Für einen eintägigen Generalstreik!

Die Herrschenden blasen zur großen Attacke. Wie nie zuvor in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg werden die sozialen Rechte der ArbeitnehmerInnen, Erwerbslosen, Jugendlichen und RentnerInnen von der Schröder-Regierung unter Beschuss genommen.

von Torsten Sting, Rostock
 
Was in Deutschland unter dem Titel „Agenda 2010“ abläuft, hat in anderen Ländern einen anderen Namen, inhaltlich unterscheidet es sich kaum. Während die Proteste in Deutschland bisher eher bescheidener Natur waren, ist in den meisten west- und südeuropäischen Ländern ein schon vergessen geglaubtes Phänomen wiederauferstanden: Der Generalstreik.
Ob Frankreich oder Österreich, Spanien oder Portugal: Die „Argumente“ der Politiker, Medien und Unternehmer klingen seltsam vertraut. Überall ist von „notwendigen Reformen“ die Rede. Damit soll die „Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen“ gestärkt werden, um die „Sozialsysteme umzubauen“ und „neue Arbeitsplätze“ schaffen zu können.
Doch wie immer versteckt die reiche Elite ihre wahren Absichten hinter wohlklingenden Worthülsen. Im Klartext bedeuten ihre Vorhaben: Sozialsysteme – bisher staatlich oder anteilig von Unternehmern finanziert – werden zusammen gekürzt, gestrichen oder privatisiert.
Arbeitslosen wird die finanzielle Unterstützung zusammengestrichen, der Zwang zur Aufnahme von Billigjobs massiv erhöht. Das Gesundheitswesen amerikanischen Verhältnissen angeglichen. Die Wochen- und Lebensarbeitszeit wird verlängert, gewerkschaftliche Rechte beschnitten und grundsätzlich in Frage gestellt. Und so weiter.
Kurzum: Das was man früher mal als „Sozialstaat“ in Westeuropa kannte, soll zerschlagen werden. Vor dem Hintergrund einer strukturellen Krise des kapitalistischen Systems – welches nicht mehr mit hohen Wachstumsraten aufwarten kann – und einer weltweiten Wirtschaftskrise, steigt der Druck auf die Kapitalisten aller Länder. Wollen sie im Konkurrenzkampf nicht den Kürzeren ziehen, müssen sie schneller und mehr Leute entlassen oder Löhne und Sozialleistungen kappen können als ihre Gegner.

„Sozialpartnerschaft“ ade

Gab es in den 80er und 90er Jahren Sozialkürzungen und Privatisierungen in Teilbereichen, so steht heute alles auf dem Prüfstand, was von der Arbeiterbewegung in über einhundert Jahren erkämpft wurde.
Die gewachsene Radikalität der Mächtigen wird am Beispiel Frankreichs deutlich. Im Winter des Jahres 1995 konnte ein wochenlanger Arbeitskampf im öffentlichen Dienst den Regierungschef Alan Juppé zur Rücknahme der Rentenkürzung zwingen. Resigniert gab der gestürzte Konservative zu Protokoll: „Du kannst nicht gegen die Straße regieren“.
Acht Jahre später, geht es wieder um die Rente. Obwohl der Druck auf die Regierung größer ist als Mitte der 90er – diesmal beteiligten sich auch wichtige Teile der Industriebeschäftigten – bleibt die Regierung hart. Premier Raffarin bringt es aus der Sicht des französischen Kapitals auf den Punkt: „Die Straße hat nicht zu entscheiden!“.
Ein ähnliches Bild – unter anderen Vorzeichen – in Österreich: Jahrzehntelang gab es Ruhe im Alpenstaat. Die Dinge wurden zwischen (zumeist SPÖ-) Regierung, Gewerkschaftsführung und Arbeitgebern ausgemauschelt. Der Lebensstandard und soziale Sicherheit waren hoch. Gab es mal Knatsch in den Betrieben, sorgte die Bürokratie des ÖGB (Österreichischer Gewerkschaftsbund) dafür, dass es nicht zum Streik kam.
Mit der Regierungsbeteiligung der FPÖ vor drei Jahren hat sich die Situation grundlegend verändert. Die herrschende Klasse will – dem Beispiel der Nachbarländer nacheifernd – endlich „aufräumen“. Vom Standpunkt der Kapitalisten gibt es keinen Spielraum mehr für Zugeständnisse an die Arbeiterklasse.
So brüskierte der konservative Bundeskanzler Schüssel die von extremer Sozialpartnerschaft verwöhnte Gewerkschaftsspitze, in dem er die „Pensionsreform“ (Rentenkürzungen bis zu 40 Prozent) verkündete, ohne die Herren zu konsultieren. Die Bürokraten mögen darüber traurig sein, dies Beispiel verdeutlicht aber anschaulich, dass die Kapitalisten auf die Mitarbeit ihres „Sozialpartners“ keinen sonderlich großen Wert mehr legen. Im Gegenteil. Regierungen und Konzerne gehen immer mehr dazu über, die ArbeitnehmerInnen und ihre Gewerkschaften frontal anzugreifen. Und das unabhängig davon, ob konservative oder sozialdemokratisch geführte Regierungen dran sind.

