von Frank Nitzsche
Vor drei Jahren kam ein Buch in deutscher Sprache auf den Markt, das schnell auf der Spiegel-Bestellerliste zu finden war und dessen Titel bald beinahe zum gefl?gelten Wort wurde: ?Der Terror der ?konomie? (Paul Zsolnay Verlag). Die Autorin war die franz?sische Soziologin Viviane Forrester. Viviane Forrester versteht sich als linksintellektuelle Anw?ltin der Armen und der Arbeitslosen. Sie geh?rt zu dem Kreis der linken SozialwissenschaftlerInnen, die in den letzten Jahren mit Vertretern wie Pierre Bour-dieu, Jean Baudrillard, Michel Chossudovsky und anderen f?r eine kritische Auseinandersetzung mit den kapitalistischen Krisenerscheinungen standen.
Allen gemeinsam ist die Vorstellung, dass man die schlimmsten Krisenerscheinungen durch Reformen abmildern kann. Dazu werden mehr oder weniger sinnvolle Vorschl?ge (meist weniger sinnvoll) gemacht, die alle in die Richtung gehen, dass man den Niedergang der Gesellschaft zwar nicht abwenden kann, aber die schlimmsten Ungerechtigkeiten doch bitte abmildern m?ge. Diese Vorschl?ge sind bei diesen Autoren meist ziemlich d?rftig, bei Forrester fehlen sie ganz. Auf einer der letzten Seiten vom ?Terror der ?konomie? wird die Frage gestellt: ?Welche Gegenkr?fte gibt es angesichts diesen Zustandes?? Und sie antwortet: ?Keine. Ungehemmt stehen der Barbarei, den Pl?nderungen mit Samthandschuhen alle T?ren offen?.
Spekulationsfieber …
Durch Rationalisierung in der Industrie und K?rzungen im ?ffentlichen Bereich und durch das Spekulationsfieber an den B?rsen, wo gegenw?rtig h?here und schnellere Gewinne als in der realen Wirtschaft gemacht werden, w?re die Arbeit, so Forrester, heute ?berfl?ssig geworden. Der Kapitalismus brauche keine Arbeitskr?fte mehr, um den Unternehmern Profite zu bescheren.
Sie beschreibt den Finanzmarkt als ?unbest?ndigen, tr?gerischen Markt, der sich auf Phantome gr?ndet, der aber fest verankert ist, ein derart wahnsinniger Markt, dass er fast schon phantastisch ist?. Von diesem neuen, phantastischen Markt und dessen scheinbare Stabilit?t l?sst sich Forrester allerdings blenden und kommt zu dem Schluss: ?Wir erleben eine neue Epoche? (…), so (…) ?konservieren wir etwas, was zu einem Mythos geworden ist, und zwar zum erhabensten Mythos, den es gibt: dem Mythos, dass Arbeit der unverzichtbare Antrieb des privaten wie des ?ffentlichen R?derwerks unserer Gesellschaft ist.?
Doch dass die Finanzm?rkte nicht so phantastisch sind, haben die Kurseinbr?che an diversen Finanzm?rkten in diesem Jahr des ?fteren bewiesen. Einbr?che wie beim Nasdaq, der US-Technologieb?rse, im April waren ein erstes Wetterleuchten. Im Oktober sind der Nasdaq um 40 Prozent, der deutsche Nemax sogar um 50 Prozent gegen?ber ihrem Rekordhoch im M?rz eingest?rzt. Verluste, bei denen Anleger Milliarden verloren, zeigen die Instabilit?t der Finanzm?rkte. Die Kurse haben sich die letzten Male zwar immer wieder ?erholt?, aber selbst b?rgerliche Finanzexperten sprechen davon, dass nicht gen?gend Werte vernichtet wurden, um die v?llig ?berbewerteten Finanzm?rkte auf das Niveau der Realwirtschaft zur?ckzubringen. Ein wirklicher Crash steht also noch aus, da die Realwirtschaft seit 1980 zwar um 80 Prozent gewachsen ist, die B?rsenwerte der Unternehmen aber um 1032 Prozent, was besonders auf das Spekulationsfieber in den Neunzigern zur?ckzuf?hren ist.
