Italiens Generalstreik am 16. April 2002 — ein Tag wie kein anderer

Clare Doyle im Socialist vom 26. April 2002

 
Wie unsere Berichte aus erster Hand völlig klar machen, war der 16. April 2002 in Italien kein Tag wie jeder andere. Der erste achtstündige Generalstreik im Land seit 20 Jahren wurde gut befolgt. Die Reaktion auf den Streikaufruf übertraf alle Erwartungen. Etwas über 8 Millionen ArbeiterInnen sind Mitglieder einer Gewerkschaft, aber mehr als 13 Millionen streikten — in den Autofabriken, auf den Flughäfen, in den Regierungsbüros, den Callcenters, den Supermärkten.
Die Gebührenstellen auf den Autobahnen waren verwaist und keine Schiffe, Busse, Flugzeuge, Züge, Straßenbahnen oder Taxis fuhren, sobald alle zu den Massendemonstrationen gebracht waren, die im ganzen Land durchgeführt wurden. Auf den Bahnhöfen wurde jeder Zug als „fällt aus“ angekündigt und Busse in den Depots trugen die Aufschrift „im Streik“. In Ancona organisierten AktivistInnen von „No Global“ eine „Blockade“, nur um sicherzugehen, dass nichts aus dem Hafen abtransportiert wurde.
Wichtige Notdienste wurden durch Vereinbarungen mit den Gewerkschaften aufrecht erhalten, aber viele Fachkräfte, die meinten, dass sie nicht streiken könnten, spendeten ein Tagesgehalt aus Solidarität mit den Streikenden. In Rom hielten Soldaten, unter ihnen viele Wehrpflichtige und mindestens ein Marschall und ein Major eine Mahnwache an den Toren des Chigi-Palastes des Ministerpräsidenten ab, um ein besseres Abkommen zu verlangen. Auf den Gerichten von Mailand weigerten sich Teile der Carabinieri und Polizei, normal zu arbeiten. Gefängnisbeamte machten auch Arbeitskampfmaßnahmen und ein Beschäftigter an der Börse sagte Journalisten, er „arbeite ohne etwas zu tun“!
TheaterarbeiterInnen und KünstlerInnen nahmen an den Demonstrationen teil. Fernsehstationen waren fast alle außer Betrieb. Selbst die ArbeiterInnen bei den Seifenopern streikten. Drei Zeitungen aus Berlusconis Stall erschienen — gedruckt in einer Streikbrecherfirma, wo kürzlich GewerkschaftsaktivistInnen gefeuert worden waren. Eine andere — „Libero“ wurde zum Druck in die Schweiz geschickt, aber die ArbeiterInnen dort weigerten sich, die Arbeit ihrer streikenden KollegInnen in Italien zu machen.
Mindestens 3 Millionen Menschen nahmen an den größten Demonstrationen teil, die man je in den großen Städten im ganzen Land sehen konnte. In Palermo waren es laut OrganisatorInnen 100.000. Im Durchschnitt streikten in der ganzen Provinz Sizilien 95 Prozent der ArbeiterInnen — von 100 Prozent bei Italtel di Carini bis 80 Prozent der Staatsangestellten. Weitere Tausende demonstrierten in einer anderen sizilianischen Stadt — Catania. Selbst auf der Insel Sardinien waren 50.000 auf den Straßen und in Padua 100.000. In Turin, der Heimat von Fiat waren es bis zu 150.000.
In Florenz gab es wie wahrscheinlich in den meisten Regionalhauptstädten weit mehr DemonstrantInnen als EinwohnerInnen — möglicherweise ganze 400.000! Hier hielt Cofferati, der Führer des größten Gewerkschaftsdachverbands — CGIL —eine kämpferische Rede. „Wir werden so lange wie nötig auf dem (Kampf)Feld bleiben. Regierung und Arbeitgeber sollen zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht aufhören werden, bis unsere Ziele erreicht sind.“
Auf der Massendemonstration im Zentrum von Mailand beschrieb Pezzotta, der Führer vom CISL-Dachverband den Versuch der Änderung von Artikel 18 des Arbeitsgesetz als „Nicht eine Reform, sondern eine Konterreform. Es ist mit dem vergleichbar, was Thatcher und Reagan machten”. Er beharrte: „Wir akzeptieren die soziale Marktwirtschaft nicht als unser Modell.”
In Bologna, wo es laut Gewerkschaften 350.000 DemonstrantInnen gab, wurde der Sekretär des gemäßigten UIL-Dachverbands, Angeletti, auch kämpferisch: „Wir haben zum Streik aufgerufen und das Land ist zum Stilstand gekommen. Präsident (des Regierungsrates) Berlusconi sagt, dass das Land ihn nicht verstehe, aber er versteht das Land nicht, das er vertritt!”
Mindestens 200 Busse und zahlreiche Züge und Autos brachten Streikende von außerhalb nach Rom, um sich den Hunderttausenden auf der Straße anzuschließen. Erneut gab es die Karikaturen und riesigen Bilder von Berlusconi als Napoleon und sogar als Papst. Eines der Posters auf der Demonstration bezog sich auf Berlusconis Vorwurf, die Väter würden gegen ihre Söhne streiken, und lautete: „Im Namen des Vaters, des Sohnes oder der Confindustria (des Unternehmerverbandes)!”. (In der Zentrale von Arzano, der vom Präsident der Confindustria D’Amato selbst geleiteten Firma, trat der Großteil des Personals in den Streik. Nur drei ArbeiterInnen gingen rein, die von ihren KollegInnen draußen ausgepfiffen und -gebuht wurden!).