Internationale Massenstreiks

Die härtere Gangart der Bürgerlichen hat zur Folge, dass es zu größerer Gegenwehr kommt. Die Ruhe und Passivität der Arbeiterbewegung, vorherrschendes Element des letzten Jahrzehnts, gehört der Vergangenheit an. So gab es in den vergangenen zwölf Monaten eine beeindruckende Serie großer Streikbewegungen in West- und Südeuropa. Die letzten Jahre über hat sich der Unmut über die neoliberalen Kürzungen zusammengebraut. Dem Radikalismus von oben steht eine wachsende Radikalisierung von unten gegenüber. Illusionen die es noch im letzten Jahrzehnt in die Versprechungen der Politiker gegeben hat, verfliegen zunehmend. Kaum ein Land, wo es als Antwort auf massiven Sozialabbau der Regierenden keine großen Arbeitskämpfe gegeben hätte.
In Griechenland fanden seit 1992 sieben Generalstreiks gegen „Rentenreformen“ statt. Italien wurde im vergangenen Jahr Schauplatz einer Bewegung, die sich gegen die Verschlechterung des Kündigungsschutzes wandte. Mit einem umfassenden Streik wurde für einen Tag das Land nahezu lahm gelegt. Dreizehn Millionen ArbeiterInnen (90 Prozent aller Lohnabhängigen) beteiligten sich. Der vermeintlich mächtigste Mann im Staat, Silvio Berlusconi, musste ohnmächtig zuschauen, wie Staatsdiener und Beschäftigte seines Medienimperiums den Dienst nieder legten. In Spanien gab es einen zehn Millionen Menschen starken Ausstand. Österreich erlebte die größte Streikbewegung seit den fünfziger Jahren und in Frankreich gibt es die bedrohlichste Lage für die Herrschenden seit den revolutionären Ereignissen des Jahres 1968. Die Arbeiterbewegung hat sich damit eindrucksvoll zurückgemeldet und ihre Stärke demonstriert.
Doch die Gewerkschaftsführungen auch in diesen Ländern sorgten dafür, dass trotz enormer Bewegungen oft nur schlappe Zugeständnisse heraus kamen und die Regierenden mit ihren Plänen die Proteste überstehen konnten, ohne dass die Bewegung weiter gesteigert wurde.

