Nur zwei Monate nach der Vereidigung der mit extrem knapper Mehrheit im Amt best?tigten rot-gr?nen Bundesregierung drohte Bundeskanzler Gerhard Schr?der (SPD) seinen R?cktritt an. Im sozialdemokratischen Parteivorstand erkl?rte Schr?der am 10. Dezember: ?Wer glaubt, dass er es besser kann, der soll es machen.? Eine Woche zuvor hatte er sich bereits lautstark ?ber die ?Kakophonie? (Misskl?nge) in der Regierungskoalition von SPD und Gr?nen beklagt.
Bei den Bundestagswahlen am 22. September war die von Kanzler Schr?der und Au?enminister Fischer gef?hrte Regierung gerade eben mit einem blauen Auge davon gekommen. Die Legislaturperiode dauert vier Jahre ? es ist jedoch mehr als fraglich, ob Rot-Gr?n diese Amtszeit ?berstehen wird. Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik ist eine Regierung in so kurzer Zeit so tief ins Schlamassel geraten.
von Aron Amm, Berlin
Wirtschaftskrise, Pleiten- und Entlassungswelle, Rekordverschuldung, Finanzkollaps der Bundesl?nder und Kommunen, Warnstreiks und Streikdrohungen im ?ffentlichen Dienst, Demonstrationen und Proteste gegen Aufr?stung und Kriegsvorbereitungen. In den Betrieben und Gewerkschaften, an Schulen und Universit?ten g?rt es. Gleichzeitig befinden sich Regierung und Kapital im offenen Konflikt ?ber ein einheitliches Vorgehen. Vor diesem Hintergrund sind Regierungswechsel oder vorzeitige Neuwahlen nicht auszuschlie?en.
Die Entwicklungen im Bewusstsein von ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen ? die sich bislang ?berwiegend molekular vollziehen ? gewinnen bedeutend an Tempo und kommen verst?rkt an die Oberfl?che. Schon in den gegenw?rtigen Tarifauseinandersetzungen f?r die Besch?ftigten von Bund, L?ndern und Gemeinden sieht sich die Gewerkschaftsspitze dazu gezwungen, klassenk?mpferische T?ne anzuschlagen. Nachdem die ArbeiterInnen und Jugendlichen in Italien, Spanien und anderen Teilen von Europa in den letzten zw?lf Monaten eindrucksvoll die B?hne des Klassenkampfes wieder betreten haben, beschleunigt sich auch in Deutschland die Klassenpolarisierung. Der heutigen abgehobenen und privilegierten F?hrung der Arbeiterbewegung wird es in n?chster Zeit immer weniger gelingen, die Kampfbereitschaft im Zaum zu halten und Gegenwehr abzuw?rgen.
Vor neuem Eintauchen in die Rezession
Deutschland ist die drittgr??te Wirtschaftsmacht der Welt. Innerhalb der Europ?ischen Union (EU) ist die Bundesrepubik die Nummer 1: 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der EU werden in der BRD erwirtschaftet. Aber der einstige ?konomische Koloss taumelt. Im kommenden Jahr wird die deutsche Wirtschaft bei der Steigerung des Bruttoinlandsproduktes zum vierten Mal in Folge Schlusslicht in der EU sein. Die Talfahrt auf dem B?rsenparkett stellt auch die Einbr?che in allen anderen f?hrenden Industriestaaten in den Schatten: Von Januar bis Oktober b??te der Deutsche Aktienindex (die Werte von drei?ig der gr??ten an der B?rse notierten Unternehmen) 48 Prozent ein; auch wenn der Dax sich seitdem leicht erholte, konnte er diese Verluste bis Dezember bei weitem nicht wieder wett machen.
Die Wirtschaftskrise des ?konomischen Riesen BRD gef?hrdet inzwischen ernsthaft die Zukunft der Europ?ischen W?hrungsunion. Die Neuverschuldung liegt in diesem Jahr deutlich ?ber der im Rahmen des EU-Stabilit?tspaktes vorgegebenen Grenze von drei Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (prompt bezeichnete EU-Kommissar Prodi diesen Pakt bekannterma?en als ?dumm?). Im n?chsten Jahr w?rde diese Vorgabe nur bei einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent eingehalten werden, ein Wachstum, das mittlerweile alle Konjunkturforschungsinstitute als illusorisch ansehen. Nicht nur bei der Neuverschuldung sondern auch bei der Staatsverschuldung verst??t die Bundesregierung jetzt gegen die Konvergenzkritierien. Nach Griechenland, Italien und Belgien t?rmt Deutschland als vierter EU-Staat einen Schuldenberg von mehr als der maximal zugestandenen 60 Prozent vom BIP auf (die addierten Schulden belaufen sich 2002 auf 62 Prozent). Im Zuge des kapitalistischen Niedergangs hat sich die Staatsverschuldung in Deutschland, massiv zus?tzlich belastet durch die Kosten der Wiedervereinigung, in den neunziger Jahren auf 1,2 Billionen Euro weit mehr als verdoppelt. Von diesem Schuldenberg rollt bereits eine Lawine auf die SteuerzahlerInnen zu, 170 Millionen Euro Tag f?r Tag ? nur f?r Zinsen. In Anlehnung an das Bild Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vom „kranken Mann am Bosporus“ schrieb die Financial Times am 17. November schon vom „kranken Mann in Berlin“.
Seit dem Jahr 2000 schrumpfen die Investitionen in Deutschland. Letztes Jahr brach mit dem Konsumsektor die zweite S?ule des Aufschwungs ein. Einzig der Au?enhandel hat die stagnierende deutsche Wirtschaft bislang von einer tiefen Rezession bewahrt. Ein Drittel der deutschen Wirtschaft h?ngt am Tropf des Exportmarktes. In der Autoindustrie mit 750.000 Besch?ftigten sind es sogar 70 Prozent. Damit ist die BRD in besonderem Ma? von der US-Konjunktur abh?ngig.
