Nicht hohe Löhne, soziale Sicherungssysteme oder gar die Arbeitslosen selbst sind Schuld an der Arbeitslosigkeit sondern die kapitalistische Murkswirtschaft
von Claus Ludwig, Köln
Das Karussell dreht sich. Kaum ist ein Maßnahmen-Paket „gegen die Arbeitslosigkeit“ beschlossen, wird schon die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Nach „Hartz“ kommt die „Agenda 2010“, die reicht natürlich nicht, was Neues muss her.
Nahezu im gleichen Rhythmus steigt die Arbeitslosigkeit. Anfangs heißt es, die Maßnahmen würden die Arbeitslosigkeit massiv senken, am Ende verschlimmern sie die Situation. Mit den Plänen der Hartz-Kommission vom Herbst letzten Jahres sollte die Arbeitslosigkeit um zwei Millionen gesenkt werden, heute redet keiner mehr davon.
Umfragen zeigen, dass nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung Verbesserungen von den Plänen der Hartz- und Rürup-Kommissionen und der „Agenda 2010“ erwartet. Steigt die Arbeitslosigkeit so rapide, dass auch die tatkräftigsten Politiker nichts mehr aufhalten können? Oder sind all die gepriesenen Maßnahmen reiner Blödsinn oder dienen gar einem anderen Zweck als der Verringerung der Arbeitslosigkeit?
Die Pläne der Hartz-Kommission und die Agenda 2010 sind trotz Schröders großer Reden nichts Neues, sondern die Fortschreibung einer Politik, die schon in den ersten Jahren der Kohl-Regierung begonnen und unter Regierung Schröder-Fischer weiterentwickelt wurde. Unter Kohl wurden Leiharbeit und private Arbeitsvermittler eingeführt. Mehrfach wurden die Bezüge für Arbeitslose abgesenkt. 2000 schaffte die SPD-Grünen-Regierung die sogenannte „originäre Arbeitslosenhilfe“ ab. Diese wurde zuvor an die gezahlt, die noch kein Arbeitslosengeld bezogen hatten und zum Beispiel aus Ausbildungsgängen wie dem Lehrer-Referendariat oder Wehr- beziehungsweise Zivildienst in die Arbeitslosigkeit gerieten.
Alle Pläne haben die gleichen Kernpunkte: a) Leistungsabsenkung für Arbeitslose, b) Senkung der Arbeitskosten (Lohn- und Lohnnebenkosten) c) Arbeitszeitverlängerung, d) Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose, auch niedrig bezahlte und gering qualifizierte Jobs anzunehmen, e) Privatisierung der Arbeitslosenversicherung.
Mehr Jobs durch länger arbeiten?
Das Rentenalter soll auf 67 Jahre erhöht werden. Wirtschaftsminister Clement will die Feiertage abschaffen. Unternehmer-Funktionär Braun fordert pro Beschäftigten 500 unbezahlte Überstunden in den nächsten fünf Jahren. Der Kampf der IG Metall im Osten für die Arbeitszeitverkürzung hingegen wurde als reines Gift und Gefährdung von Arbeitsplätze dargestellt.
Es scheint, als würden uns die Politiker aller Parteien, Journalisten und Unternehmer für vollkommen irre halten oder glauben, die penetrante Wiederholung gequirlten Blödsinns würde uns schwindlig machen.
Wenn die jetzigen Beschäftigten länger arbeiten, täglich, wöchentlich, jährlich und lebenslang, dann ergibt sich daraus automatisch, dass die Unternehmen weniger Arbeitskräfte brauchen, dass sie statt neue Leute einzustellen Personal abbauen werden – bevorzugt die Leute, die sich in den Jahren zuvor durch Mehrarbeit kaputt geschuftet haben. Die Arbeit wird nicht auf mehr, sondern auf weniger Leute verteilt.
Ja, aber, würden sie sagen, wenn jemand es im Fernsehen wagen würde, ihnen zu widersprechen – was selten vorkommt, da in den Talk-Shows offensichtlich alle das gleiche erzählen müssen – ja, aber, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft würde erhöht, wenn die ArbeiterInnen und Angestellten ihren Chefs durch unbezahlte Arbeit Geld schenken und darüber würden dann neue Jobs entstehen.