Deutschland kann Anschluss finden

Viele Linke und GewerkschafterInnen schauen mit leuchtenden Augen gen Süden. Nach dem Motto: Überall regt sich Widerstand, nur in Deutschland nicht! Ist die deutsche Arbeiterklasse konservativ? Liegt es gar an den Genen? Richtig ist, Deutschland hinkt den Ereignissen in unseren Nachbarländern hinterher. Die Streikstatistik der OECD hat vorerst den letzten Platz für die deutschen Gewerkschaften reserviert. Dies hat aber nichts mit einer prinzipiellen Einstellung „der“ ArbeiterInnen (und Arbeitslosen) in Deutschland zu tun. Die Ursachen dafür liegen tiefer und beginnen sich bereits zu verändern.
Starke Gewerkschaften konnten in den letzten Jahrzehenten im internationalen Vergleich hohe Löhne und kurze Arbeitszeiten erkämpfen. Die Gewerkschaftsbürokratie hatte den Laden immer noch mehr im Griff als ihre „Kollegen“ in Frankreich oder Italien. Die Sommers, Bsirskes und Co setzen alles daran, mit der Drohung der angeblich noch schlimmeren CDU ihren rot-grünen Freunden in der Regierung den Rücken frei zu halten.
Trotz der Blockade der DGB-Führung braut sich aber auch in Deutschland was zusammen. Dies hat die Stimmung bei den Demos gegen Schröders Agenda 2010 in den verschiedenen Städten gezeigt, wo die Forderung nach Streik immer wieder auftauchte. Die Vertrauensleute von Opel Bochum forderten einen 24-Stunden-Generalstreik, die verdi-Jugend beschloss auf ihrer Bundeskonferenz sich für diese Forderung einzusetzen. In Schweinfurt gab es Ende April Arbeitsniederlegungen und Demon-strationen gegen die Regierungsvorhaben. Dies geschah während der Arbeitszeit und 4.000 KollegInnen beteiligten sich daran.
Auch der von der IG-Metall-Spitze verratene Arbeitskampf der MetallerInnen in Ostdeutschland drückte die wachsende Wut der Beschäftigten aus. Er wurde von der IG-Metall-Spitze gerade dann abgebrochen, als er Wirkung entfaltete und die Beschäftigten ihre Macht erleben konnten. Die IG-Metall-Spitze reagierte aus Angst, diese Beschäftigten nicht mehr unter Kontrolle halten zu können.
Am 8. Juli legten in Duisburg 800 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes aus Protest gegen die geplante Kürzung von Weihnachts- und Urlaubsgeld die Innenstadt lahm.
Die Aufgabe der Führung der Arbeiterbewegung wäre es, diese verschiedenen Kämpfe der ArbeitnehmerInnen zusammen zu bringen und mit der Mobilisierung gegen die Agenda 2010 zu verbinden. Die Bürokratie der Gewerkschaften macht jedoch genau das Gegenteil. Sie unternimmt alles, um Kämpfe zu verzetteln und den wachsenden Unmut der Basis zu deckeln.
Die Demos im Mai gegen die Agenda 2010 waren reine Verarschung. Auch wenn sich AktivistInnen dafür zum Teil mächtig ins Zeug gelegt hatten, von den Gewerkschaftsspitzen aus waren die Aktionen politisch und organisatorisch weniger als halbherzig. Im Kreise von SPD-Bundestagsabgeordneten sagte DGB-Chef Sommer die Wahrheit, als er davon sprach, dass die Proteste fürs „Schaufenster“ seien, also nur dem Druck der Basis geschuldet, letztlich aber nur Alibiveranstaltungen seien. Gesagt getan. Nach ein paar Aktionen, zu denen kaum mobilisiert wurde, sagte die Gewerkschaftsspitze den Kampf gegen die Agenda 2010 ab. Schuld daran hatte wieder mal die Basis, die nach Angaben des Vorsitzenden lieber vorgezogene Sommerferien machen wollte.
Dabei stellte sich für viele KollegInnen die einfach Frage, warum sie an diesen Demos hätten teilnehmen sollen: Sommer, Bsirske und Co stellten die Angriffe ja nicht einmal grundlegend in Frage, sondern akzeptierten die Notwendigkeit von „Reformen“, sprich von Sozialkahlschlag. Er sollte nur irgendwie „anders“ sein. Aufgerufen wurde ohne jede Perspektive, die Proteste zu steigern; „mobilisiert“ wurde von großen Städten in kleine; bei anderen Protesten wurden nur Teile der Mitgliedschaft aufgerufen, und so weiter.
Diese Spitzenfunktionäre haben kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit „ihrer“ Regierung, haben sie doch fast alle das gleiche Parteibuch wie Schröder (oder im Falle von Bsirske wie Fischer). Ihre Spitzengehälter ähneln eher dem Salär eines Managers denn eines Arbeitnehmers oder Arbeitslosen. So sieht auch ihre Weltanschauung aus. Wenn sie mal eine Demo oder einen Streik organisieren, dann nur unter Druck der Basis.
Initiativen von unten nötig
Wenn die Gewerkschaftsführung den Kampf gegen die Agenda 2010 blockiert, welchen Weg kann es sonst für Widerstand geben? Als Schlussfolgerung aus dem Ausverkauf der Gewerkschaftsspitze ist es nötig, dass sich kämpferische und linke KollegInnen in den Gewerkschaften zusammenschließen, um dem Kurs der Bürokratie politisch und personell was entgegensetzen zu können und einen politischen Kurswechsel herbeizuführen.
Kurzfristig ist es wichtig, dass von gewerkschaftlichen Basisstrukturen Initiativen gestartet werden. Zusammenarbeit sollte mit Anti-Hartz-Bündnissen, Arbeitslosenverbänden und Attac gesucht werden. Wo bereits vorhanden, sollten die Sozialforen dazu genutzt werden, die Idee von Widerstand gegen die Agenda 2010 zu verbreiten und konkrete Schritte zu diskutieren.
Ein Beispiel gibt die Aktionskonferenz vom 16. August in Frankfurt. Hier kamen 150 VetreterInnen aus den verschiedenen Initiativen, Organisationen und Gewerkschaften zusammen und ergriffen die Initiative für eine bundesweiten Aktionstag gegen die Agenda 2010 am 20. Oktober und eine bundesweite Demo am 1. November in Berlin. Solche Initiativen bringen ArbeiterInnen und Arbeitslose zusammen. So kann das Gefühl überwunden werden, dass man nichts machen kann.