Nachdem die BRD-Wirtschaft bereits letztes Jahr eingebrochen war, droht in diesen Monaten ein erneuter Absturz in die Rezession. Die Industrieproduktion ging im Oktober um 2,1 Prozent zur?ck (das gr??te Minus seit M?rz 2001), nachdem die Produktion bereits im September geschrumpft war. F?r das vierte Quartal wird mittlerweile ein ?Minuswachstum? in der Industrie erwartet. ?Immer mehr Volkswirte haben daher f?r die ersten sechs Monate des kommenden Jahres alle Hoffnungen aufgegeben. Bis Mitte 2003 stehe Deutschland bestenfalls vor einer Phase der Stagnation, die durchaus in einen neuen Abschwung m?nden k?nne. ?Von einer neuen Rezession ist Deutschland nicht mehr besonders weit entfernt?, sagt denn auch Robert Prior von der HSBC Group? (Handelsblatt vom 10. Dezember 2002).
Vor diesem Hintergrund werden im Jahr 2003 42.000 Firmenkonkurse erwartet. Schon in diesem Jahr gingen 37.000 Unternehmen bankrott, darunter Gro?unternehmen wie Kirch Media, Babcock, Fairchild Dornier und Herlitz. 650.000 Besch?ftigten kostete diese Pleitenwelle der Arbeitsplatz. Allein im letzten Monat explodierten die Arbeitslosenzahlen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 230.000 auf 4,03 Millionen. Seit der Rezession in Westdeutschland Mitte der siebziger Jahre verdoppelte sich die Arbeitslosigkeit in der BRD in jeder Wirtschaftskrise. Bei der Telekom sollen 54.000 Arbeitspl?tze abgebaut werden, bei der Bahn stehen 36.000 Stellen zur Disposition, Siemens plant weltweit 35.000 Jobs zu vernichten, Alcatel-SEL will in den n?chsten zwei Jahren 10.000 Besch?ftigte loswerden…
?Das Geld ist nicht weg ? es ist ?nur? woanders?, war auf einem selbstgemalten Schild beim ersten Berliner Warnstreik anl?sslich der beginnenden Tarifrunde im ?ffentlichen Dienst am 11. Dezember zu lesen. In der Tat ist die K?rperschaftssteuer unter Rot-Gr?n zum Beispiel von einer Unternehmensbesteuerung zu einer Unternehmenssubvention verkommen: Im Jahr 2000 kassierte der Staat noch 25 Milliarden Euro, im Jahr 2001 zahlte der Fiskus unterm Strich sogar 400 Millionen Euro an die Gro?konzerne zur?ck. Eine Krankenschwester oder ein M?llwerker m?ssen heute mehr Steuern abdr?cken als DaimlerChrysler oder BMW. BMW ist im ?brigen der gr??te Industriekonzern M?nchens. W?hrend BMW im vergangenen Jahr 1,1 Milliarden Euro Nettogewinn verbuchte, ist M?nchen als drittgr??te Stadt Deutschlands bankrott. Damit ist Gerhard Schr?der der erste Kanzler, der in Zeiten massiver Zerfallserscheinungen regiert. Ein Landkreis wie Offenbach im Bundesland Hessen plant beispielsweise „nach britischem Vorbild“ 88 Schulen von privaten Firmen betreiben zu lassen und auf diesem Weg unter anderem die Ausgaben f?r die ?ffentlich Besch?ftigten zu reduzieren.
In den neunziger Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt insgesamt um 15 Prozent. Gleichzeitig verdoppelten sich die Nettogewinne, w?hrend die Lohneinkommen sanken.
Zerschlagung der Sozialversicherungssysteme droht
?Die beiden M?nner, die das Land f?hren, Gerhard Schr?der und Joschka Fischer, k?nnen sich nicht entscheiden, wie. H?chst gegens?tzliche Botschaften senden sie ins Volk. Die eine lautet: Die Lage ist ernst, wir m?ssen ein paar harte Sachen machen, aber vor grundlegenden Ver?nderungen bewahren wir euch. Deutschland kann im Prinzip so bleiben, wie es ist, der Verzicht ist ein vor?bergehendes Ph?nomen. Das ist das gewerkschaftlich-sozialdemokratische Signal. Das andere lautet: Die Lage ist ernst, wir m?ssen ein paar harte Sachen machen, aber die wirklich grundlegenden Reformen kommen erst noch. Deutschland wird nicht mehr so sein, wie es war, der ? m??ige ? Verzicht wird dauerhaft sein? (Berliner Tagesspiegel vom 11. Dezember 2002). Tats?chlich f?hrte Verzweiflung ? angesichts der Haushaltskrise und der EU-Stabilit?tspakt-Zwangsjacke ? die Feder bei den ersten Gesetzesvorlagen der neuen alten Regierungskoalition. Regierung und Unternehmerschaft streiten in aller ?ffentlichkeit ?ber eine einheitliche politische Linie.
Dennoch beugt sich das Kabinett Schr?der letztendlich eindeutig dem Druck des Kapitals. ?Das Wunder ist normalerweise keine Kategorie der Politik. Doch was gerade in Deutschlands Sozialdemokratie geschieht, sprengt alle Alltagserfahrungen des Berliner Politikbetriebs. Pl?tzlich geht all das mit der SPD, was seit Jahren als kapitalistisches Teufelszeugs gegolten hatte. Ein Niedriglohnsektor, bisher vehement bek?mpft (…) ein Arbeitnehmer-Schutzgesetz wie das gegen die Scheinselbstst?ndigkeit wird wie im Vorbeigehen auf den M?ll deutscher Sozialgeschichte gekippt. Minijobs sind nicht l?nger nur in Form weniger Stunden akzeptabel, die eine Hausfrau im Kaufhaus jobbt (…) Sogar der ideologische Popanz, dass doch auch Geringverdiener an den Segnungen einer eigenst?ndigen Rentenversicherung teilhaben und deshalb auch als Minijobber ein Recht auf eine Rente haben m?ssen, scheint sich in Luft aufzul?sen? (Handelsblatt vom 13. Dezember 2002). Das, was das Sprachrohr der mittelst?ndischen Unternehmer als ?Wunder? bezeichnet, ist nur die Best?tigung der Analyse der MarxistInnen in den neunziger Jahren: Die deutsche Sozialdemokratie ist genauso wie die britische Labour Party von einer Arbeiterpartei mit b?rgerlicher F?hrung zu einer durch und durch kapitalistischen Partei transformiert.
