von Sascha Stanicic (August 2001)
„Alle, die an der Demonstration von 300.000 gegen den G8-Gipfel am 21. Juli diesen Jahres teilgenommen haben, werden darauf als einen historischen Tag zurückblicken – einen Höhepunkt. Danach wird nichts mehr so sein wie zuvor – in den Leben der TeilnehmerInnen, in der antikapitalistischen Bewegung oder in Italien.“ (Clare Doyle, Komitee für eine Arbeiterinternationale) Die Demonstrationen von Genua waren ein großer Erfolg für die globale Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung. Am 21. Juli demonstrierten 300.000 Menschen aus aller Welt, vor allem aber italienische ArbeiterInnen und Jugendliche – mehr als doppelt so viele wie erwartet. Damit hat die antikapitalistische Bewegung einen neuen Höhepunkt erreicht und die Reichen und Mächtigen der Welt einmal mehr in Angst und Schrecken versetzt.
Genua hat sie mit noch größerer Sorge erfüllt, als vorherige Proteste. Nicht nur wegen der Größe der Demonstrationen, sondern vor allem weil in Genua ansatzweise der Brückenschlag der antikapitalistischen AktivistInnen zur Arbeiterklasse stattfand. 90 Prozent der DemonstrantInnen kamen aus Italien. Die linksreformistische „Partei der kommunistischen Neugründung“ (Rifondazione Communista), die unabhängigen Basisgewerkschaften COBAS, die Metallarbeitergewerkschaft (Fiom) spielten eine entscheidende Rolle auf den Demonstrationen. So waren die Proteste nicht nur gegen die G8 gerichtet, sondern auch gegen die neue Rechtsregierung unter dem Medienmogul Silvio Berlusconi.
Staatsgewalt
Diese reagierte unmissverständlich auf den massenhaften Protest von unten: die Polizei griff die Demonstrationen permanent mit Tränengas an, der Demonstrant Carlo Giuliani wurde erschossen, hunderte verhaftet, verprügelt, gefoltert.
Doch die Herrschenden konnten nicht verhindern, dass die Botschaft von Genua die ganze Welt erreichte: eine andere Welt ist möglich! Eine Welt ohne Armut, Hunger und Ausbeutung.
Die Herrschenden hatten eine klare Strategie, um diese Botschaft im Geschrei über Gewaltausbrüche unhörbar zu machen. Sie setzten Polizeiprovokateure ein und ließen Faschisten auf den Demonstrationenwüten, um ein Bild der Eskalation und der Gewalt über die Medien verbreiten zu können. Damit verfolgten sie ein deutliches Ziel: sie wollten die Demonstration und die ganze antikapitalistische Bewegung in den Augen der Massen diskreditieren, sie wollten die AktivistInnen, die sich an den Demonstrationen beteiligten, einschüchtern und die Aufmärsche mit Gewalt zerschlagen, sie wollten die Bewegung in sogenannte „Gewaltlose“ und „Gewalttätige“ spalten. Diese Spaltung dient auch dazu. die politisch moderateren Teile der Bewegung in das kapitalistische Establishment weiter einzubinden.
Doch mit all ihrem Geld, ihrer Macht und Kontrolle über Zeitungen und Fernsehsender konnten die Herrschenden nicht verhindern, dass die Wahrheit sichtbar wurde. Dem Mythos, die Polizei reagiere bei solchen Demonstrationen nur auf gewalttätige Autonome wurde der Boden entzogen. Die Provokationen und die Gewalt gehen vom Staate aus und auf das Volk los!
Und ihre Heuchelei wird immer mehr Menschen bewusst: dort sitzen die Führer der sieben reichsten Wirtschaftsmächte und ihr russischer Kollege Putin zusammen und beklagen angebliche Gewalt von DemonstrantInnen. Ihre Entscheidungen und das System, das sie repräsentieren und verteidigen, lassen die Hälfte der Menschheit mit weniger als drei DM am Tag leben, ein Drittel aller Kinder an Unterernährung leiden. Der Kapitalismus übt tagtäglich brutale Gewalt an der Mehrheit der Weltbevölkerung aus. Der russische Präsident Putin ist in Tschetschenien für einen Völkermord verantwortlich, vor zwei Jahren bombardierte die NATO (Rest-) Jugoslawien – wenn sich diese Herren über Gewalt auf Demonstrationen beklagen ist das, als ob ein Mörder sich über eine Ohrfeige beschwert.