Mehr Jobs durch Lohnverzicht?
Auch dieser Vorschlag ist nicht neu. In den letzten 20 Jahren stagnieren die Reallöhne, obwohl die Produktivität gestiegen ist. Heute können sämtliche Produkte billiger hergestellt werden. Die bundesdeutsche Wirtschaft ist Exportweltmeister. Obwohl die Lohnkosten im internationalen Vergleich relativ hoch sind, sind die Lohnstückkosten, die Kosten pro hergestelltem Exemplar, relativ niedrig. Grundlage dafür sind der Stand der Technologie, der Ausbildungsstand der Arbeiter und Angestellten, die Infrastruktur und so weiter.
Der deutsche Binnenmarkt bietet wegen gesunkener Kaufkraft nur begrenzte Absatzmöglichkeiten. Seit Ende der 90er Jahre gibt es auch Schwierigkeiten im Export. Grund dafür ist nicht, dass wir zu viele Feiertage haben oder zu hohe Löhne, sondern die weltweite Absatzkrise. Billig produzieren hilft nicht, wenn man die Waren trotzdem nicht verkaufen kann. So hat es in den letzten Jahren in den Niedriglohn-Regionen noch massiveren Arbeitsplatz-Abbau als in den „Hochlohnländern“ gegeben.
Aus der Sicht der Unternehmen ist die Senkung der Lohn- und Lohnnebenkosten natürlich zentral. Den Besitzern und Aktionären geht es um die Profitabilität der Firma und die wird natürlich erhöht, wenn die Kosten der Arbeit sinken. Mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze hat dies nichts zu tun. Dazu kommt, dass die Bundesrepublik nicht das einzige Land ist, in dem Maßnahmen zur Verringerung der Löhne, des Arbeitslosengeldes und der Renten durchgesetzt werden. So läuft es überall. Und wenn die Konzerne eines Landes die eingebildete „nächste Stufe der Konkurrenzfähigkeit“ erreicht haben, so werden die Nachbar-Unternehmer nachziehen, bis einer wieder mit noch umfassenderen Kürzungen vorlegt. Die Forderung des DIHK-Chefs (Deutscher Industrie- und Handelskammer) nach 500 unbezahlten Überstunden kann man auch konsequent fortschreiben: warum nicht gleich umsonst arbeiten? Dann müsste ja die Konkurrenzfähigkeit unschlagbar hoch sein.
Lohnnebenkosten – Geißel der Menschheit?
Gebetsmühlenartig fordern Unternehmer und Politiker die Senkung der Lohnnebenkosten. Das ist schlau von ihnen, denn die hohen Beiträge für die Sozialversicherung belasten auch die Beschäftigten und wer würde sich nicht wünschen, dass die Abzüge geringer werden? Doch das Ganze ist ein propagandistischer Trick. Die Lohnnebenkosten sind nichts anderes als Lohnkosten, die zur Aufrechterhaltung der Arbeitskraft dienen. Sie wären eigentlich zur Gänze von den Unternehmen zu tragen. Die deutschen Konzerne haben es schon erreicht, dass die Beschäftigten mehr und mehr Anteile an der Sozialversicherung selbst tragen müssen (Riester-Rente, Zuzahlungen für Medikamente). Die Belastung der deutschen Konzerne mit Sozialabgaben und Steuern liegt im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Während die Sozialabgaben relativ hoch sind, ist die Steuerbelastung zum Beispiel im Vergleich mit dem Unternehmer-Paradies USA recht gering.
Jetzt wollen die Konzerne – schrittweise aber möglichst schnell – ganz aus der Finanzierung der Sozialversicherung aussteigen und sämtliche Risiken den Beschäftigten, Arbeitslosen und Rentnern aufbürden. Das dient zur Verbesserung der Gewinnsituation, aber keineswegs zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Kürzungen bei Rentnern und Arbeitslosen sowie der Gesundheits-„Reform“ genannte Ausbau der Zwei-Klassen-Medizin werden keine neuen Jobs schaffen.
Mehr Jobs durch Angst?
Eine Reihe geplanter Verschärfungen der „Zumutbarkeit“ wurde für die Arbeitslosen beschlossen. Dabei geht es meistens um den Zwang zur Annahme niedrig entlohnter und qualifizierter Jobs, die mittelfristig zu einer Entwertung der eigenen Ausbildung und zum Abstieg des Lohnniveaus führen.