Dies hat seine Ursachen in der verzweifelten Suche der Unternehmer nach den profitabelsten Anlagem?glichkeiten. Nachdem der Nachkriegsaufschwung in den Siebzigern endete, konnten die Produktivkr?fte nicht mehr im gleichen Ma?e weiterentwickelt werden wie zwischen 1950 und der ersten gro?en internationalen Rezession 1973/74. Ob Produktivit?t, Wachstumsraten oder Besch?ftigtenzahlen ? in den letzten 25 Jahren war der Kapitalismus nicht in der Lage, die Wirtschaft ?hnlich weiter zu bringen wie in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Konkurrenz versch?rfte sich im internationalen Wettbewerb, Betriebsschlie?ungen und Zusammenlegungen (Stichwort Fusionsfieber) pr?gten das Bild. Immer mehr Kapital str?mte in die Finanzm?rkte, da dort h?here Gewinne winkten. Der damit einhergehende Anstieg der Arbeitslosigkeit wurde zu einem Dauerph?nomen und Wissenschaftler und Politiker diskutierten ?ber die Frage: ?Geht uns die Arbeit aus??
Von diesen Entwicklungen beeindruckt stellt Forrester fest: ?Die Arbeitermassen, die Bev?lkerungsmassen, auf die sie (die Unternehmer) angewiesen waren und die Druck auf sie aus?ben konnten, werden f?r die private Wirtschaft immer entbehrlicher und k?nnen sie kaum noch beeindrucken.?
… und menschliche Arbeitskraft
Forrester irrt sich, denn trotz dieser Entwicklungen bleibt es weiterhin richtig, dass nur durch die menschliche Arbeitskraft neue Werte geschaffen werden. Geld arbeitet nicht. Der Kapitalismus funktioniert auf der Aneignung unbezahlter Arbeit. Der unbezahlte Teil der Arbeit geht in die Taschen der Unternehmer, macht den Profit aus, den die Kapitalisten f?r Investitionen, Spekulationen oder f?r ihren Luxus verwenden. Letztendlich untergr?bt der Kapitalismus langfristig seine eigene wirtschaftliche Basis, da der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen gesellschaftlicher Produktionsweise und privater Aneignungsweise bestehen bleibt.
Richtig ist, dass Menschen durch die technologischen Fortschritte weniger arbeiten m?ssen. Aber anstatt alle weniger arbeiten zu lassen, werden einige entlassen und die anderen arbeiten daf?r weiterhin so viel wie vorher. Deshalb ist nicht die menschliche Arbeit ?berfl?ssig, sondern das kapitalistische Profitsystem, das Arbeitslosigkeit schafft.
Globalisierung und Multis
Das ideologische Dauerfeuer der Unternehmer in den Neunzigern zeigt auch bei Viviane Forrester seine Wirkung. Die ArbeiterInnen w?ren angesichts der Globalisierung machtlos, Multis sind nicht mehr durch nationale Gesetzgebung zu beeindrucken und so weiter.
Die heutigen Produktionsbedingungen beschreibt sie als die ?Welt des multinationalen, des transnationalen, des absoluten Liberalismus, der Globalisierung, der Deregulierung, des Virtuellen.?
In dieser Aussage kommt das Gef?hl der Machtlosigkeit gegen?ber den heutigen politischen Verh?ltnissen zum Ausdruck. Aber es ist Unsinn von frei schwebenden Multis, deren Heimatbasis irgendwo in den Wolken sein soll, zu sprechen und ein Bild zu malen, in dem Nationalstaaten angeblich keine Rolle mehr spielen und die Politik den Prozessen hilflos ausgeliefert w?re. Der Kampf gegen den Kapitalismus wird internationaler. Als das Renault-Werk im belgischen Vilvoorde vor 4 Jahren vor der Schlie?ung stand, setzten sich die Besch?ftigten ?ber Grenzen hinweg machtvoll zur Wehr. Die internationalen Demonstrationen gegen EU-Gipfel und Weltbanktreffen in Amsterdam, K?ln, Seattle und Prag, sind weitere Beispiele.