Herausforderung für die Bewegung
Für die antikapitalistische Bewegung stellt der Erfolg und der Verlauf der Ereignisse von Genua eine neue Herausforderung dar. Die Frage, wie es weitergehen soll wird weltweit von tausenden Aktiven diskutiert. Die Bewegung hat schon einiges erreicht: sie hat es geschafft die Globalisierungsfetischisten in der öffentlichen Debatte in die Defensive zu drängen, sie hat in den letzten zwei Jahren weltweit Millionen mobilisiert und sie hat begonnen die gesellschaftliche Isolierung der Linken zu durchbrechen. Aber es gibt in der Bewegung zur Zeit mehr Fragen als Antworten. Die Zukunft der Bewegung entscheidet sich mit der politischen Richtung, die die Bewegung einschlägt. Dabei stellen sich viele Fragen: was sind unsere Ziele? Mit welchen Mitteln führen wir unseren Kampf? Wer sind unsere Verbündeten und wer sind unsere Gegner? Was sind die nächsten Aufgaben?
Die Lehren von Genua
Die wichtigste Lehre aus Genua muss sein, die Verbindung zwischen den antikapitalistischen Protesten und der konkreten Gegenwehr von ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen gegen die Umsetzung der neoliberalen Politik in den Ländern, Kommunen und Betrieben zu führen. Die einsetzende Weltwirtschaftskrise wird zu Massenentlassungen und Betriebsschließungen führen. Staaten und Kommunen geraten in immer tiefere Finanzkrisen und wälzen diese durch Sozialkürzungen, Privatisierungen und Stellenabbau auf die Masse der Bevölkerung ab. Antikapitalistische AktivistInnen müssen eine Hauptaufgabe darin sehen den Widerstand vor Ort gegen solche Maßnahmen anzustoßen, zu unterstützen, zu organisieren und damit die Bewegung gegen kapitalistische Globalisierung auf breitere Beine zu stellen. Den örtlichen und betrieblichen Widerstand kann man mit den nächsten großen internationalen Mobilisierungen verbinden. Diese werden Ende Septemberin den USA die Demonstration gegen die nächste Tagung von IWF und Weltbank in Washington D.C. sein und in Europa der nächste EU-Regierungsgipfel am 14. Dezember in Brüssel (schon vorher wird es im belgischen Lüttich und Gent Demonstrationen gegen kleinere EU Tagungen geben).
Um diese Demonstrationen zu einem Erfolg zu machen ist auch eine antikapitalistische Offensive in den Gewerkschaften nötig. Diese sind die potenziell mächtigsten Organisationen, denn sie bestehen aus Millionen von Lohnabhängigen. Würden diese ihre Kraft mittels Streiks einsetzen, könnte die Bewegung ganz neue Gipfel erklimmen. Ein Generalstreik in Brüssel könnte den EU-Gipfel im Dezember unmöglich machen. Die Arbeiterklasse (die Klasse der Lohnabhängigen und Erwerbslosen) ist aufgrund ihrer Stellung in der Wirtschaft die potenziell stärkste Kraft in der Gesellschaft und die einzige, die eine grundlegende Veränderung durchsetzen kann. Deshalb sollte es ein vordringliches Ziel der antikapitalistischen Bewegung sein, von einer hauptsächlich von Jugendlichen geprägten Bewegung auch zu einer Bewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu werden. Die Einbeziehung der Gewerkschaften in die antikapitalistische Bewegung wird zur Zeit von den rechten und bürokratischen Gewerkschaftsführungen blockiert. Deshalb müssen antikapitalistische AktivistInnen in die Gewerkschaften eintreten und gemeinsam mit linken und oppositionellen GewerkschafterInnen Druck von unten machen und Anträge zur Unterstützung der Demonstration in Brüssel und zur aktiven Beteiligung am weltweiten Aktionstag gegen die WTO-Tagung am 9. November einbringen.