SPD und Gr?ne haben l?ngst die Weichen daf?r gestellt, die Krise des kapitalistischen Systems auf dem R?cken der Arbeiterklasse auszutragen. Es geht nicht um ?m??igen Verzicht?, sondern um ma?lose K?rzungen, um ein K?rzungsmassaker. Wenn die Pl?ne des Kapitals Wirklichkeit werden sollten, dann wird Deutschland in der Tat ?nicht mehr so sein, wie es war?. Alle erk?mpften sozialen Rechte stehen unter Beschuss, der ?Sozialstaat?, oder das, was von ihm noch ?brig ist, soll zerschlagen werden.
Ausgerechnet f?r die besonders unternehmernahe Tageszeitung Handelsblatt gab Bundeskanzler Schr?der am 16. Dezember eine ganzseitige Erkl?rung unter einer ?berschrift ab, die einem Versprechen gleichkommt: „Wir werden Leistungen streichen“. Eingeleitet wird Schr?ders Exklusiv-Stellungnahme mit dem Satz: „Der Kanzler geht in die Offensive: Angesichts der gegenw?rtig desolaten Lage auf dem Arbeitsmarkt und der unbefriedigenden Wachstumsaussichten setzt der Regierungschef auf Reformen vor allem bei den sozialen Sicherungssystemen.“ Diese „Reformen“ sind Konterreformen, die den Anfang vom Ende der von der Arbeiterbewegung bereits unter Bismarck im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts errungenen Sozialversicherungssysteme.
Wochenlang war die Wiedereinf?hrung der Verm?genssteuer in der Diskussion. SPD-Politiker, die in ihren Wahlk?mpfen angesichts des bundesweiten Stimmungstiefs ihre Felle davon schwimmen sahen, versuchten mit dieser Forderung zu punkten. Die Debatte ?ber diese Steuer, die sch?tzungsweise knapp 16 Milliarden Euro im Jahr in die Kassen gebracht h?tte, ist von Schr?der abrupt beendet worden. Stattdessen soll die Zinsbesteuerung ge?ndert werden. Ein weiteres Steuergeschenk an die Unternehmer, da die Neuregelung dazu f?hrt, dass die Besteuerung von Kapitaleink?nften aus Zinsen unter der Besteuerung von Arbeiterhaushalten liegen wird. Zus?tzlich ist eine gro?z?gige Amnestie f?r verm?gende Steuerfl?chtlinge geplant (unterm Strich sind kaum Mehreinnahmen f?r den Fiskus zu erwarten). W?hrend das Kapital Beifall klatschte, gaben die SPDler klein bei.
Die bisherigen Vorhaben der rot-gr?nen Bundesregierung gehen der deutschen Kapitalistenklasse noch l?ngst nicht weit genug. Trotzdem ist die arbeitende Bev?lkerung nicht nur einzelnen Angriffen ausgesetzt, sondern in den wenigen Wochen seit dem Wahltag schon mit einer Angriffswelle konfrontiert (die sp?testens nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Februar 2003 noch versch?rft wird):
?Sparpaket? in H?he von 13 Milliarden Euro: Mehrwertsteuererh?hungen, K?rzungen bei der Eigenheimzulage, Erh?hung von Arbeitslosen- und Rentenversicherungsbeitr?gen etc.
Umsetzung der Pl?ne der ?Hartz-Kommission?: Verrechnung des Arbeitslosengeldes mit dem Einkommen des Lebenspartners, drastische Ausdehnung der Leiharbeit mit Lohnabschl?gen von 20-30 Prozent in den ersten Wochen sowie einem Wegfall des K?ndigungsschutzes etc.
Einrichtung der ?R?rup-Kommission?: Wie bei ?Hartz? Bildung einer Kommission aus Regierungs- Unternehmer- und Gewerkschaftsvertretern, die den Rotstift bei den Sozialversicherungen ansetzen wollen. Ziel sind eine Aufteilung in Wahl- und Pflichtleistungen im Gesundheitswesen und eine Anhebung des Renteneinstiegsalters.
Rentenbetrug: Erh?hung der Beitr?ge zur Rentenversicherung von 19,1 auf 19,5 Prozent.
?Notpaket? im Gesundheitswesen: Nullrunde f?r ?rztInnen und Krankenh?user, Halbierung des Sterbegeldes etc., um 3,5 Milliarden Euro zus?tzlich einzusparen
Aush?hlung des Ladenschlussgesetzes: Ausdehnung der ?ffnungszeiten an den Samstagen von 16 auf 20 Uhr.
Tarifrunde im ?ffentlichen Dienst: Drohung mit Nullrunde seitens der Arbeitgeber beziehungsweise Forderung nach Lohnabsenkungen, K?rzungen bei Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Arbeitszeitverl?ngerungen und Entlassungen.
Aushebelung von Fl?chentarifvertragen: ?ffnungsklauseln beim Bundesbesoldungsrecht f?r Beamte, Diskussionen ?ber Austritte der St?dte und Gemeinden aus dem kommunalen Arbeitgeberverband des ?ffentlichen Dienstes.