Für lokale Streiks am 20.10.

Im September und Oktober geht es darum, den Aktionstag am 20. Oktober und die Mobilisierung zum 1. November vor Ort umzusetzen. Dem Beispiel des lokalen Streiks am 29. April in Schweinfurt folgend, sollten am 20. Oktober möglichst örtliche Streiks organisiert werden. Beim letzten Generalstreik in Deutschland, 1948, waren es ebenfalls örtliche Streiks und ein landesweiter Generalstreik, die den Druck auf die DGB-Führung aufgebaut haben, schließlich in den damaligen Besatzungszonen der westlichen Allierten einen einheitlichen eintägigen Generalstreik zu organisieren. Auch 1996 wurde die Großdemonstration von 350.000 nicht vom DGB sondern vom „Bündnis Sternmarsch gegen Sozialabbau“ angestoßen. Dadurch kam der DGB so unter Druck, dass er die Demo am Ende übernahm und auch dafür mobilisierte. Auf der Demo selber gab es eine große Offenheit gegenüber der Forderung der SAV für einen eintägigen Generalstreik. Wie groß der Druck von weiten Teilen der Basis war, zeigte sich daran, dass sich der Bundesvorstand des DGB dazu genötigt sah, eine Schaltkonferenz zu organisieren, um zu diskutieren, ob es am Tag der 2. und 3. Lesung von Kohls Umverteilungspaket zu „einer flächendeckenden, betrieblichen und öffentlich erkennbaren gemeinsamen Aktion der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommen kann“.
Der Hauptunterschied zu damals liegt sicherlich darin, dass die Gewerkschaftsführung sich noch stärker gegen eine Massenbewegung gegen eine rot-grüne  als damals gegen die Kohl-Regierung sträubt und deshalb mehr notwendig sein wird, um diese Blockade aufzubrechen. Bei allen Unterschieden zur heutigen Situation zeigt sich aber trotzdem, welche Bedeutung die Initiative von BasisaktivistInnen haben kann.
In Kombination mit örtlichen Aktionen kann Leuten, die aktiv werden wollen, eine Perspektive aufgezeigt werden.

