaftsführung und -apparat. An Kampfbereitschaft mangelt es nicht. 500.000 MetallerInnen in 1.800 Betreiben hatten sich Anfang des Jahres an den Warnstreiks in der Metalltarifrunde beteiligt. In einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung musste der Chef des südwestdeutschen Metallarbeitgeberverbandes, Zwiebelhofer, eingestehen: ?In dieser krassen Form war das noch nie da, solche Teilnehmerzahlen hat es noch nie gegeben.?
Der Unmut über Agenda 2010 und Unternehmerwillkür kam auch bei den regionalen Großdemonstrationen am 3. April in Berlin, Köln und Stuttgart zum Ausdruck. Bei allen betrieblichen oder konzernweiten Aktionen gab es eine enorm gute Beteiligung. 5.500 Boschler aus verschiedenen Werken legten Anfang Februar die Arbeit nieder und demonstrierten vor dem Werk in Leinfelden gegen die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche und gegen Produktionsverlagerung.
25.000 Siemensbeschäftigte von Rostock bis München protestierten am 18. Juni gegen die Erpressungspolitik von Siemens-Chef Pierer und Co. Betriebsversammlungen in DaimlerChrysler-Werken Anfang Juli nahmen den Charakter von Protestkundgebungen an. In minutenlangen Pfeifkonzerten, mit Schildern und Transparenten brachten die Beschäftigten ihren Unmut gegen die geplante Streichung der ?Steinkühlerpause?, die Kürzung von Schichtzulagen und Weihnachtsgeld, die Einführung der 40-Stunden-Woche in der Entwicklung und einen Absenkungstarifvertrag für den sogenannten Dienstleistungsbreich (Kantine, Werkschutz, Reinigung) zum Ausdruck.
Mit jedem neuen Angriff aus den Chefetagen wächst die Wut in den Werkhallen und Büros. Charakteristisch für die derzeitige Situation ist auch, dass sich bei allen betrieblichen Aktionen und Arbeitsniederlegungen Nicht-Gewerkschaftsmitglieder beteiligen.
Gewerkschaftsführung blockiert
Doch nach wie vor steht die Gewerkschaftsführung auf der Bremse. Der 3. April war für sie nicht der Auftakt für gewerkschaftliche Gegenwehr, sondern eine Dampfablassaktion zur Rückgewinnung der Kontrolle über eine Bewegung, die sich außerhalb der Gewerkschaften entwickelte. Wenn der DGB-Vorstand seine nächste Sommerpause einlegt und Einzelgewerkschaften als nächsten Schritt Unterschriftensammlungen statt Streiks in den Betrieben organisieren, dann zeigt das, dass Sommer (DGB-Chef), Peters (IG-Metall-Vorsitzender), Bsirske (Vorsitzender von ver.di) und Co den Widerstand nicht ernst meinen.
Die Hoffnungen von gewerkschaftlichen AktivistInnen, dass nach dem 3. April mehr passiert, wurden enttäuscht. Die alte Stillhaltepolitik gegenüber Rot-Grün und die Politik von betrieblichen Bündnissen für Wettbewerbsfähigkeit des Standort Deutschlands und Co-Management wird weiter betrieben. Selbst als die von den Gewerkschaften geforderte Ausbildungsabgabe erst kastriert und dann mit Beteiligung von SPD-regierten Bundesländern vollends gekippt wurde, gab es nur verbalen Protest von Seiten der Gewerkschaftsspitze.
Überall, wo die Arbeitergeber Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkungen fordern, signalisieren Gewerkschaften und Betriebsräte Verhandlungsbereitschaft und erklären sich kompromissbereit, wo Kampf angesagt ist. Das zeigt, dass die heutigen Gewerkschaftsführer und viele Betriebsräte eher die Profitinteressen der Unternehmer als die Klasseninteressen ihrer Mitglieder vertreten.
Sie stellen sich auf den Standpunkt der Logik des Kapitalismus und haben sich auch aufgrund ihrer persönlichen Einkommen mit diesem System arrangiert. Seit Jahren vermeiden sie Streiks und betreiben mit ihrer Stellvertreterpolitik am Verhandlungstisch einen Ausverkauf nach dem anderen.
Hinzu kam Anfang der 90er Jahre die kapitalistische Restauration in der Sowjetunion und Ostdeutschland und in der Folge davon die ideologische Offensive der Bürgerlichen gegen Staatseigentum und Planwirtschaft. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass das politische Bewusstsein und das Selbstbewusstsein der Gewerkschaftsmitglieder und der Aktivitätsgrad stark zurückgegangen sind. In vielen Betrieben und Branchen hatte das sogar die Auflösung gewerkschaftlicher Strukturen (Betriebsgruppen, Vertrauensleute) zur Folge.
Die Verwandlung der SPD zur Unternehmerpartei sorgte außerdem dafür, dass es für Gewerkschaftsmitglieder keine Partei mehr gibt, in der Gegenargumente und eine Alternative zu Neoliberalismus und Kapitalismus diskutiert und aufgezeigt werden.
Arbeiterbewegung neu aufbauen
Der Aufbau einer neuen Partei für Beschäftigte, Erwerbslose, Jugendliche und RentnerInnen ist deshalb überfällig. Und es ist nur konsequent, wenn sich viele GewerkschafterInnen am Aufbau einer solchen Partei beteiligen. Diese Partei kann aber nicht Ersatz sein für gewerkschaftlichen Kampf und sie kann sich auch nicht aufbauen ohne diesen Kampf.
Deshalb müssen die Kräfte, die eine neue ?Linkspartei? formieren, von den Gewerkschaften Streiks bis hin zu einem bundesweiten eintägigen Proteststreik einfordern. Linke und AktivistenInnen in den Gewerkschaften und Betrieben müssen ihre Position nutzen, um die Blockade der Gewerkschaftsführung zu brechen und von unten eine Streikbewegung aufbauen und voran treiben.
Lokale Streiks wie in Schweinfurt im April 2003 oder in Kassel im Dezember 2003 dürfen keine Ausnahmen bleiben. Solche Beispiele müssen sich fortsetzen. Dann sind sie ein wirksames Mittel, um die Gewerkschaftsführung unter Druck zu setzen, bundesweite Streiks zu organisieren beziehungsweise die Voraussetzungen zu schaffen, streikbereite Orte und Regionen zu vernetzen und auch ohne die Gewerkschaftsspitzen überregionale oder sogar bundesweite Streiks zu organisieren.
In vielen Betrieben ist die Lage so explosiv, dass sich trotz der Blockadehaltung der Gewerkschaftsführung und den Problemen, denen sich KollegInnen bei der Frage von Widerstand gegenübersehen, der Unmut Bahn brechen und es auch relativ spontan zu Protesten und Arbeitsniederlegungen kommen kann.
Durch Streiks und den beschleunigten Aufbau einer innergewerkschaftlichen Opposition müssen die Gewerkschaften von unten bis oben wieder neu als Kampforganisationen der arbeitenden Menschen aufgebaut werden.
Ursel Beck ist gewerkschaftspolitische Sprecherin der SAV