Sozialkahlschlag in der Bundeshauptstadt Berlin: Ausgerechnet der Senat von SPD und PDS (der Partei des Demokratischen Sozialismus, dem Nachfolger der fr?heren stalinistischen DDR-Staatspartei) spielt bundesweit Vorreiter – Ausstieg Berlins aus dem kommunalen Arbeitgeberverband Anfang 2003 und K?ndigung der Tarifvertr?ge f?r Angestellte bis Ende 2003, Arbeitszeitverl?ngerung f?r BeamtInnen und LehrerInnen ab Februar 2003 um zwei Stunden, Streichung von 950 ErzieherInnen-Stellen bei den Kindertagesst?tten etc. Das Motto des Regierenden B?rgermeisters Klaus Wowereit (SPD) lautet dementsprechend: „Sparen bis es quietscht“.
Panik im Regierungslager
„Wenn mehr Jungen als M?dchen geboren werden, sagten fr?her die Alten, dann gibt es Krieg. Wenn die Theater Brecht spielen, dann ist: Krise. Derzeit erlebt der Mann der Zigarre, der vor ein paar Jahren, zum 100. Geburtstag zu Tode abgefeiert schien, eine kr?ftige Renaissance“ (Theaterkritiker R?diger Schaper im Feuilleton des Berliner Tagesspiegels vom 16.12.02).
Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepubik hat eine Regierung in den ersten 100 Amtstagen in solch einem dramatischen Ausma? an Unterst?tzung verloren: Laut Meinungsforschungsinstitut Forsa vom 4. Dezember w?rde die Sozialdemokratie nur noch 27 Prozent bekommen, wenn am n?chsten Sonntag Bundestagswahlen w?ren (bei den Wahlen am 22. September erhielten sie noch 38 Prozent der Stimmen). ?Ich erh?h‘ euch die Steuern, gew?hlt ist gew?hlt, ihr k?nnt mich jetzt nicht mehr feuern, das ist ja das Geile an der Demokratie? singt der Gerd Schr?der-Stimmenimitator Elmar Brandt in seinem ?Steuersong?. Seine CD ?Die Gerd-Show? belegt seit Wochen die obersten Pl?tze in den deutschen CD-Charts. ?Ich bin froh, wieder in Berlin unter der K?seglocke zu sein, im Wahlkreis werde ich ja nur beschimpft?, so dr?ckt ein SPD-Bundestagsabgeordneter (Wolfgang Grotthaus aus Oberhausen im politischen Wochenmagazin Spiegel vom 9. Dezember 2002) den Zorn in den Wahlkreisen aus. 40 Prozent derjenigen, die im September SPD gew?hlt haben, w?rden heute den Wahlurnen fernbleiben ? damit h?tte eine Abkehr von den Sozialdemokraten keinen gr??eren Zulauf f?r die Christdemokraten zur Folge.
Neben Hessen stehen am 2. Februar 2003 Landtagswahlen im Bundesland Niedersachsen an. „Geht in der aktuellen Lage auch noch das Kanzler-Heimatland verloren, schrillen in Berlin die Alarmglocken. Schr?der m?sste sich darauf einrichten, den Rest der Legislaturperiode gegen einen unionsdominierten Bundesrat ank?mpfen zu m?ssen (der Bundesrat ist neben dem Bundestag, dem nationalen Parlament, ein zweites Parlament, in dem die Regierungen der einzelnen Bundesl?nder vertreten sind. Dort hat die traditionelle gro?e b?rgerliche Partei Christlich-Demokratische Union, CDU, derzeit eine knappe Mehrheit). Nicht wenige in der Hauptstadt glauben deshalb, dass Schr?der in diesem Fall gleich bei CDU/CSU (die CSU ist die Unionspartei in Bayern) anklopfen und zur Durchsetzung der noch notwendigen Reformen eine Gro?e Koalition versuchen w?rde“ (Handelsblatt vom 13.12.02).
Wachsende Teile der Arbeiterklasse sind inzwischen vom Krisenbewusstein erfasst. L?ngst macht sich eine Stimmung breit, vom politischen Establishment im allgemeinen und von den Regierungsparteien SPD und Gr?ne im besonderen belogen und betrogen worden zu sein. Die Angst vor weiterem Arbeitsplatz- und Sozialabbau und die Wut ?ber den einseitigen Klassenkampf von oben wird die Sorge ?ber einen m?glichen Krieg gegen den Irak nicht v?llig in den Schatten stellen, gewinnt aber Woche f?r Woche, Tag f?r Tag, an Bedeutung und k?nnte in der n?chsten Zeit das beherrschende Thema sein ? zumindest solange die Bush-Regierung nicht mit Milit?rschl?gen gegen Saddam Hussein beginnt.
Die Regierung Schr?der/Fischer hat sich nicht nur in der Innenpolitik (in der Frage der leeren Staatskassen und des steigenden sozialen Fiebers) in die Krise geritten, sondern auch in der Au?enpolitik. Auch wenn Rot-Gr?n den USA bei der Nutzung der Milit?rbasen und in Sachen ?berflugrechte freie Hand gibt und ihnen bei den fortgesetzten Kriegsvorbereitungen weiter entgegenkommt, kann ihr au?enpolitischer Kurs, (deren Ausgangspunkt Schr?ders verzweifelter Versuch war, in letzter Sekunde eine verloren geglaubte Wahl doch noch zu gewinnen), der deutschen Bourgeoisie nicht gefallen. ?Die Lage war lange nicht so ernst. Es war nur ein Halbsatz des Herrn Wolfowitz, dass die USA im Fall eines Angriffs auf den Irak auch Hilfe von Awacs-Aufkl?rern der Nato erwarten; es reicht ein H?steln, und schon reagiert Rot-Gr?n mit Fiebersch?ben (…) wenn die Regierung so weitermacht, wird sie als Partner nicht mehr ernst genommen. Vom Partner in der F?hrung ist l?ngst keine Rede mehr? (Berliner Tagesspiegel vom 11. Dezember 2002).