Dazu kommen bürokratische Maßnahmen wie die Meldepflicht sofort nach Erhalt der Kündigung und die Umkehrung der Beweislast, ob ein Job zumutbar ist. Jugendliche Arbeitslose sollen zur verstärkten Mobilität quer durch die Republik gezwungen werden. Durch Strafen und Einschüchterung kann man Menschen dazu bringen, Jobs anzunehmen, die sie normalerweise nicht annehmen würden. Doch eine wundersame Vermehrung von Arbeitsplätzen findet auch dadurch nicht statt.
Keine neuen Arbeitsplätze
Weder die Hartz-Kommission noch die „Agenda 2010“ sehen vor, Arbeitsplätze zu schaffen. Es wird von keinem Politiker der SPD-CDU-GRÜNEN-FDP vorgeschlagen, die öffentlichen Investitionen zu verstärken oder den Arbeitsplatzabbau in den öffentlichen Betrieben oder Betrieben mit staatlicher Beteiligung einzustellen. Dass in vielen Bereichen wie in den Schulen, dem Gesundheitswesen und der Altenpflege Personalmangel herrscht, der durch eine Einstellungs- und Qualifizierungsoffensive gemildert werden könnte, ist kein Thema in den Parlamentsdebatten, den Zeitungen und den Fernseh-Shows.
Von einer Reduzierung der Überstunden ist ebenso wenig die Rede wie von anderen Maßnahmen zur Verteilung der Arbeit. Die Behauptung der Regierung ist – und viele plappern dies nach als wäre es ein mathematisches Gesetz –, dass es zu wenig Arbeitsplätze gäbe, weil es den Arbeitslosen und den Beschäftigten zu gut ginge, die Arbeitsverwaltung zu ineffektiv arbeite und es für die Unternehmer aufwändig und belastend sei, Personal zu suchen und einzustellen. Daraus folge, dass man die Arbeitsverwaltung umkrempeln, den Arbeitslosen Dampf und den Unternehmern das Heuern und Feuern so einfach wie irgend möglich machen muss.
Auch wenn dies von allen möglichen sich seriös gebenden Gestalten vertreten wird: es ist und bleibt Quatsch mit Soße. Die Arbeitslosigkeit stagniert auf hohem Niveau beziehungsweise steigt, weil im gesamten öffentlichen Bereich ein permanenter Abbau stattfindet, weil es in den letzten Jahren eine Großpleite nach der nächsten – von Holzmann zu Babcock-Borsig – gegeben hat und weil viele Kleinunternehmen heimlich still und leise in Konkurs gegangen sind. Was hat das mit den Schwächen der Arbeitsvermittlung zu tun? Was kann ein Arbeitsloser, der nicht von Schwerin nach München ziehen will dafür, dass die Pleitewelle rollt?
Die wirklichen Ziele
Nun sind wir keineswegs die Einzigen, die wissen, dass weder Einschüchterung von Arbeitslosen, weder Lohnverzicht noch Arbeitszeitverlängerung Arbeitsplätze schaffen. So schlau sind Schröder, Fischer, Merkel und Stoiber auch. Für sie ist die „Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ der Vorwand, um ein ganz anderes Programm durchzusetzen. Ihre Ziele sind:
1. massiver Druck auf die Arbeitslosen, schlecht bezahlte und unsichere Jobs anzunehmen und damit eine verschärfte Konkurrenz unter den Arbeitnehmern und eine neue Stufe der Lohnabsenkungen
2. die vollständige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Unterwerfung der Menschen bis hin ins Privatleben („Mobilität“) unter die Profitinteressen der Unternehmen
3. eine „Säuberung“ der Arbeitslosenstatistik
4. die Zerlegung der Arbeitsverwaltung in profitable und nicht-profitable Häppchen und deren teilweise Privatisierung
5. die schnellere Abdrängung von Arbeitslosen in die Soziahilfe
Die Umsetzung der Pläne wird zu mehr Bürokratie in der Arbeitsverwaltung, zu einer allgemeinen Leistungsabsenkung und zu einer Zunahme ungesicherter, schlecht entlohnter Arbeitsverhältnisse führen. Wer glaubt, dies beträfe „nur“ die Arbeitslosen, der irrt gewaltig.