Warum ein eintägiger Generalstreik?

Im Gegensatz zu west- und südeuropäischen Ländern gibt es in Deutschland weniger die bewusste Tradition des politischen Streiks oder gar des Generalstreiks (siehe Kasten). Die oben erwähnten Beispiele vermitteln aber eine Vorstellung von dem, was möglich und nötig ist. Es führt auch bei uns kein Weg daran vorbei, darüber zu diskutieren, wie angesichts der neuen Qualität der Attacken diese zurückgeschlagen werden können.
Schröder und seine Hintermänner in der Wirtschaft machen keinen Hehl daraus, dass sie ihre „Reformen“ durchziehen wollen und das die Agenda 2010 erst der Anfang ist. Also muss auch die Gegenwehr der Arbeitenden und Arbeitslosen heftiger sein als das, was in den letzten Jahren getan wurde.
So wichtig eine bundesweite Großdemo und lokale Aktionen bis hin zu Streiks gegen die Agenda 2010 auch sind, sie können nur der Anfang einer größeren Protestwelle von unten sein.
Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt eines deutlich: Durch Aktionen die ihnen nicht wehtun, lassen sich die Herrschenden nicht aufhalten. Nur eine starke Streikbewegung, welche die Gewinninteressen der Kapitalisten beeinträchtigt, kann gegen den sozialen Raubzug der Herrschenden etwas ausrichten. Pro Tag wird in der Bundesrepublik von Beschäftigten ein Bruttoinlandsprodukt von 3,6 Milliarden Euro erwirtschaftet. Durch den weitestgehenden Ausfall der Industrieproduktion und das Lahmlegen des öffentlichen Dienstes könnte ein 24-stündiger, branchenübergreifender Streik die herrschende Klasse da treffen, wo es ihr am meisten weh tut, beim Profit.