Die rot-gr?ne Bundesregierung agiert nicht einheitlich. Die SPD-Rechte um den Seeheimer Kreis in der Partei er?rterte bereits die M?glichkeit einer Gro?en Koalition ? ohne Schr?der, sondern mit dem derzeitigen SPD-Wirtschaftsminister Clement an der Spitze. Die verschiedenen Minister fallen sich gegenseitig in aller ?ffentlichkeit in den R?cken. Die Gr?nen haben auf ihrem Parteitag Anfang Dezember ihre Parteivorsitzenden abgeschossen. Das sind allesamt keine souver?nen Handlungen zweier gerade im Amt best?tigter Regierungsparteien.
Die Protestkundgebungen der Besch?ftigten des ?ffentlichen Dienstes im Rahmen der Tarifauseinandersetzungen werden mehr und mehr zu Unmutsbekundungen gegen die Schr?der-Regierung. Die Gewerkschaftsreden auf der ver.di-Demonstration am 5. Dezember in Bremen wurden wiederholt von ?Eichel muss weg?-Sprechch?ren unterbrochen. Diese Schlachtrufe gegen den SPD-Bundesfinanzminister Hans Eichel lassen Erinnerungen an die ?Kohl muss weg?-Rufe Mitte der neunziger Jahre wach werden. Damals gipfelten die Proteste gegen die Umverteilungspolitik unter Kohl in einen 500.000 ArbeiterInnen starken Marsch auf die Hauptstadt im Sommer 1996, spontane Arbeitsniederlegungen von 100.000 MetallerInnen f?r die Verteidigung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall im Herbst 1996 und Stra?en- und Br?ckenblockaden der Bergarbeiter an Rhein und Ruhr 1997. Seinerzeit gelang es der Gewerkschaftsb?rokratie die Bewegung abzuw?rgen, in dem sie auf einen Regierungswechsel bei den anstehenden Bundestagswahlen 1998 vertr?stete. Auch wenn die Gegenwehr in diesen Tagen noch am Anfang steht, fehlt der F?hrung der Gewerkschaften heute der gleiche Spielraum zum Man?vrieren.
?Anf?nge des Klassenkampfes?
Unmittelbar nach den Bundestagswahlen begann die Tarifrunde im ?ffentlichen Dienst. (Regierung und Gewerkschaftsf?hrung hatten das Ende der Tariflaufzeit bewusst auf die Wochen nach dem Wahltermin gelegt). Die Gewerkschaftsspitze, die trotz Forderungen an der Basis in H?he von mehr als sechs Prozent Lohn- und Gehaltserh?hung nur eine drei vor dem Komma als Ziel ausgegeben hat, ist auf den enormen Druck von unten hin w?hrend der Warnstreiks gezwungen gewesen, eine deutlichere Sprache zu sprechen. So erkl?rte der Chef der gr??ten Gewerkschaft des ?ffentlichen Dienstes ver.di, Frank Bsirke, in seinen Reden auf diversen Kundgebungen: ?Was wir nicht brauchen, ist Sparen f?r Gloria (von Thurn und Taxis) und zu Gunsten der Familie Holtzbrinck mit einem gesch?tzten Familienverm?gen von f?nf bis sechs Milliarden Euro.? Daraufhin verglich der Regierungschef vom Bundesland Hessen, Roland Koch (CDU), im hessischen Landtag die Kampagne der Gewerkschaften nach einer Wiedereinf?hrung der Verm?genssteuer, die gut 15 Milliarden Euro in die Kassen bringen w?rde, mit der Judenverfolgung der Nazis: ?H?ren Sie auf, Menschen vorgaukeln zu wollen, das betreffe nur ein paar Reiche. So wie das Herr Bsirske gestern im Fernsehen gemacht hat, dass er anf?ngt Namen von Menschen zu nennen, mit so einer neuen Form von Stern auf der Brust: Das sind die reichen, die bezahlen sollen.?
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das wichtigste Blatt des deutschen Kapitals, kommentierte das am 13. Dezember folgenderma?en: ?Dies ist ein ungeh?riger Vergleich, weil die Judenverfolgung der Hitler-Zeit keinen Vergleich ertr?gt. Die sp?tere Entschuldigung Kochs war zwingend. Wer aber meint, ?Parallelen zu anderen Zeiten? m?ssten grunds?tzlich verboten sein, der beschneidet die Kraft der Geschichte als Lehrmeisterin heutiger Politik. H?tte Koch an die Anf?nge des Klassenkampfes erinnert, h?tte sich niemand aufregen d?rfen, schon gar nicht in jenen Parteien, denen einschl?gige Absichten nicht ganz fremd sind. Auch jener Kampf fing mit Vorw?rfen an Reiche an.? Diese Reaktion auf einen Gewerkschaftschef, der sich am Beginn einer Tarifauseinandersetzung einmal aufgefordert sieht, ein paar Wahrheiten offen auszusprechen, macht deutlich, dass den Repr?sentanten der herrschenden Klasse erste Schwei?perlen auf die Stirn getrieben wurden.
Zu ?Anf?ngen des Klassenkampfes? kam es in Deutschland auch schon vor der Tarifrunde im ?ffentlichen Dienst. ?ber das ganze Jahr 2002 hinweg war in einer Branche nach dem anderen eine Zunahme von Warnstreiks (im Einzelhandel, im Druckgewerbe, im Bankensektor, bei Post und Telekom) und Streiks (in der Metallindustrie und auf dem Bau) zu verzeichnen. Diese Kampfma?nahmen sind um so bemerkenswerter, weil sie in Zeiten von Wirtschaftskrise und unmittelbar vor einer Bundestagswahl stattfanden. Besonders die Arbeitsniederlegungen im Baugewerbe stechen heraus, weil in diesem Fall eine Branche, die seit Mitte der neunziger Jahre in einer tiefen Krise steckt, von einem Streik erfasst wurde.
