Nach wenigen Monaten ist die gemäßigt-islamistische Regierungspartei AKP schon schwer angeschlagen. Bei einer Abstimmung im Parlament verweigerten viele AKP-Abgeordnete der Regierung die Gefolgschaft und stimmten mit der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP gegen die Stationierung von 60.000 US-Truppen in der Südtürkei.
von Claus Ludwig, Köln
Rund 95 Prozent der türkischen Bevölkerung sind gegen den Irak-Krieg. 100.000, vor allem GewerkschafterInnen und Linke, versammelten sich zu einer der größten Demonstrationen der letzten Jahre vor dem Parlament in Ankara. Die Proteste im Hafen Iskenderun, in dem US-Militärmaterial entladen wurde, rissen nicht ab.
Nach der Parlamentsentscheidung gegen die Stationierung gab es geradezu euphorische Kommentare. Endlich Schluss mit der kriminellen Politiker-Kaste, die sich einfach von den USA kaufen lässt, endlich mal eine mutige Entscheidung im Interesse der Bevölkerung. Doch die Verladung von US-Material ging erst mal auch ohne Beschluss weiter. Nur wenige Tage später genehmigte das Parlament auf eine nochmalige Anfrage der USA Überflugrechte für US-Bomber.
Herrschende Klasse in der Klemme
Die türkischen Kapitalisten wollten diesen Krieg nicht. Sie fürchten um die wirtschaftlichen Schäden, den Aufschwung für ein unabhängiges Kurdistan und die politische Destabilisierung des Nahen Ostens. Ihre realistische Einschätzung war jedoch von Anfang an, dass die Bush-Regierung diesen Krieg führen würde. Daher setzte sie darauf, dass es besser wäre, dabei zu sein.
Erstens winkten die USA mit Kreditgarantien bis 30 Milliarden Dollar. Diese Wirtschaftshilfe braucht die Türkei, um einen finanziellen Kollaps zu verhindern. Zweitens würde eine „Neuordnung“ des Irak ohne die direkte Einmischung türkischer Truppen Risiken beinhalten. Ein Einmarsch türkischer Truppen in den Nordirak ohne Vereinbarungen mit den USA und ihren kurdischen Verbündeten könnte hingegen zu Kämpfen führen, die nicht mehr vollständig unter Kontrolle der türkischen Armee wären.
Die autonomen Kurdengebiete im Nordirak unter Kontrolle der Parteien PUK und KDP, die sich an der US-Offensive beteiligen werden, könnten noch mehr den Charakter eines Staates annehmen. Dies könnte auch den kurdischen Unabhängigkeitskampf in der Türkei anheizen. Auch auf die Erdölregionen um Kirkuk und Mossul hätte die Türkei so keinen direkten Zugriff, würde eventuell sogar von möglichen Geschäften abgekoppelt werden.
Aus dieser Sicht war das zynische Verhalten der türkischen Kapitalisten, der Militärs und der AKP logisch. Sie verhalten sich wie das Mitglied einer Verbrecherbande, das weiss, welche Folgen der geplante Bankraub haben kann, aber auf die Beute nicht verzichten und den Ausschluss aus der Gang nicht riskieren will.
Dabei hatten sie ihre Rechnung ohne die massive Anti-Kriegs-Stimmung der Bevölkerung gemacht. Diese ist übrigens sehr wenig islamisch geprägt. Parolen wie „islamische Solidarität“ waren kaum zu sehen. Stattdessen richteten sich die Proteste gegen den Imperialismus, die Allmacht der USA und gegen einen Krieg für Ölprofite.
Schon verloren
Wirtschaftlich hat die Türkei schon jetzt verloren. Die 30 Milliarden Dollar, die aus den USA kommen sollen, sind schließlich keine Geschenke, sondern erweitern den Kreditrahmen, bereiten jedoch größere Probleme für die Zukunft vor. In den letzten Jahren haben nur zwei Faktoren die Türkei vor einem Zusammenbruch wie in Argentinien bewahrt: 1. Unterstützungszahlungen aus der europäischen Emigration für viele Arme, 2. ein Aufschwung des Tourismus. Letzterer ist jetzt zu Ende gegangen. Die Buchungszahlen für 2003 sind angesichts des Krieges stark zurückgegangen. Eine Destabilisierung in Kurdistan würde die Entwicklung weitertreiben.
Die Industrieproduktion liegt nach wie vor am Boden. Weitere Privatisierungen und Deregulierung verschärfen die soziale Krise und führen zum Anstieg der Armut.
Die AKP-Regierung wird auch selbst nach dem für sie günstigsten Kriegs-Szenario – kurzer Krieg, Stationierung im Nordirak ohne Kämpfe mit kurdischen Gruppen, Beteiligung an der Ausbeutung der nordirakischen Ölgebiete – eine Regierung der Krisen sein.