Das Instrumentarium des Dr. Hartz und der „Agenda 2010“ betrifft die Beschäftigten. Durch die Organisierung der Leiharbeit durch die Arbeitsämter wird es den Unternehmern schmackhaft gemacht, reguläre Arbeitsplätze abzubauen. Am Ende steht eine Abwärtsspirale von Löhnen und Sozialleistungen. Verlierer werden ArbeitnehmerInnen, Arbeitslose und Jugendliche sein.
Auch die Gewerkschaft ver.di sieht diese Gefahr: „Die Arbeitgeber könnten den Einsatz von Beschäftigten verstärkt nutzen, um die Stammbelegschaften zu reduzieren … Darüber hinaus ist zu befürchten, dass über die PSA [Personal-Service-Agenturen, sprich Leiharbeitsabteilung] ein institutionalisierter Niedriglohnsektor eröffnet wird … Die outgesourcten PSA könnten erste Schritte der Vorbereitung für die Privatisierung großer Teile der BA [Bundesanstalt für Arbeit] sein.“ („Antworten von ver.di“, ver.di-Projektgruppe Reform der Bundesanstalt für Arbeit, 28. Juni 02).
Stimmt genau. Allerdings kommt die Führung von ver.di zu dem Schluss, dass dies ja nur sein könnte, aber keineswegs beabsichtigt sein und hofft darauf, dass die Unternehmer diese Möglichkeit nicht nutzen. Nach dem Motto: „Guten Tag, Herr Straßenräuber. Hier haben sie eine neue Knarre, ist auch geladen. Wäre aber unfair, wenn sie die jetzt einsetzen würden.“
Kapitalistische Krise
Die wirtschaftlichen Probleme der Bundesrepublik haben nichts mit der „Überalterung“ der Gesellschaft zu tun oder damit, dass „wir über unsere Verhältnisse gelebt haben“ (dieser Spruch kommt meistens von denen, die zumindest weit über unseren Verhältnissen leben). Die Massenarbeitslosigkeit und die daraus folgende Krise der öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherung ist nicht das Produkt eines Mangels, sondern eines Widerspruchs der Marktwirtschaft: die Entwicklung der Produktivität führt unter dem Diktat des Profits zur Rationalisierung. Mit weniger Arbeitskräften lassen sich heute mehr Produkte herstellen als noch vor zwanzig Jahren. Diese Steigerung der Produktivität wurde unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht in eine Verteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung umgesetzt, sondern in eine Ausdünnung der Belegschaften und damit zur Steigerung der Profite der Unternehmen verwendet.
Gleichzeitig ist der Markt nicht so schnell gewachsen wie die Produktivität. Viele Firmen stecken heute in einer Absatzkrise, sie können ihre Produkte nicht mehr verkaufen. Dies betrifft sowohl die exportorientierten als auch die für den Binnenmarkt produzierenden Betriebe.
Privates Kapital ist im Gegensatz zur Ebbe in den öffentlichen Haushalten und bei der Masse der Bevölkerung reichlich vorhanden. Doch die Kapitalisten investieren nur, wo Profite winken. Und gerade durch die Steigerung der Produktivität wird der Anteil der menschlichen Arbeit an der Produktion immer geringer – dabei ist sie die einzige Quelle zu Schaffung neuer Werte und damit auch zur Schaffung der Profite der Kapitalisten. Ihre Profitmöglichkeiten sinken, riesige Mengen von Kapital werden rund um den Erdball gejagt auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten: die Kapitalisten investieren dann in den Aufkauf von Konkurrenten und ehemals öffentlicher Betriebe – und sorgen dann auch hier für Arbeitsplatzvernichtung.
Das kapitalistische System ist absurd organisiert. Heute braucht es eine internationale Kooperation, um ein T-Shirt herzustellen. In einem Land wird es gewebt, im anderen bedruckt, in einem dritten Land kommt der Marken-Aufnäher rauf. Tausende Hände sind beteiligt an Herstellung, Transport und Kommunikation. Doch der Profites landet in den wenigen Händen der Besitzer und Aktionäre. Die Produktion erfolgt also in internationaler Arbeitsteilung, in einer Form die die gesamte Gesellschaft vernetzt. Der Profit wird jedoch privat, von einigen wenigen, eingesteckt.