In Deutschland haben die Streiks und Arbeitsk?mpfe noch lange nicht das Niveau der K?mpfe in Spanien, Italien, Portugal, Griechenland und anderen europ?ischen L?ndern erreicht. Daf?r ist die m?chtigste Arbeiterklasse auf dem traditionsreichsten Kontinent der internationalen Arbeiterbewegung nicht im gleichen Ma? geschw?cht worden wie die KollegInnen und Kollegen in vielen anderen L?ndern. So hat es in den letzten zwanzig Jahren keinen vergleichbaren Versuch seitens der Herrschenden gegeben, die Klasse zu schw?chen wie in Britannien unter Margret Thatcher mit ihrem Angriff auf die Bergarbeiter und damit auf die ganze britische Arbeiterbewegung. Auch wenn Kapital und Regierungen seit Mitte der neunziger Jahre sich von der ?Sozialpartnerschaft? verabschiedet haben und eine h?rtere Gangart im Klassenkampf von oben einschlagen, so existieren in Deutschland trotzdem noch bessere Arbeits- und Kampfbedingungen als in den meisten anderen f?hrenden kapitalistischen Staaten. Da Deutschland weltweit nach wie vor eine industrielle Hochburg ist, besitzt die deutsche Arbeiterklasse potenziell auch eine besonders gro?e ?konomische Kraft. Die Industriegewerkschaft Metall ist mit mehr als 2,5 Millionen Mitgliedern die zweitgr??te Einzelgewerkschaft auf diesem Planeten ? nach der deutschen ?ffentlichen Dienst-Gewerkschaft ver.di (der gewerkschaftliche Dachverband, der Deutsche Gewerkschaftsbund, z?hlt insgesamt noch acht Millionen Mitglieder).
In den Betrieben und Gewerkschaften prallen heute enorm gesteigerte Kampfbereitschaft seitens der Lohnabh?ngigen und der Ausverkauf gewerkschaftlicher Grundpositionen seitens der Gewerkschaftsb?rokratie massiv aufeinander. Die Begrenztheit der bisherigen K?mpfe ist nicht auf eine mangelnde Wut und Entschlossenheit zur?ckzuf?hren, sondern ist im Gegenteil vielmehr das Ergebnis einer um sich greifenden Angst der Gewerkschaftsspitze, gr??ere Auseinandersetzungen nicht l?nger unter Kontrolle halten zu k?nnen.
Allerdings ist inzwischen so viel Dampf im Kessel, dass es der B?rokratie immer schwerer f?llt, Kampfma?nahmen aufzuhalten. Auf Grund des Ausma?es der Wirtschaftskrise und des Umfangs von Angriffen auf alle Bereiche des Lebensstandards ? verbunden mit den Erfahrungen, die mit der Gewerkschaftsf?hrung und mit Rot-Gr?n gemacht wurden ? wird sich das Bewusstsein gro?er Teile der Arbeiterklasse sprunghaft entwickeln. Die internationalen Arbeitsk?mpfe, welche die Gewerkschaftsf?hrung bei den j?ngsten Demonstrationen bewusst nicht aufgegriffen hat, k?nnen eine bedeutende Ermutigung darstellen. Auf der bundesweiten Demonstration von ver.di am 5. Dezember in Bremen trugen Feuerwehrleute ein selbstgemaltes Transparent mit der Aufschrift: ?Englischer Arbeitskampf ist auch bei uns m?glich! Wir sind soweit. Versprochen!? Einen Warnstreik vom K?chenpersonal im Klinikum Stuttgart beschlossen die streikenden KollegInnen mit dem Lied: ?Avanti Popolo?.
Dar?ber hinaus kann auch der Unmut ?ber die fortgesetzte Aufr?stung (der ?Verteidigungshaushalt? wurde f?r 2003 erh?ht, R?stungsprojekte wie der Bau von 60 Milit?rtransportflugzeugen wurde beschlossen, die Ausgaben f?r Auslandseins?tze haben sich unter Rot-Gr?n verzehnfacht) Thema werden. Deutschland ist ? noch ? nicht Frankreich. Dennoch k?nnten sich auch deutsche ArbeiterInnen und Jugendliche bei ihren sozialen Protesten ebenso ?ber die R?stungs- und Kriegspolitik erz?rnen wie ihre franz?sischen Nachbarn: ?ber eine Gro?demo von Zehntausenden LehrerInnen, Sch?lerInnen und Eltern in Paris berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 9. Dezember: ?Lehrer, aber auch Elternverb?nde und Sch?ler bef?rchten, dass die gewachsenen Ausgaben zugunsten der Verteidigung und der inneren Sicherheit zu Lasten des Erziehungswesens gehen werden.?
Streikdrohung im ?ffentlichen Dienst
Die aktuelle Tarifrunde im ?ffentlichen Dienst k?nnte den ganzen angestauten Unmut in der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen. Ein Streik k?nnte zu einem Katalysator f?r K?mpfe gegen Betriebsschlie?ungen und Entlassungen, gegen kommunale K?rzungen und weitere Angriffe auf die Sozialversicherungen werden.