Machtdemonstration

Ein eintägiger bundesweiter Generalstreik in allen Betrieben und Einrichtungen, Schulen und Universitäten, verbunden mit Demonstrationen, in die auch Erwerbslose, Hausfrauen, RentnerInnen, einbezogen werden, wäre eine riesige Machtdemonstration.
Er allein würde die Pläne von Unernehmern und Regierung erschüttern. Die Agenda 2010 in ihrer jetztigen Form und in ihrem bisherigen Tempo könnte nicht durchgezogen werden.
Doch die Angriffe der Herrschenden wären damit nicht zu Ende. Von daher sind die Auswirkungen eines solchen eintägigen Generalstreiks auf die weiteren Kampfbedingungen noch wichtiger: Ein solcher Kampftag würde den unüberwindbaren Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit offen legen. Ein Generalstreik hätte große Folgen für das Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse. Er würde die Arroganz, Willkür und die Macht von Unternehmern und Regierung erschüttern und ihnen die Grenzen ihrer Macht aufzeigen. Und auf der anderen Seite würden die ArbeiterInnen, Angestellten und BeamtInnen ihre Macht erkennen und daraus enormes Selbstvertrauen ziehen, die sie fortan für jede betriebliche und überbetriebliche Auseinandersetzung nutzen würden.
Die Gewerkschaften würden dadurch aus ihrer selbstverordneten Defensive herauskommen. Vor allem die AktivistInnen in den Gewerkschaften, kämpferische Vertrauensleute und BetriebsrätInnen würden enorm Kraft und Mut tanken für ihre weitere gewerkschaftliche Arbeit. Millionen bisher Unorganisierte könnten für die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften gewonnen werden und aus Unzufriedenheit ausgetretene Mitglieder zurückgewonnen werden.
Politische Fragen, welche bisher viele nicht interessierten, weil „zu theoretisch“, würden zwischen KollegInnen diskutiert werden, weil sie sich praktisch ergeben. Sie würden sehen, dass sie und nicht irgendwelche Politiker und Manager entscheidend sind für die Gesellschaft, dass ohne sie nix läuft. Die Frage der politischen Alternative zur jetzigen Regierung würde sich in scharfer Form stellen und damit die Frage des Aufbaus einer neuen Arbeiterpartei.
Die Offenheit gegenüber alternativen und sozialistischen Ideen würde sprunghaft steigen.
Die für einen Generalstreik notwenige Selbstorganisation der arbeitenden Menschen würde zudem eine große Bedrohung für die Macht der heutigen Gewerkschaftsspitzen bedeuten, würden sich doch ihre pessimistischen und kleinkarierten Ideen als offensichtlich falsch herausstellen.
Durch die Erfahrung mit ihrer eigenen Aktivität würde die Legitimation der Gewerkschaftsführer hinterfragt werden, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, Bewegungen zu verhindern. Neue Schichten würden in der Folgezeit politisch aktiv werden, in den Gewerkschaften und darüber hinaus. Der politische Kurs des Ausverkaufs der Interessen der ArbeiterInnen durch die Gewerkschaftsführung wäre nicht mehr länger haltbar.

Politischer Impuls

Im Zuge eines Generalstreiks stellen sich für die Arbeiterbewegung auch neue Fragen. Wenn die Regierung stürzt, was wäre die Alternative zu ihr? Das Problem, dass die Arbeiterbewegung über keine politische Interessensvertretung mehr verfügt, wäre offenkundig. Aus den Gewerkschaften und anderen Organisationen der Linken wäre die Grundlage bereitet zur Formierung einer neuen politischen Partei, die sich die Interessen der breiten Masse der Bevölkerung auf die Fahne schreibt. Eine neue Arbeiterpartei würde einen Meilenstein im Neuformierungsprozess der Arbeiterbewegung darstellen. Dabei wäre von Anfang an die Diskussion über eine Gesellschaftsalternative zum Kapitalismus entscheidend.
Ziel muss nicht nur die erfolgreiche Abwehr von Angriffen der Herrschenden sein. Die Ursache dieser Entwicklung liegt im System selber, der Kampf für eine sozialistische Perspektive ist daher eine Notwendigkeit.
Falls die Regierung, ähnlich wie in Frankreich oder Österreich, sich von einer Serie von eintägigen Protestaktionen oder Massenstreiks nicht zum Rückzug zwingen lässt, müssten zwei- und mehrtägige Generalstreiks folgen. Es müssten aber vor allem auf der Grundlage dieser Massenstreiks neue politische Ausdrucksformen der Beschäftigten entwickelt werden.
Ausgehend von den Streikkomitees müsste bei einem mehrtägigen Generalstreik damit begonnen werden, die Versorgung der Bevölkerung, die Notdienste und so weiter demokratisch in die eigenen Hände der Beschäftigten zu nehmen. Ihre Existenz in den Betrieben stellt dann die Frage, wofür die Unternehmer überhaupt notwendig sind.