Sozialismus
Wenn eine andere Welt erreicht werden soll, so muss uns klar sein, dass dies nicht mit den Reichen und Mächtigen möglich ist, sondern nur gegen sie. Die Orientierung einiger VordenkerInnen der Bewegung und einiger FührerInnen von Organisationen wie ATTAC auf die Einbeziehung der Parlamente und von Regierungenweist in die falsche Richtung. Einbindung in das kapitalistische Establishment wird bedeuten, dass der Bewegung die Spitze genommen wird. Sie liefe Gefahr zu einem zahnlosen Tiger zu werden, wie es Organisationen wie die Jusos heute sind oder sich in eine staatstragende Kraft, wie es die Grünen heute sind, zu verwandeln. Die wichtigste politische Frage, die sich stellt ist aber die nach den gesellschaftlichen Zielen der Bewegung. Bei der antikapitalistischen Demonstration am 1. Mai in London konnte man auf einem Transparent „Schafft den Kapitalismus ab und ersetzt ihn durch etwas Netteres“ lesen.
Dieser Spruch drückt das vorherrschende Bewusstsein in der Bewegung aus. Die meisten wissen, wogegen sie sind, haben aber keine Vorstellung von einer alternativen Gesellschaftsform. Auch die verbreitete Losung „Eine andere Welt ist möglich“ beantwortet nicht die Frage, wie diese Welt gestaltet sein soll. Die SAV sagt: Eine andere Welt ist möglich – wenn es eine sozialistische Welt ist!“ Forderungen nach einer demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte, nach einer gerechten Verteilung von Reichtümern, nach fairem Handel zwischen industrialisierter und neokolonialer Welt sind im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft reine Utopie. Im Kapitalismus wird immer der Profit und die private Konkurrenz herrschen. Organisiert sich die Arbeiterklasse und kämpft sie entschlossen für Verbesserungen, so sind den Kapitalisten Zugeständnisse abzutrotzen, doch diese werden spätestens in der nächsten Wirtschaftskrise wieder in Frage gestellt und zurückgenommen. Der Kapitalismus ist und bleibt ein krisenhaftes System, das nicht im Interesse der Mehrheit der Weltbevölkerung einzusetzen ist. Letztlich ist wahr, worauf SozialistInnen immer hingewiesen haben: man kann nur das kontrollieren und für die Allgemeinheit einsetzen, was der Allgemeinheit auch gehört. An der Notwendigkeit der Überführung der zentralen Wirtschaftseinheiten von Banken und Konzernen in öffentliches Eigentum, an der demokratischen Kontrolle und Verwaltung dieser verstaatlichten Betriebe und an der Ausarbeitung eines demokratischen Wirtschaftsplanes zur Beendigung der Profitlogik und des Konkurrenzkampfes führt deshalb kein Weg vorbei, wenn eine andere Welt erreicht werden soll.
Mit aller Gewalt?
Die Frage, die nach Genua in der Öffentlichkeit und unter AktivistInnen am heißesten diskutiert wurde, war die sogenannte „Gewaltfrage“. Die Medien und Regierenden fordern die „GlobalisierungskritikerInnen“ fast täglich auf, sich von Gewalt zu distanzieren. Dass diese Frage eigentlich an Silvio Berlusconi und seine prügelnden Carabinieri gerichtet werden müsste, wird geflissentlich ignoriert.
Tatsache ist, dass die Gewalt von Genua von staatlicher Seite organisiert, angeheizt und geduldet wurde. Tatsache ist deshalb, dass die wichtigsteFrage, mit der sich die Aktiven der Bewegung auseinandersetzen müssen ist, wie sich Demonstrationen in Zukunft gegen Polizeigewalt und Provokateure verteidigen können. Tatsache ist auch, dass – konfrontiert mit Polizeiangriffen – einige Jugendliche zu Steinen gegriffen haben, um sich zur Wehr zu setzen oder ihrer Wut und Frustration freien Lauf zu lassen. Tatsache ist aber auch, dass es einzelne autonome und anarchistische Gruppen gibt, die Verfechter von individuellen Randaleaktionen, wie das Zerstören von Banken und Geschäften oder physische Angriffe kleiner Gruppen und Einzelpersonen auf die Polizei sind und dafür politische Argumente anführen.