Mehr als acht Millionen sind von den Tarifverhandlungen direkt oder indirekt betroffen, zwanzig Prozent der arbeitenden Bev?lkerung in der Bundesrepublik. Die Gewerkschaften haben eine Lohnforderung von „drei Prozent plus x“ aufgestellt, das bewegt sich in der Gr??enordnung der Abschl?sse in der Industrie in diesem Jahr. Au?erdem soll der Prozess der Angleichung der Ost- an die Westgeh?lter bis 2007 abgeschlossen sein (Ein M?llmann, verheiratet, ein Kind, verdient im Westen durchschnittlich 1.789,74 Euro brutto, im Osten inklusive Zusch?sse 1579,31 Euro). Diese Forderungen sind alles andere als mobilisierend. Mobilisierend sind dagegen die Arbeitgeberprovokationen. Die Bundesregierung und die Verhandlungsf?hrer der L?nder und Kommunen treten f?r eine Nullrunde ein. F?hrende SPD-Politiker erkl?rten ?ffentlich, dass jeder Lohnprozentpunkt hunderttausend Stellen kosten w?rde. Die Arbeitgeber gehen sogar soweit, selber Einkommensabsenkungen einzufordern: K?rzungen beim Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Ma?nahmen, welche die allm?hliche Beerdigung der Fl?chentarifvertr?ge zur Folge h?tten.
Ein fauler Kompromiss kann nicht ausgeschlossen werden, um einen gr??eren Streik in letzter Sekunde noch abzuwenden. Allerdings ist der Verhandlungsspielraum f?r die Arbeitgeberseite begrenzt ? solange sie jedenfalls nicht bereit sind sich mit dem Kapital anzulegen. Konfrontiert mit leeren Kassen, Rekordschulden und Zwangsverwaltungen in einer steigenden Zahl von Kommunen steht ihnen in der Tat das Wasser bis zum Hals. Gleichzeitig kommt die Gewerkschaftsspitze zunehmend unter den Druck der Basis. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte unter der ?berschrift „Auf Konfliktkurs“ am 17. Dezember: „Noch vor ernsthaften Verhandlungen und lange vor dem Scheitern der Gespr?che hat ver.di schon mit Streiks gedroht, um die Arbeitgeber zu erpressen.“ ver.di hat „blo? ihr Organisationsinteresse im Blick und will durch einen Arbeitskampf den Mitgliederschwund bremsen.“ Allein im letzten Jahr verlor ver.di 80.000 Mitglieder. Bedeutsam ist die Tatsache, dass der Vorsitzende der Gewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, Verlauf und Ergebnis der Tarifrunde stark mit seiner Person verkn?pft hat. „Der Mann ist nicht zu beneiden“ oder „In seiner Haut m?chte ich nicht stecken“ ? so ?u?ern sich Spitzenfunktion?re anderer Gewerkschaften. In der ver.di-Vorg?ngergewerkschaft ?TV hat Unmut der Basis ?ber Tarifergebnisse Vorsitzende Monika Wulf-Mathies und Herbert Mai zumindest indirekt ihre ?mter gekostet“ (Handelsblatt vom 10.12.02). In der Tat mussten in den letzten zehn Jahren beide Vorg?nger von Bsirske auf Grund der Wut ?ber die Tarifabschl?sse 1992 (Wulf-Mathies) und 2000 (Herbert Mai) vorzeitig zur?cktreten. W?hrend sich Wulf-Mathies seinerzeit nach knapp zwei Wochen Streik ?ber das mehrheitliche Votum der Basis nach Ablehnung des Kompromisses und damit nach Streikfortsetzung hinwegsetzte, spielte bei Mai auch noch mit rein, dass die b?rokratisch vollzogene Fusion mehrerer Gewerkschaften des ?ffentlichen Dienstes zur „Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di“ vor zwei Jahren auf erheblichen Widerstand von gro?en Teilen der Mitgliedschaft stie?. Die gegenw?rtige Tarifrunde ist nun die erste wichtige Tarifrunde f?r den Gewerkschaftschef Bsirske und f?r ver.di nach der Fusion. Die Ereignisse der letzten Jahre zwangen Bsirske in seinen Reden w?hrend der Warnstreiks Bezug auf die Tarifrunde 2000 zu nehmen, und sich ein St?ck weit vom Vorgehen des damaligen Vorsitzenden Mai zu distanzieren. Au?erdem sah sich die Gewerkschaftsf?hrung gezwungen, bereits in der ersten Dezemberh?lfte zweihunderttausend Besch?ftigte in die Warnstreiks miteinzubeziehen.
Der Spiegel erinnert in seiner Ausgabe vom 9. Dezember bereits an den Arbeitskampf im ?ffentlichen Dienst von 1974, der entscheidend zum R?cktritt des damaligen Bundeskanzlers Brandt (SPD) beitrug. „Unvergessen die legend?re Tarifrunde 1974, als der schwergewichtige Gewerkschaftsboss Heinz Kluncker f?r den ?ffentlichen Dienst eine Lohnerh?hung von elf Prozent durchdr?ckte ? und damit den politischen Niedergang von Willy Brandt einleitete.“
In dieser Tarifrunde drohen den Besch?ftigten des ?ffentlichen Dienstes nicht nur weitere Einschnitte im Lebensstandard. Wenn die Arbeitgeber mit ihren Pl?nen durchkommen sollten, dann geraten Hunderttausende in eine Situation, sich privat verschulden zu m?ssen, wenn sie ihren Kindern weiterhin eine vern?nftige Ausbildung erm?glichen wollen oder wenn sie mit einem schweren Krankheitsfall in der Familie konfrontiert sein sollten. Bei weiteren Verschlechterungen im Bezug auf die Arbeitsbedingungen werden immer mehr vor der Frage stehen, ob sie ihren Job auf Dauer weiter nach gehen k?nnen.
