Generalstreik bricht das Diktat der bösen Bosse

Über eine halbe Million gegen Agenda 2010

 

Niemals zuvor demonstrierten in der Bundesrepublik mehr Menschen an einem Tag gegen die Sozialpolitik der Regierung. Über 300.000 in Berlin, über 120.000 in Stuttgart und 100.000 in Köln – mehr als eine halbe Million! ArbeiterInnen, Erwerbslose, Studierende, Männer, Frauen, RentnerInnen, ImmigrantInnen, Jugendliche, BeamtInnen – alle waren sie auf der Straße, um deutlich zu machen: Es reicht!
[Bilder der Demonstration]


 

Lutz Ratzeburg, IG-BAU-Mitglied auf der Demo am 3. AprilKein Wunder, dass der Aufruf der Gewerkschaften eine solch riesige Resonanz erfahren hat. Die Beschäftigten und Erwerbslosen haben erkannt, dass es ans Eingemachte geht. Praxisgebühr, erhöhte Zuzahlungen für Medikamente, Rentenkürzungen, Streichungen beim Arbeitslosengeld, Massenentlassungen, Arbeitszeitverlängerung, Lohnkürzung – wenn es nach dem Willen der Unternehmer und ihrer Regierung geht, werden frühkapitalistische Verhältnisse eingeführt. Für Lutz Ratzeburg, erwerbsloses IG BAU-Mitglied aus Berlin ist deshalb die Sache klar: „Schröder muss weg!“

Auf der Auftaktkundgebung am Berliner Alexanderplatz wurde deutlich, welches Problem die Bewegung gegen den Sozialabbau hat. Da sprach zuerst der IG Metall-Bezirksleiter von Berlin und gab eine Worthülse nach der anderen von sich. Den Namen Schröder und die SPD nahm er gar nicht erst in den Mund. Ein allgemeines Bla Bla über Fortschritt und soziale Gerechtigkeit. Es muss den gewerkschaftlichen Spitzenfunktionären auch schwer fallen zu erklären, warum sie erst ein Jahr nach der Verkündung der Agenda 2010 – und nach ihrer Beschlussfassung – zu diesem Protest aufrufen. Sie können es nicht erklären, denn die Erklärung spricht gegen sie: sie wurden durch die von unten organisierte Massendemonstration der 100.000 am 1. November und durch den Unmut und den Druck in den Betrieben und Gewerkschaften dazu gezwungen. Ohne diesen Druck von unten würden die Gewerkschaftsspitzen weiter ohne zu murren mit ihren SPD-Parteifreunden zusammen in Regierungskommissionen sitzen und den Sozialabbau mitgestalten. Noch vor sechs Wochen sprach der DGB davon, nur 50.000 Menschen zu mobilisieren. Es wurden 500.000 weil die Masse der Bevölkerung die Nase voll hat.

Katharina Seewald, DGB-Vorsitzende NordhessenEinen anderen Ton schlug Katharina Seewald an, DGB-Vorsitzende und kämpferische Gewerkschafterin aus Nordhessen. Diese hatte gemeinsam mit anderen am 9. Dezember 2003 7.000 Beschäftigte verschiedener Kasseler Betriebe während der Arbeitszeit auf die Straße gebracht. Auch wenn sie es vermied, das Wort auszusprechen, handelte es sich dabei doch um nichts anderes als einen politischen Streik. Und sie rief alle dazu auf, es dem Kasseler Beispiel nachzumachen und wünschte sich, dass Anfang Juni wieder – aber diesmal an einem Wochentag – solche großen Demonstrationen stattfinden. Seewald nannte auch im Gegensatz zu anderen RednerInnen aus der Gewerkschaft die Ursache des Sozialkahlschlags, nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem.
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Die Demonstration in Berlin war riesig und kämpferisch. Viele selbstgemalte Transparente und Schilder bestimmten das Bild genauso wie ein Meer roter Gewerkschaftsfahnen. Immer wieder sah man ArbeiterInnen bestimmter Belegschaften gemeinsam marschieren, ob von OTIS Stadthagen, DaimlerChryler Berlin oder den Berliner Vivantes Krankenhäusern.

„Wir sind das Volk – nicht die Konzerne“, „Eine Bitte an die CDU: dankt Schröder mit der Ehrenmitgliedschaft“ war unter anderem zu lesen.

 

Wie weiter?

Die SAV trat mit zwei Hauptslogans bei den Demonstrationen auf: eintägigen Generalstreik durchsetzen! Und: Neue Partei für Beschäftigte, Erwerbslose, Jugendliche und RentnerInnen aufbauen. Die SAV-Zeitung „Solidarität“ mit diesen beiden Parolen auf der Titelseit war ein Verkaufsschlager. Allein die Berliner SAV-Mitglieder konnten über 400 Exemplare verkaufen. Immer wieder lasen DemonstrantInnen die Überschrift und traten dann aus dem Demozug heraus, um die Zeitung zu kaufen. Streiks wurden auch auf weiteren Transparenten und Schildern gefordert, wie auf dem Schild mit der Aufschrift „Generalstreik bricht das Diktat der bösen Bosse“.

Der Kollege, der dieses Bild hielt, sagte: „Der Generalstreik ist das einzige Mittel, das hilft um den Menschen in diesem Lande zu ihren Rechten zu verhelfen. Es ist ein legitimes Mittel, das letzte Mittel des Volkes, um die Herrschenden zur Räson zu bringen.“ Auf die Frage ob die Gewerkschaftsführer dazu aufrufen werden sagte er: „Das kann ich nicht sagen. Es wären viele, viele Menschen dazu bereit und sollten sie es nicht tun, werden sie von der Basis von ihren Stühlen gefegt.“

Andrea Siebert, ver.di-Mitglied bei der TelekomStreiks forderten auch AktivistInnen des Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ver.di, die eine hervorragen Resonanz auf ihre Initiative erlebten. Alleine die (noch) kleine Berliner Netzwerk-Gruppe sammelte Namen und Adresse von 90 interessierten ver.di-Mitgliedern. Andrea Siebert, beschäftigt bei der Telekom und aktiv beim Netzwerk hatte eine kurze Antwort auf die Frage, wie es nach den Demos weitergehen soll: „Mehr Aktionen. Streiks.“ Genau das ist jetzt nötig und genau dafür muss Druck in den Betrieben und Gewerkschaften gemacht werden.

Auch die Diskussion um eine neue linke Partei wurde unter vielen DemonstrationsteilnehmerInnen geführt und fand viel Anklang. Oft kamen Menschen zu den Info-Ständen der SAV in der Erwartung, wir seien diese Partei. Es wurde deutlich, dass eine offensive Kampagne von Gewerkschaften bzw. führenden GewerkschaftsaktivistInnen für eine neue Partei auf große Resonanz stoßen würde. Dann könnte die Frage, die immer wieder auftaucht, beantwortet werden: was ist denn die Alternative zu Schröder?

Das Eingreifen der SAV auf den Demonstrationen war auffällig und erfolgreich. In Berlin erklärten drei Demo-TeilnehmerInnen noch auf der Demo ihren Eintritt in die SAV. Über 600 Euro wurden für den SAV-Spendenfonds von den Berliner SAV-Mitgliedern gesammelt.

Sascha Stanicic, Berlin,3. April 2004, 18.00 Uhr