Für die Bewegung stellt sich daher die Frage: mit welchen Mitteln können wir erfolgreich kämpfen und wie setzen wir diese kollektiv um? Die anzuwendenden Mittel sind nicht von den politischen Vorstellungen zu trennen, sie ergeben sich sogar daraus.
Wenn anarchistische Gruppen nicht das Vertrauen haben, die Mehrheitder Arbeiterklasse von dem Ziel einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft zu überzeugen, ergibt sich daraus eine Konzeption von radikalen Minderheitenaktionen, die stellvertretend für die Massen selber den Kapitalismus irgendwie schädigen sollen. SozialistInnen gehen davon aus, dass der Kapitalismus nur abgeschafft werden kann, wenn die Mehrheit der Arbeiterklasse durch Streiks und Generalstreiks, Betriebsbesetzungen und die Bildung von Arbeiterräten die Bühne der Geschichte betritt. Um dies zu erreichen müssen wir heute nicht den Kampf um die Macht führen, sondern erst einmal den Kampf darum, die Massen für ein antikapitalistisches und sozialistisches Programm zu gewinnen. Aktionsformen müssen daher vor dem Hintergrund entschieden werden, ob sie dabei helfen breitere Teile der Arbeiterklasse zu erreichen, zu mobilisieren und in die Bewegung einzubinden. Das kann dazu führen, dass manche Aktionsformen in bestimmten Situationen richtig und in anderen falsch sein können. Ein Prinzip ist für SozialistInnen dabei, dass auf Massenmobilisierungen gesetzt wird und nicht auf radikale Minderheitenaktionen. Wenn zum Beispiel südkoreanische ArbeiterInnen zur Verteidigung ihrer Arbeitsplätze in den Streik treten und ihre besetzten Betriebe mit Eisenstangen gegen Polizeieinsätze verteidigen, ist das genauso richtig, wie die Aktionen der belgischen Stahlarbeiter von Forges de Clabeq, die vor einigen Jahren Bulldozer gegen Polizeibarrikaden eingesetzt haben. Dies waren jedoch Massenaktionen, die von den aktiven Teilen der Arbeiterklasse selber getragen wurden und auf breite Sympathien trafen. Ähnliche Symapthien gibt es für das Anzünden von Banken oder für individuelle Angriffe auf PolizistInnen am Rande von Demonstrationen nicht (nicht zuletzt, weil davon auch ArbeiterInnen betroffen werden – die Menschen, die über einer Bank oder McDonald´s wohnen, deren Auto in Flammen aufgeht oder die ihren Job in einer zerstörten McDonald´s Filiale verlieren).
VerfechterInnen solcher Aktionen sagen, nur dadurch würde Medienresonanz erreicht (ganz nach dem Motto „jeder Stein eine Schlagzeile“), andere hoffen durch die großen Schäden Gipfeltreffen in Zukunft unmöglich, weil unfinanzierbar zu machen (wobei jeder größere Streik zu mehr wirtschaftlichem Schaden führen würde) und sehen darin einen Weg den Kapitalismus konkret zu schädigen und das staatliche Gewaltmonopol in Frage zu stellen.
Wir halten diese Argumente für falsch und in der Abwägung mit dem politischen Schaden, den individuelle Randale anrichtet, auch für wenig schwerwiegend. Schlägereien mit der Polizei und brennende McDonald´s-Filialen führen eher dazu, dass die Medien sich in ihrer Berichterstattung auf die „Gewalt“ konzentrieren und weniger über die Größe der Proteste und deren politische Ziele berichten. Die wirtschaftlichen Schäden werden von Versicherungen ausgeglichen oder durch Lohnkürzungen oder ähnliches von der Arbeiterklasse bezahlt. Jede entschlossene Massenaktion, jeder Streik, jede Straßenblockade stellt das staatliche Gewaltmonopol in Frage – aber massenhaft und kollektiv und nicht individuell und vereinzelt.