Da Forrester von vornherein kapituliert und meint, dass man zu der ?sozialen Marktwirtschaft? nicht mehr zur?ckkehren k?nne, schl?gt sie vor, die Arbeit nicht mehr als eine soziale Norm anzusehen, die dem Menschen eine soziale Stellung in der Gesellschaft verschafft, sondern Arbeitslosigkeit als Normalit?t zu begreifen, um so die Arbeitslosen nicht mehr als Au?enseiter anzusehen: ?W?re es nicht sinnvoller statt Mitleid (gegen?ber den Arbeitslosen) ein k?hnes, kompromissloses Gef?hl ihnen gegen?ber zu erhoffen, n?mlich Respekt?? Aber erstens: kann man sich f?r Respekt nichts kaufen und zweitens ist – selbstbestimmte – Arbeit ein Lebensbed?rfnis.
Arbeit als Selbstverwirklichung
Auf alle F?lle ist der Mensch nur dann wirklich frei, wenn er sich selbst verwirklichen kann, wenn er nicht nur Individuum ist, sondern eine eigene Individualit?t m?glich wird ? wenn er nicht nur frei von etwas, sondern auch frei f?r etwas ist.
Die Arbeit ist f?r den Menschen eine M?glichkeit sich selbst zu verwirklichen, denn der Mensch muss produktiv t?tig sein, um sich am Leben zu erhalten. Auch wenn die Arbeit eine Grundbedingung des menschlichen Lebens ist und ein Faktor f?r die Selbstverwirklichung, gilt heute, dass der Arbeiter sich erst nach seiner Arbeit frei f?hlt. Das hat seine Gr?nde: In der kapitalistischen Produktion hat der einzelne Arbeiter keinen Bezug zu seinen Produkten. Marx und Engels sprachen davon, dass der Mensch seiner eigenen sch?pferischen Kraft entfremdet w?re.
Marx und Engels
Arbeitslosigkeit bedeutet unproduktiv zu sein und keinen Beitrag f?r den Erhalt der Gesellschaft liefern zu k?nnen. Deshalb wurde Arbeitslosigkeit auch immer als Makel angesehen. Trotz Arbeitslosigkeit respektiert zu werden hilft vielleicht den Betroffenen ein wenig, aber sie werden sich trotzdem als ?unn?tz? ansehen.
In ?Kritik des Gothaer Programms? f?hrt Karl Marx aus, welchen Stellenwert Arbeit in einer sozialistischen Gesellschaft haben wird: ?nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und k?rperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbed?rfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkr?fte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller flie?en ? erst dann kann der enge b?rgerliche Rechtshorizont ganz ?berschritten werden und die Gesellschaft sich auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen F?higkeiten, jedem nach seinen Bed?rfnissen!?
Die Aufgabe besteht heute darin, die Mechanismen des Kapitalismus aufzudecken und den Menschen eine sozialistische Perspektive aufzuzeigen und nicht darin die Arbeitslosigkeit als dauerhafte Erscheinung, gegen die man machtlos ist, zu pr?sentieren.
Die St?rken von Forrester liegen in ihrem kompromisslosen Eintreten f?r die Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedr?ngt worden sind und in der Beschreibung ihrer sozialen Lage und ihrer Gef?hle. Auch beschreibt sie in ?Terror der ?konomie? sehr gut, wie sich das politische Establishment den Interessen der Unternehmer unterordnet und heuchlerisch immer wieder die Schaffung von neuen Arbeitspl?tzen predigt.
Letztendlich hat sie aber keine Vorstellung, wie man die sozialen Probleme in den Griff bekommen kann und dass es eine Alternative zum kapitalistischen System gibt.