Politische Streiks in Deutschland

Entgegen der Annahme von Vielen, gab es in Deutschland sehr wohl schon politische Streiks, sogar Generalstreiks. So wurde die Novemberrevolution 1918 durch einen Generalstreik eingeläutet, der Sturz des Kaisers war die Folge.
Im Jahre 1920 versuchten rechte Militärs die Macht zu übernehmen („Kapp-Putsch“). Die Arbeiterklasse reagierte mit einem Generalstreik darauf, der oft begonnen wurde, bevor der „offizielle“ Aufruf der Gewerkschaftsführung verbreitet worden war. Auf dessen Höhepunkt waren zwölf Millionen Beschäftigte im Ausstand, brachten den Putsch zum Scheitern und das kapitalistische System ins Wanken.
In Folge einer dramatischen politischen und wirtschaftlichen Krise im Jahre 1923 entwickelt sich relativ spontan ein Generalstreik, der eine revolutionäre Zuspitzung zur Folge hatte. Wie drei Jahre zuvor verpasste die Arbeiterbewegung eine weitere günstige Gelegenheit die Macht zu erobern.
Nach dem zweiten Weltkrieg kam es 1948 zu einem Streik, an dem sich neun von 11,7 Millionen ArbeiterInnen in der amerikanischen und britischen Besatzungszone beteiligten. Hintergrund waren die schlechte Versorgungslage, die Währungsreform und Angriffe auf die Gewerkschaften.
Vier Jahre später kam es zu heftigen Auseinandersetzungen im Westen über das Betriebsverfassungsgesetz, wo die Macht der Gewerkschaften eingeengt wurde. Gegen den Willen der Führung des DGB gab es politisch motivierte Streiks, an denen sich Zehntausende beteiligten.
In der DDR waren Massenstreiks 1953 Auftakt für einen Arbeiteraufstand gegen das gesamte stalinistische Regime und für die Schaffung einer sozialistischen Demokratie. 
Als 1972 der sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt – in dessen Regierung es viele Hoffnungen und Illusionen seitens der Arbeiterklasse und Jugend gab – von der CDU gestürzt werden sollte, gab es („illegale“) Arbeitsniederlegungen in vielen Betrieben.
1986 wurde das Streikrecht (§116 AFG) verschärft. Die IG Metall organisierte dagegen Demonstrationen während der Arbeitszeit, sprich politische Streiks. 
1993 protestierten KollegInnen gegen die drohende Einführung von Karenztagen mit Arbeitsniederlegungen.
Als die Autokonzerne 1996 die von der Kohl-Regierung beschlossene Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall umsetzen wollten, wurde dies durch einen spontanen Streik von 100.000 MetallerInnen verhindert.
Nicht zu vergessen sind die zehnminütigen Arbeitsunterbrechungen am 14. 3. diesen Jahres. 200.000 KollegInnen folgten dem Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) gegen den damals bevorstehenden Irakkrieg.

Massenstreik und Gewerkschaften
Ein Interview mit Rosa Luxemburg

Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts kämpfte Rosa Luxemburg für politische Streiks, Massen- und Generalstreiks gegen die angepasste Politik von Gewerkschafts- und SPD-Führern. 1906 schrieb sie ihre berühmte Broschüre „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“. Später folgten weitere Artikel zu dem Thema. Alle hier verwandten Zitate sind Originalzitate aus diesen Schriften. Sie können in Form von zwei Textsammlungen über die Redaktion SOLIDARITÄT bezogen werden.

Was war die Ausgangslage deiner Schriften zu Massenstreiks?
Rosa Luxemburg: Der Kölner Gewerkschaftskongress hatte ja im Jahre 1905 die „Propagierung des Massenstreiks“ in Deutschland untersagt. [… Und:] Bei jeder großen Demonstration, die in Berlin veranstaltet wurde, hatte man das deutliche Gefühl, dass sie mit dem inneren Gedanken unternommen wurde: „Nun aber Schluss!“

Heißt das, die Demonstrationen waren gar nicht ernst gemeint von der Führung?
Geht man nicht an die Demonstrationen mit der klaren Entschlossenheit heran, die Bewegung immer weiter zu treiben und vor ihren Konsequenzen nicht zurückzuschrecken, dann ergibt sich jene Zaghaftigkeit, die der Möglichkeit jeder stürmischen Demonstrationen lieber aus dem Wege geht.