Das entscheidende Argument aber bleibt: Randale ist offensichtlich im Interesse der Herrschenden, denn sonst hätten sie in Genua keine Polizeiprovokateure eingesetzt, um genau diese Randale anzuzetteln. Es war nicht zu erkennen, ob hinter einer schwarzen Maske ein „ehrlicher“ Autonomer oder ein Polizeiprovokateur steckte. Dies kann man nicht leugnen und daraus ergibt sich auch die Antwort auf die Frage, wem die Auseinandersetzungen von Genua gedient haben. Solche Jugendlichen, die sich in ihrer Wut an Randaleaktionen beteiligt haben und solche Autonome, die diese bewusst und geplant begangen haben, helfen damit de facto – ob sie es wollen oder nicht – dem kapitalistischen Staat. Deshalb war es richtig, dass viele DemonstrationsteilnehmerInnen in Genua gegen RandaliererInnen vorgegangen sind und ihre Demonstrationsblöcke nicht für sie geöffnet haben.
Gleichzeitig sind die Grenzen zwischen individuellen Randaleaktionen und Selbstverteidigung gegen Polizeiangriffe bei Demonstrationen wie in Genua fließend. Die Fernsehbilder und entsprechenden Kommentare verschweigen natürlich die Komplexität solcher Ereignisse. So haben auch VertreterInnen der „Tute Bianche“ („Die weißen Overalls“), einer Gruppe die Gewaltlosigkeit zum Prinzip hat, erklärt, dass sie sich gegen die massiven Polizeiangriffe mit Steinen zur Wehr setzen mussten.
Wie sollen sich also Demonstrationen gegen Polizeigewalt verteidigen und welche Mittel sollen angewendet werden, um die imperialistischen Gipfeltreffen zu verhindern?
Tute Bianche
Eine Gruppe, die in den letzten zwei Jahren eine neue Aktionsform entwickelt hat sind die eben diese „Tute Bianche“. Sie stehen für eine „militante Gewaltlosigkeit“ und setzen direkt ihre Körper ein, um zum Beispiel den Zugang in abgesperrte Tagungsareale zu bekommen oder sind bei Demonstrationen in Italien in Abschiebegefängnisse eingedrungen, um diese symbolisch zu schließen. Dabei setzen sie bewusst keine offensive Gewalt ein, sondern schützen sich nur durch gepolsterte Kleidung, Helme etc. In Italien konnten sie durch ihre Aktionen eine große Medienaufmerksamkeit erlangen und waren im Kampf für die Schließung von Abschiebegefängnissen sogar erfolgreich (allerdings auf der Grundlage der Mobilisierung zehntausender DemonstrantInnen). Die Taktik der Tute Bianche beinhaltet viele richtige Aspekte: ziviler Ungehorsam, Bereitschaft zur Konfrontation, Defensivtaktik, breite Mobilisierungen. Leider vertreten sie keinerlei politisches Programm, sondern definieren sich ausschließlich durch ihre Aktionsform. Sie sind zwar der Gruppe „Ya Basta“ entsprungen, die sich an den Zapatisten orientieren, verstehen sich aber als eine Bewegung, die offen für alle diejenigen sind, die an der Aktionsform teilnehmen wollen. Ohne ein politisches Programm können die „Tute Bianche“ jedoch unmöglich zu einer Kraft werden, die der Bewegung eine Perspektive geben kann, auch wenn ihre Aktionsform viel Richtiges beinhaltet. Denn die politischen Fragen, die in der Bewegung aufkommen brauchen eine politische Antwort und die Frage der anzuwendenden Mittel ist eine taktische Frage, die im Zweifelsfall den politischen Fragen untergeordnet ist.
Für Massenaktionen
Die SAV steht für Massenmobilisierungen und kollektive Massenaktionen bei den Demonstrationen gegen die kapitalistischen Institutionen. Wir unterstützen Blockaden von Gipfeln und andere Formen direkter Aktionen, wenn sie auf der Grundlage demokratischer Entscheidungen und Massenbeteiligung stattfinden. Vor allem treten wir dafür ein, die organisierte Arbeiterbewegung für die antikapitalistischen Proteste zu gewinnen. Die effektivsten direkten Aktionen sind Streiks, Generalstreiks und Betriebsbesetzungen. Ein Generalstreik in der Stadt, in der ein Gipfeltreffen stattfindet, wäre die kraftvollste und effektivste Gegendemonstration.