Während in den Firmen intern ein hohes Maß von Planung vorhanden ist, ist die Gesamtwirtschaft vollkommen ungeplant, die Konkurrenz zwischen verschiedenen Firmen belebt keineswegs das Geschäft im Sinn von brauchbaren technischen Neuerungen oder dauerhafter Steigerung des Lebensstandards, sondern führt auf chaotische Weise zur Entstehung von Überkapazitäten, zu Rationalisierung und Entlassungen.
In einer planvoll organisierten Gesellschaft wäre eine Altersstruktur wie in der Bundesrepublik kein Problem, denn die steigende Produktivität – weniger Arbeitskräfte können mehr gesellschaftlichen Reichtum herstellen – ist die Grundlage dafür, dass die Menschen immer früher in Rente und länger leben könnten. Der notwendige Anteil der Arbeit an der Lebenszeit würde sinken. Im Kapitalismus führt die Konkurrenz zu einer Aufspaltung in Menschen, die viel arbeiten müssen und Menschen, die am Arbeiten gehindert werden. Das ist enorme Verschwendung von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Reichtum. Ergebnis ist, dass RentnerInnen heute wieder die Altersarmut droht.
Wie die Arbeitslosigkeit wirklich bekämpft werden könnte
Es gibt im Prinzip drei Maßnahmen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen:
1. neue Arbeitsplätze schaffen
2. Entlassungen und Betriebsschließungen stoppen
3. die Arbeit verteilen
Es ist keineswegs so, dass es in Deutschland oder der EU nichts zu tun gäbe. Im Bildungsbereich, in der Altenpflege und im Gesundheitswesen fehlen mehrere Hunderttausende Fachkräfte. In den Altenheimen sind viele alte Menschen der industriell organisierten „satt-und-sauber“-Pflege unterworfen. In den Krankenhäusern arbeiten viele Pflegekräfte dermaßen unter Druck, dass sie auf dem besten Wege sind, selber zu PatientInnen zu werden.
Deutschland leidet auch nicht unter einem Übermaß an Wohnungen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Umweltschutz. In all diesen Bereichen wurden Arbeitsplätze abgebaut, gesellschaftlich sinnvolle Güter werden nicht produziert, Dienstleistungen nicht angeboten.
Für die privaten Konzerne und Banken zählt nicht, ob Produktion oder Dienstleistungen für die Allgemeinheit sinnvoll sind, sondern ob sie damit Profite machen können.
Unternehmer, Politiker und Medien verbreiten beharrlich das Märchen, neue Jobs würden entstehen, wenn der Preis der Arbeit gesenkt würde. Doch der einzige Effekt der gewerkschaftlichen Lohnbescheidenheit der gesamten 90er Jahre war die Stagnation beziehungsweise das Sinken der Netto-Reallöhne und ein deutlicher Niedergang des Anteils der Arbeitnehmer am Volkseinkommen und der entsprechende Anstieg des Unternehmer-Anteils. Die Parole „Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze“ bleibt richtig, auch wenn Bsirske, Peters und Co heute nichts mehr davon hören wollen. Überlässt man es den Konzernen, wird es keine neuen Jobs im größeren Maßstab geben. Dazu sind öffentliche Investitionen nötig.
Wir schlagen daher vor, eine öffentliches Investitionsprogramm zur Schaffung von einer Million Arbeitsplätzen jährlich aufzulegen, um gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Soziales, Verkehr, Umweltschutz und Wohnungsbau zu schaffen.
Angesichts der leeren öffentlichen Kassen und des „Sparzwangs“ mögen viele dies für eine Illusion halten. Mit den aktuell dem Bund, den Ländern und Gemeinden zur Verfügung stehenden Mitteln lässt sich dies auch nicht bewerkstelligen. Doch während die öffentlichen Kassen leer sind, haben Banken und Konzerne in den letzten Jahren Rekordprofite eingefahren.
Konzerne wie DaimlerChrysler bezahlen praktische keine Steuern mehr. Durch die Rücknahme der Steuergeschenke an die Unternehmer, die unter den Regierungen Kohl und Schröder erfolgt sind, durch das Eintreiben der jährlich 80 Milliarden Steuerhinterziehung, durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer wäre die Anschubfinanzierung dieses Investitions-Programmes gesichert.