Ist es nicht sinnvoll, zunächst mit einem eintägigen Generalstreik dem Widerstand Ausdruck zu verleihen, als Startschuss für weitere Massenstreiks?
Der Massenstreik, namentlich als ein kurzer einmaliger Demonstrationsstreik, ist sicher nicht das letzte Wort der begonnenen Kampfansage. Aber er ist ebenso sicher ihr erstes Wort im gegenwärtigen Stadium.

Viele Massenstreiks in Europa zu deiner Zeit waren in ihrem direkten Erfolg relativ begrenzt.
Aber diese erste allgemeine direkte Klassenaktion wirkte gerade als solche nach Innen um so mächtiger zurück, indem sie zum ersten Mal das Klassengefühl und Klassenbewußtsein in den Millionen und aber Millionen wie durch einen elektrischen Schlag weckte. Und dieses Erwachen des Klassengefühls äußerte sich sofort darin, dass der nach Millionen zählenden proletarischen Masse ganz plötzlich scharf und schneidend die Unerträglichkeit jenes sozialen und ökonomischen Daseins zum Bewußtsein kam, das sie Jahrzehnte in den Ketten des Kapitalismus geduldig ertrug. Es beginnt daher ein spontanes allgemeines Rütteln und Zerren an diesen Ketten.

Viele Gewerkschaftsführer behaupten die Gewerkschaften wären nicht stark genug, um es heute mit der Regierung aufzunehmen.

Im Jahre 1878 betrug die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder 50.000. Nach der Theorie der heutigen Gewerkschaftsführer war diese Organisation, wie gesagt, bei weitem nicht „stark genug“, um einen heftigen politischen Kampf aufzunehmen. Die deutschen Gewerkschaften haben aber, so schwach sie damals waren, den Kampf aufgenommen – nämlich den Kampf mit dem Sozialistengesetz  –, und sie erwiesen sich nicht nur „stark genug“, aus dem Kampfe als Sieger hervorzugehen, sondern sie haben in diesem Kampfe ihre Kraft verfünffacht; sie umfassten nach dem Fall des Sozialistengesetzes im Jahre 1891 277.659 Mitglieder.

Der Kampf ist also das beste Mittel für Mitgliedergewinnung?
Dies ist aber eben die den proletarischen Klassenorganisationen entsprechende spezifische Methode des Wachstums: im Kampf sich zu erproben und aus dem Kampfe wieder reproduziert hervorzugehen.

Die Gewerkschaftsführer trennen zwischen ökonomischem und politischem Kampf und lehnen politische Streiks ab. Ist das nicht eine unzulässige und künstliche Trennung?
In der Tat. Die Trennung zwischen dem politischen und dem ökonomischen Kampf und die Verselbständigung beider ist nichts als ein künstliches, wenn auch geschichtlich bedingtes Produkt der parlamentarischen Periode. Einerseits wird hier, bei dem ruhigen, „normalen“ Gang der bürgerlichen Gesellschaft, der ökonomische Kampf zersplittert, in eine Vielheit einzelner Kämpfe in jeder Unternehmung, in jedem Produktionszweig aufgelöst. Andrer-seits wird der politische Kampf nicht durch die Masse selbst in einer direkten Aktion geführt, sondern, den Formen der bürgerlichen Gesellschaft entsprechend, auf repräsentativem Wege, durch den Druck auf die gesetzgebenden Vertretungen.

Was ist die Konsequenz daraus?
Es gibt nicht zwei verschiedene Klassenkämpfe der Arbeiterklasse, einen ökonomischen und einen politischen, sondern es gibt nur einen Klassenkampf, der gleichzeitig auf die Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Abschaffung der Ausbeutung der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet ist.