Es ist auch die Verantwortung der Gewerkschaftsführung, dass die Demonstration in Genua diesen Verlauf nehmen konnte. Sie hätten die Macht nicht nur Hunderttausende, sondern Millionen auf die Straße zu bringen und die Demonstrationen durch gut organisierte und ausgestattete, massenhafte Ordnerdienste gegen Polizeiangriffe und Provokationen zu verteidigen. Und mit einer anderen Politik und einer anderen Führung könnte die Arbeiterbewegung den Jugendlichen, die aus verständlicher Wut und Frustration über die herrschenden Verhältnisse sich an einzelnen Randaleaktionen beteiligen, eine Perspektive für einen erfolgreichen, kollektiven Kampf gegen den Kapitalismus bieten.
Doch die antikapitalistische Bewegung kann nicht darauf warten, dass die Gewerkschaften von unten erneuert werden und wieder zu Kampforganisationen der Arbeiterklasse gemacht worden sind. Der Schutz von Demonstrationen ist hier und heute eine drängende Aufgabe. Es war ein Fehler, dass das Genoa Social Forum (GSF das Organisationsbündnis der Demonstration vom 21. Juli) bewusst darauf verzichtet hat, Ordnerdienste für die Demonstration zu organisieren. Es ist naiv, diese Aufgabe der Polizei zuzuschreiben, wie es ein Sprecher des GSF nach den Demonstrationen gemacht hat.
Demokratische Vorbereitungskonferenzen sollten Demonstrations- und Ordnerleitungen wählen, in denen die wichtigsten beteiligten Organisationen vertreten sind. Die Ordnerdienste sollten gut vorbereitet werden und zu ihrer Verteidigung ausgestattet werden (ähnlich der „Tute Bianche“ zum Beispiel mit Schutzkleidung, aber auch mit Schildern oder Knüppeln zur Verteidigung). Das Vorgehen auf Demonstrationen muss entsprechend der konkreten Lage vor Ort demokratisch entschieden werden (also Fragen, ob Blockaden organisiert werden können, die es den TeilnehmerInnen von Gipfeln unmöglich machen könnten, den Gipfel zu erreichen; ob versucht werden soll durch massenhaftes Vordringen der Demonstration Polizeiketten zu durchbrechen und in die abgesperrten Teile der jeweiligen Stadt vorzudringen; wie sich verhalten werden soll, falls das gelingt bzw. es Polizeiangriffe auf die Demonstration gibt etc.). Solange allen beteiligten Gruppen die Freiheit der Propaganda und eigener Aktionsformen, die nicht im direkten Widerspruch zu den Mehrheitsentscheidungen stehen, zugestanden wird, sollte dann auch von allen erwartet werden, dass sie sich an demokratisch gefasste Beschlüsse halten. Denn solche Gruppen, die der Mehrheit von DemonstrantInnen ihre individuellen Randaleaktionen aufzwingen, handeln nicht nur destruktiv, sondern auch undemokratisch und stellen sich so leider außerhalb der antikapitalistischen Bewegung. Während wir alle Opfer staatlicher Repression und Verfolgung verteidigen, treten wir dafür ein, dass in der antikapitalistischen Bewegung eine offene Auseinandersetzung über die Frage der anzuwendenden Mittel stattfindet. Manche autonome Gruppen weisen jede Kritik mit dem Vorwurf, dies würde die Bewegung spalten zurück. Wir appelieren an diese Gruppen ihre Taktik zu überdenken und sich der Diskussion zu stellen, wie die Bewegung gemeinsam und geschlossen aufgebaut werden kann. Denn die Herrschenden fürchten nicht kaputte Fensterscheiben von Banken oder Tankstellen. Das regeln schon die Versicherungen. Sie fürchten eine Massenbewegung, die sich gegen den Kapitalismus wehrt und diesen in Frage stellt. Daher versuchen sie die Bewegung zu spalten und Unruhe und Misstrauen zu säen. Am meisten fürchten sie, dass einer Tages kein Demonstrant mehr anreisen muss, um einen Gipfel lahm zu legen, weil das die Beschäftigten der jeweiligen Stadt mit einem Generalstreik selbst erledigen.