Die Pleiten in kleinen Firmen gehen still und leise über die Bühne. Wieder einige Dutzend mehr Arbeitslose. Bei den großen, spektakulären Fällen wie der Holzmann AG springt der Staat ein. Schröder machte 1999 staatliche Gelder locker und „rettete“ die Arbeitsplätze. Doch solche „Rettungsaktionen“ lösen nichts. Verbunden mit dem Überleben von Holzmann war der Abbau von mehreren tausend Arbeitsplätzen, Lohnsenkungen für die verbliebenen Beschäftigten und staatliche Garantien an genau die Konzerne und Banken, die Holzmann in die Pleite haben treiben lassen, ihre Verluste aufzufangen. Heute ist Holzmann endgültig pleite, Schröders Rettungsaktion war nichts anderes als das Vermeiden des lauten Zusammenbruchs, der die ArbeiterInnen auf die Straße getrieben hätte und dessen Überleitung in den „sozialverträglichen“ langsamen Tod.
Wenn private Unternehmen nicht in der Lage sind, die Arbeitsplätze zu erhalten, dann muss Schluss sein mit der privaten Verfügung über die Produktionsmittel. Anstatt staatlicher Hilfen für Private müssen dann die von Schließung bedrohten Betriebe in öffentliches Eigentum übernommen werden, unter der demokratischen Kontrolle der Beschäftigten, der Gewerkschaften und des Staates. Für die Beschäftigten muss eine Arbeitsplatz- und Einkommensgarantie gegeben werden.
Wenn ein Weiterbetrieb des Unternehmens nicht sinnvoll ist, müssen vollwertige Ersatzarbeitsplätze angeboten werden. Eine Entschädigung darf nur auf der Grundlage erwiesener Bedürftigkeit der ehemaligen Besitzer – was nur bei echten Kleinbetrieben der Fall sein dürfte – geleistet werden, im anderen Fall sind die Betriebe entschädigungslos zu enteignen. Wenn die Kapitalisten nicht in der Lage sind, Arbeit und Einkommen zu garantieren, dann müssen sie abtreten. Die Millionen-Abfindungen, die auch Pleite-Manager und die Fehlplaner in den oberen Etagen der Banken kassieren, sind von der öffentlichen Hand einzubehalten und für den Weiterbetrieb der Firma einzusetzen.
Dazu ist eine gewerkschaftliche Strategie nötig, die sich für den Erhalt sämtlicher Arbeitsplätze einsetzt und keine Entlassungen, „um die verbliebenen Jobs zu retten“, wie es bei den scheibchenweise aufgelösten Betrieben heißt, akzeptiert.
Neben der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen ist die Verteilung der vorhandenen Arbeit nötig, für alle Beschäftigten, in großen Schritten. Ein erster Schritt wäre die allgemeine Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Die Unternehmen müssten von den Gewerkschaften dazu gezwungen werden, die gleichen Personalstunden wie vor der Arbeitszeitverkürzung zu haben, sprich die Verkürzung voll für die Neueinstellung zu verwenden.
Die Unternehmer und Politiker haben ein Interesse daran, dass wir denken, es wäre wahnsinnig kompliziert, die Arbeitslosigkeit zu verringern und man müsse dafür – von hinten durchs Knie – erst mal die Arbeitszeit verlängern, die Löhne senken und irgendwann würden als Nebenprodukt zufriedener Unternehmer auch Arbeitsplätze abfallen.
Die Wahrheit ist keineswegs kompliziert. Durch die Verteilung der Arbeit durch Verkürzung der Arbeit würden neue Stellen geschaffen werden, ob es den Unternehmern gefällt oder nicht. Die Frage ist nur, wer das bezahlt.
Durch die sofortige Einführung der 35-Stunden-Woche in allen Branchen würden rein rechnerisch über 1,5 Million Arbeitsplätze entstehen. Die 1984 in einem siebenwöchigen Streik von IG Metall und IG Druck durchgesetzte 38,5-Stunden-Woche in der Metall- und Druckindustrie, hielten zwar viele Kolleginnen und Kollegen zu Recht für einen zu kleinen Schritt, aber auch diese Maßnahme hatte beschäftigungspolitische Folgen. Mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze wurden geschaffen beziehungsweise gesichert. Rationalisierungsmaßnahmen wurden abgefedert, der Abbau in den folgenden Jahren verlangsamt.