In welchem Ma? sich die Stimmung bereits radikalisiert hat, zeigt auch die Kampfbereitschaft der BeamtInnen in dieser Tarifrunde. Der gr??te Teil der LehrerInnen, PolizistInnen oder Feuerwehrleute z?hlt in Deutschland als „Staatsdiener“ ohne Streikrecht. Der „Deutsche Beamtenbund“, der weniger als Arbeitervertretung denn als „Standesorganisation“ in Erscheinung tritt und nicht dem Deutschen Gewerkschaftsbund angeh?rt, rief f?r den 14. Dezember zu einer bundesweiten Demonstration von 40.000 BeamtInnen in Berlin auf. Forderungen nach Streikrecht f?r BeamtInnen wurden auf den verschiedenen Demonstrationen in den vergangenen Tagen laut. Auf der ersten gr??eren bundesweiten Demo in Bremen verteilten Gewerkschaften sogar eine symbolische Urkunde mit der Aufschrift: „Hiermit verleihen wir der Beamtin/dem Beamten ____ mit sofortiger Wirkung das Streikrecht auf Lebenszeit“. Es ist durchaus m?glich, dass in zuk?nftigen Tarifauseinandersetzungen in der Bundesrepublik BeamtInnen das Streikverbot in bestimmten F?llen brechen k?nnten.
In jedem Fall stehen die Zeichen im ?ffentlichen Dienst auf Sturm. Streikma?nahmen w?rden den Besch?ftigten wichtige Erfahrungen geben, das Klassenbewusstsein heben und k?nnten die Kampfbereitschaft in anderen Bereichen f?rdern. Falls die Gewerkschaftsb?rokratie einen Streik doch noch abw?rgen sollte und einen faulen Kompromiss in Kauf nimmt, h?tte dieser Schritt ? vor dem Hintergrund der innergewerschaftlichen Konflikte im ?ffentlichen Dienst in den letzten zehn Jahren ? mit Sicherheit eine enorme Polarisierung innerhalb von ver.di zur Folge. Das „Netzwerk f?r eine k?mpferische und demokratische ver.di“, einer ?berregionalen innergewerkschaftlichen Opposition, in dem auch Mitglieder der SAV (Sozialistische Alternative) eine ma?gebliche Rolle spielen, kommt hier eine zentrale Bedeutung zu.
Verallgemeinerung der Proteste notwendig
Die SAV vertritt die Position, dass gegen die Angriffe von Regierung und Kapital und gegen den drohenden Irak-Krieg Massenmobilisierungen das Gebot der Stunde sind. Die SAV setzt sich f?r einen Vollstreik im ?ffentlichen Dienst ein. Dar?ber hinaus verbreitet die SAV die Idee von einer bundesweiten gewerkschaftlichen Gro?demonstration ? einem Marsch auf Berlin ? gegen alle Angriffe der Herrschenden und f?r die Vorbereitung eines eint?gigen Generalstreiks. Im Hinblick auf die geplante bundesweite Antikriegsdemonstration am 15. Februar in Berlin macht sich die SAV daf?r stark, eine massive Beteiligung der Gewerkschaften einzufordern.
N?tig sind aber vor allem Antworten auf die politischen Fragen. Es f?hrt kein Weg daran vorbei zu erkl?ren, warum Sozialkahlschlag und Kriegspolitik die gleichen Ursachen haben. Die SAV verbindet den Kampf f?r ein sozialistisches Programm gegen die kapitalistische Krise mit der Losung f?r den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei.
„Hei?er Winter“ m?glich
Die rot-gr?ne Bundesregierung steht mit dem R?cken zur Wand. In den ersten 100 Tagen sah sie sich konfrontiert mit offen ausgetragenen Grabenk?mpfen zwischen verschiedenen Teilen der Regierungsparteien, Spekulationen ?ber die Bildung einer Gro?en Koalition, einer faktischen R?cktrittsdrohung von Bundeskanzler Schr?der und dem Scheitern der gr?nen Parteif?hrung auf ihrem j?ngsten Parteitag. Neue Hiobsbotschaften in Sachen Betriebsschlie?ungen, Massenentlassungen bei einem Gro?konzern wie bei Fiat in Italien, eine Firmenpleite wie k?rzlich bei der US-amerikanischen United Airlines, ein Krieg gegen den Irak oder eine Eskalation im Tarifkampf des ?ffentlichen Dienstes ? jede dieser m?glichen Entwicklungen k?nnte das Fortbestehen der rot-gr?nen Regierung ernsthaft gef?hrden. Mangels der Existenz einer Arbeiterpartei auf bundesweiter Ebene k?nnen bei den kommenden Landtagswahlen verheerende Niederlagen f?r SPD und Gr?ne mit vor?bergehenden Stimmenzuw?chsen f?r die traditionellen b?rgerlichen Parteien einhergehen. Trotz aller Wut und Entt?uschung im Bezug auf die PDS-Regierungspolitik in den Kommunen und auf L?nderebene (Berlin und Mecklenburg-Vorpommern) kann auch eine ?berwiegend passive Zunahme der Unterst?tzung f?r die PDS nicht ausgeschlossen werden. Allerdings wird sich in der n?chsten Phase das Interesse nach klassenk?mpferischen und antikapitalistischen Ideen bei gr??eren Schichten von ArbeiterInnen und Jugendlichen erh?hen. Da jedoch gegenw?rtig keine Ansatzpunkte auf der parteipolitischen Ebene f?r die Arbeiterklasse bestehen, wird sich die Radikalisierung verst?rkt in betrieblichen, gewerkschaftlichen und sozialen K?mpfen ausdr?cken. Denkbar sind auch gleichzeitig stattfindende Proteste gegen Sozialk?rzungen und gegen die Kriegspolitik. Falls sich die US-Regierung doch gezwungen sehen sollte, ihre Angriffspl?ne gegen den Irak zur?ckzustellen, k?nnte die soziale Frage die Antikriegsbewegung in den n?chsten Monaten in Deutschland ?berschatten. Vor diesem Hintergrund ist es m?glich, dass Deutschland in den n?chsten Wochen ein „hei?en Winter“ bevorsteht. Aus den anstehenden K?mpfen heraus k?nnen sich auch die ersten Ans?tze in Richtung neuer Arbeiterpartei entwickeln und die Idee gr??ere Verbreitung und Unterst?tzung finden.