Wahlausgang völlig offen

Sascha Stanicic, 12. September 2002

Elf Tage vor den Bundestagswahlen ist der Ausgang derselben völlig offen. Während es monatelang danach aussah, dass die Regierung Schröder/Fischer die Quittung für vier Jahre neoliberale Politik verpasst bekommt, haben die Ereignisse der letzten Wochen das Rennen wieder offen gestaltet.
 
Alle Meinungsforschungsinstituten sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU/CSU und SPD. Infratest/dimap prognostiziert ein Patt zwischen SPD/Grünen und CDU/CSU/FDP, während Emnid und Forschungsgruppe Wahlen einen einprozentigen Vorsprung für die traditionellen bürgerlichen Parteien sehen und das Allensbach-Institut einen 2,8-prozentigen Vorsprung für CDU/CSU und FDP sieht. Allensbach hatte zwar 1998 die besten Vorhersagen erarbeitet, ist aber auch als CDU/CSU-nahes Institut bekannt. Interessant ist hier, dass Allensbach seine Prognosen in dieser Woche drastisch korrigiert hat und SPD und CDU/CSU nun auch gleichauf sieht. Alle Institute außer Forsa sehen die PDS unter der 5-Prozent-Marke. Sollte die PDS aber über den Gewinn von drei Direktmandaten in den Bundestag einziehen, würde das wahrscheinlich bedeuten, dass weder rot-grün noch schwarz-gelb eine eigene Mehrheit zustande bringen würden. Eine Große Koalition ist dann nicht ausgeschlossen, wenn sie auch nicht die einzige Option ist. Eine Ampelkoalition wäre ebenso möglich, wie die Ausrufung baldiger Neuwahlen..

Die Aufholjagd der SPD wurde durch Ereignisse begünstigt, die nicht vorhersehbar waren. Die Flutkatastrophe hat ohne Zweifel der Regierung genützt, die sich als schnell und entschlossen handelnd präsentieren konnte. Vor allem aber haben sich Stoiber und die CDU/CSU dumme und peinliche Fehler in diesem Zusammenhang erlaubt.
Vor allem hilft die Positionierung gegen einen Krieg gegen den Irak und die Aussage, dass sich die Bundeswehr unter keinen Umständen an einem solchen Krieg beteiligen würde der SPD und den Grünen.
Über 80 Prozent der Bevölkerung sind in Umfragen gegen einen solchen Krieg. Viele sehen im US-Präsidenten Bush die größte Gefahr, was ja auch bei den Massenprotesten zum Bush-Besuch im Mai deutlich wurde. Dabei gehen Schröder und Fischer weiter, als es den Kapitalisten in Deutschland Recht sein kann.
Den US-Alleingang nicht mitzumachen und sich auch öffentlich dagegen zu stellen ist sehr wohl im Interesse des deutschen Kapitals. Wir haben in früheren Artikeln und Analysen mehrfach darauf hingewiesen, dass in diesem Konflikt auch die tiefer liegenden Konflikte zwischen dem Kapital in Europa und den USA zum Ausdruck kommen. Das zeigt sich auch darin, dass keine europäische Regierung uneingeschränkt dem Vorgehen von Bush Junior folgt und selbst der britische Regierungschef Tony Blair einige kritische Worte fand, bevor er sich am letzten Wochenende deutlich auf die Seite der USA geschlagen hat. Die europäischen Strategen des Kapitals sehen deutlich die unkalkulierbaren Konsequenzen eines Angriffs auf den Irak – sowohl für den gesamten Nahen Osten, der ein kurz vor der Explosion stehendes Pulverfass darstellt, als auch für ihre eigenen Länder, in denen eine massenhaft Antikriegsbewegung zu erwarten ist. Das unilaterale Vorgehen der USA ist auch nicht im Interesse der anderen kapitalistischen Mächte. Sie wollen mitreden und auch mitkämpfen, wenn solche Auseinandersetzungen ausgefochten werden. In diesem Sinne ist der Widerstand gegen Bush (wobei die EU hier keine einheitliche Position vertritt und EU-interne Spannungen zum Ausdruck kommen) auch der Versuch durch eine UNO-Führung eines möglichen Krieges größeren Einfluss darauf auszuüben. Außerdem sind die ökonomischen Interessen der USA in der Region nicht deckungsgleich mit denen der anderen imperialistischen westlichen Staaten. Diese würden lieber Geschäfte mit Bagdad machen, als es zu bombardieren. Für die USA und Großbritannien geht der Zugriff auf die irakischen Ölquellen aber nur durch den Sturz von Saddam Hussein und die Einsetzung eines US-freundlichen Regimes.
Trotzdem geht Schröder zu weit und seine Aussagen ergeben sich aus einer aus dem Wahlkampf entstandenen Eigendynamik. Tatsächlich ist die Position der CDU/CSU wohl eher Ausdruck der deutschen Kapitalinteressen. Kritik üben und einen US-Alleingang ablehnen, aber nicht die Tür zu einer möglichen Kriegsbeteiligung zuschlagen. Schröder nimmt in Kauf, dass er nach den Wahlen entweder umkippen muss und sich doch an einem Krieg beteiligen muss – das könnte durch die Konstruktion neuen Beweise gegen Saddam erreicht werden und/oder dadurch, dass man Saddam zwingt, den Einsatz der Waffeninspektoren abzulehnen, möglich ist aber auch eine indirekte Unterstützung zum Beispiel durch die Übernahme des Oberkommandos in Afghanistan – oder dass er eine Politik durchziehen muss, mit der in Widerspruch zum deutschen Kapital gerät und das Verhältnis zu den USA tatsächlich belastet.