Die Frage „wer soll das bezahlen?“ kommt sofort, wenn die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung aufgestellt wird. Die durchschnittliche Produktivität in der Industrie ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Diese Produktivitätssteigerung haben die Unternehmen eingesackt. Arbeitnehmer haben nichts davon, wenn sie schneller, besser, effektiver arbeiten. Sie rationalisieren sich selbst weg. Die Reallöhne stagnieren, der Arbeitsdruck auf die Einzelnen ist massiv gestiegen. Heute schuften viele Arbeitnehmer mehr als je zuvor, machen Überstunden, hängen sich rein, während andere daran gehindert werden zu arbeiten.
Die Arbeitszeitverkürzung haben die Beschäftigten bezahlt, die Reichen sollen jetzt den vollen Lohn- und Personalausgleich finanzieren.
Dies fällt natürlich nicht vom Himmel. Die Verkürzung der Arbeitszeit muss von unten durchgesetzt werden. Die Führungen der Gewerkschaften haben sich schon längst davon verabschiedet. Auch viele KollegInnen an der Basis sind skeptisch. Im öffentlichen Dienst wurde die Arbeitszeitverkürzung in so kleinen Schritten vorgenommen, dass die Arbeitgeber sie ohne Neueinstellungen auffangen konnten. Viele mussten erst in 39, dann in 38,5 Stunden das gleiche oder mehr leisten als vorher in 40 Stunden. Formell gab es zwar einen vollen Lohnausgleich, aber faktisch übte die ötv (Vorgängerin der Gewerkschaft ver.di im öffentlichen Dienst) mehrere Jahre „Bescheidenheit“ nach der Arbeitszeitverkürzung. So kann niemand für die Forderung mobilisiert werden.
Nötig ist eine gewerkschaftliche Offensive für eine massive Arbeitszeitverkürzung als Antwort auf die „Agenda 2010“ und die Pläne zu weiteren Lohnsenkungen und Entlassungen.
Viele werden sagen, wenn ihr die Unternehmer und Reichen so belastet wie hier vorgeschlagen, dann werden die sich verweigern, dann werden sie die Produktion einstellen, ins Ausland gehen. Das stimmt nicht in dem Ausmaß, wie es in der Propaganda der Unternehmer dargestellt wird, aber es ist mehr als nur eine leere Drohung. Doch in den letzten Jahren sind die ArbeitnehmerInnen Schritt für Schritt zurückgewichen. Sie haben auf Forderungen verzichtet, haben Rückschritte akzeptiert – und die Unternehmer sind immer gieriger geworden.
Wenn also die einzige Möglichkeit, die Unternehmer „bei Laune“ zu halten darin besteht, einen permanenten Abbau von sozialen Rechten zuzulassen, die Privatisierung der Rente, der Gesundheit, der Arbeitsvermittlung zuzulassen, schlagen wir vor darauf zu verzichten, das Kapital bei Laune zu halten.
Wir schlagen vor, die wirkliche Macht in der Gesellschaft, die Millionen arbeitender Menschen, die den Reichtum schaffen, zu organisieren und zu mobilisieren. Wenn der Kapitalismus nicht in der Lage ist, eine Zukunftsperspektive zu bieten, dann sollten wir nicht unsere Zukunft in Frage stellen, sondern den Kapitalismus.
Um das oben skizzierte Programm öffentlicher Investitionen, der Übernahme von Pleitebetrieben und steuerflüchtigen Betrieben in gesellschaftliches Eigentum zu verwirklichen, reicht eine gesetzliche Regelung nicht aus. Das muss umgesetzt werden von Millionen Beschäftigen, von einer starken und kämpferischen Arbeiterbewegung, von Gewerkschaften, die nicht die Co-Manager sind, sondern die Interessenvertretung ihrer Mitglieder.
Claus Ludwig arbeitet als Multimedia-Informatiker. Er ist aktiv bei ATTAC und Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Er ist seit der Gründung des „Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ötv (heute ver.di)“ 1996 an dieser Initiative zur Vernetzung kritischer GewerkschafterInnen beteiligt.