Aber Schröders Positionierung zum drohenden Krieg gegen den Irak ist wahrscheinlich der entscheidende Grund für die wachsende Unterstützung für die SPD. Von allen Wahlkampfveranstaltungen und Kundgebungen wird berichtet, dass tosender Applaus aufkommt, wenn sich die RednerInnen gegen die US-Kriegspläne aussprechen. Es ist damit geglückt das Thema Arbeitslosigkeit in den Hintergrund zu drängen. Außerdem können so frühere SPD- und Grünen-WählerInnen, die aufgrund der unsozialen Politik und der bisherigen Kriegsbeteiligungen diesmal gar nicht oder PDS wählen wollten, doch mobilisiert werden. Dadurch konnte bei Teilen ein gewisser Anti-Stoiber-Effekt erzielt werden, was auch mit der deutlichen Positionierung der Gewerkschaftsführung für Rot-Grün zusammenhängt. Das geht aber nicht mit einer Begeisterung für Schröder einher, sondern mehr Leute haben sich entschieden, dass aus ihrer Sicht „kleinere Übel“ zu wählen.
Schröder versucht aber nicht nur solche WählerInnen zu mobilisieren. Mit seinem Gerede vom „deutschen Weg“ versucht er auch den Nationalismus zu bedienen.
Die Zahl der unentschlossenen WählerInnen ist Umfragen zufolge in den letzten Wochen deutlich gesunken.

Die raschen Veränderungen in den Meinungsumfragen drücken aber auch einen tieferliegenden Prozess aus: die Bindungen an die Parteien sind stark gelockert, was größere Schwankungen möglich macht. Das drückt wiederum die grundsätzliche Entfremdung breiter Teile der Arbeiterklasse und der Jugend von den etablierten Parteien aus.

Deshalb müssen wir sagen: der Wahlausgang ist völlig offen. Jeder Versuch eine genaue Vorhersage zu treffen wäre unter den gegebenen Bedingungen Spekulation. Eines nur ist sicher: die Arbeiterklasse, die Arbeitslosen, die Jugend, die ImmigrantInnen, die Frauen, die Alten werden die VerliererInnen sein, egal wie die Wahlen ausgehen.

Vom Standpunkt des Wiederaufbaus der Arbeiterbewegung in den nächsten Jahren wäre aber eine Fortsetzung der rot-grünen Regierungskoalition besser, denn dies würde der Sozialdemokratie nicht die Gelegenheit geben in der Opposition die soziale Rhetorik zu verstärken. Der Differenzierungsprozesse zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie würden bei einer Fortsetzung der Schröderregierung beschleunigt vonstatten gehen und die Basis für eine neue Arbeiterpartei könnte schneller entstehen. Das gilt paradoxerweise auch für eine Wahlniederlage der PDS. Wir haben immer erklärt, warum es für die Arbeiterklasse ein Vorteil ist, wenn die PDS als reformistische Partei, im Bundestag ist, denn sie hat wenigstens in einigen Fragen eine oppositionelle Haltung eingenommen (Kriegsbeteiligungen, Rentenreform etc.). Eine Rausfallen der PDS aus dem Parlament würde zweifelsohne auch eine Schicht von Linken enttäuschen und kurzzeitig frustrieren. Aber die Frage nach einer neuen linken Partei würde sich für viele linke AktivistInnen stellen, denn die PDS wäre als Projekt für eine solche Partei dann in den Augen von vielen endgültig gescheitert.