Euphorische Stimmung

Die überwiegend festliche Stimmung an dem Tag entstammte zweifellos dem Gefühl, dass, besonders nach der Demonstration in Rom [am 23. März], die Regierung schon auf der Flucht sei. Die Regierung würde einfach ihren Schwall an neoliberalen Angriffe auf Arbeitsplätze, Bildung, Soziales und mühsam gewonnene und grundlegende demokratische Rechte aufgeben müssen.
Der „Kavalier“ selbst — der Ministerpräsident und reichste Mann in Italien — hat versucht zu sagen, dass er die Gewerkschaftsführers gern wieder um einen Tisch versammelt sähe. Manche seiner rechten Verbündeten in der Polo-Regierungskoalition bellen immer noch zusammen mit Vertretern der Mittelbetriebe in der Confindustria nach thatcheristischen Maßnahmen zur „Reform“ der Wirtschaft und der Abwälzung der Krise des kapitalistischen Systems auf die Arbeiterklasse von Italien. Auf der anderen Seite gint es die großen Unternehmer wie Agnelli von Fiat und andere, die jeden weiteren „Gesellschaftskonflikt“ fürchten.
Dieser ungeheure Kampf, der immer noch grundlegend zwischen der Arbeiterklasse auf der einen Seite und einer halsstarrigen Regierung der Reichen auf der anderen Seite stattfindet, muss weitergehen. Er hat die Studierenden und jungen Arbeitslosen hineingezogen, die wütend auf die Ungerechtigkeit im Weltmaßstab ebenso wie in Italien sind. Er hat auch die meisten Schichten der Mittelschicht auf der Seite der Gewerkschaften hineingezogen, nicht zuletzt wegen der Fragen der Medienfreiheit und Manipulation das Gesetzes und der Gerichte durch den Ministerpräsidenten selbst.
Die unerfüllten Versprechen der Regierung haben sie Unterstützung selbst unter denen verlieren lassen, die ihre Parteien ursprünglich gewählt hatten. Umfragen zeigen ein Einbrechen der Unterstützung. Die herrschende Klasse ist unklar, ob sie mit Zugeständnissen oder Unterdrückung weitermachen soll und die Diebe der Regierung der Bosse geraten sich ständig unter einander in die Haare. Die Saat einer vorrevolutionären Lage ist im umgepflügten Boden von Italiens gegenwärtiger Krise vorhanden.
Manche haben von Szenen und Stimmungen gesprochen, die sie seit 1969 nicht erlebt haben. Giorgio Cremaschi, der nationale Sekretär der kämpferischen Metallarbeitersektion der CGIL sagte in Neapel: „Dies ist ein außerordentlicher Kampftag. Die Industriezone von Pomigliano war leer wie nur 1969“ (Liberazione 17. April 2002). Der letzte achtstündige Generalstreik war 1982, als die gleitende Lohnskala (die „scala mobile“) von der Spadolini-Regierung angegriffen wurde.
1994 führten ein vierstündiger Generalstreik und Massendemonstrationen ein schnelles Ende der ersten Berlusconi-Regierung herbei. Heute gibt es trotz der beispiellosen 3-Millionen-starken Demonstration in Rom am 23. März und diesem historischen Generalstreik viele ItalienerInnen, die immer noch kein Vertrauen haben, dass sie die Regierung los werden können.
Die Führer der großen Dachverbände versichern weiterhin der herrschenden Klasse, dass sie keine Absicht haben, den Sturz des „demokratisch gewählten“ Medien- und Firmenzaren-Ministerpräsidenten zu versuchen. Die Regierung hofft weiterhin, die gemäßigteren CISL und UIL von der CGIL abzuspalten, aber alle drei beharren, dass es keine Änderung in den Schutzrechten des Artikel 18 im Arbeitsgesetz gebe. Die CGIL hat weitere Forderungen bezüglich der Verteidigung von Sozialleistungen, Renten etc. hinzugefügt und die jungen Leute auf den Demonstrationen haben ihre Proteste gegen die Regierung mit ihrer Wut auf die US- und israelische Regierung wegen ihrer mörderischen Politik in Afghanistan und Palästina verbunden.

Das System herausfordern

Die Basisgewerkschaften — Cobas, CUB, RdB etc. — und linke Organisationen wie Rifondazione Communista sind in der Frage des Artikel 18 in die Offensive gegangen und fordern, er solle ausgedehnt werden, so dass er für alle ArbeiterInnen gilt, nicht nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten. An vielen Orten liefen die Basisgewerkschaften getrennt von den „Dachverbänden“, aber an manchen Orten vereinigten sie sich in ein Meer von gemeinsamem Protest. In Neapel, wo mehr als 200.000 auf der Straße waren, gab es eine kleine Gruppe von unglücklichen Akademikern, die klären wollten, wo sie sein sollten, da sie ein bißchen „CGILer“ und ein bißchen „Cobasler“ waren. Schließlich traten die Ströme der zwei Demonstrationen über ihre Ufer und vereinigten sich zu einer riesigen Flut des Protestes. Das Dilemma dieser Leute zwischen den Stühlen wurde gelöst und sie gingen so froh heim wie jeder andere Demonstrant!
Es wird lange dauern, bis die Euphorie solch eines Festtags schal wird. Selbst in Mailand, wo es zwei Tage später ein schreckliches Flugzeugunglück gab, wird niemand, der auf der Demonstration war, sie je vergessen. Zuerst fürchteten viele einen terroristischen Anschlag und dass er sofort von der Regierung genutzt werden würde, um die Streikbewegung aufzuhalten, gerade wo der Sieg sicher zu sein schien. Viele erinnern sich an die „bleiernen Jahre“ in Italien, die den Massenbewegungen und Streiks der späten sechziger und frühen siebziger folgten.
Aber wo die Bewegung noch auf dem Gipfel ist, ist eine klare Führung erforderlich, die die Wut und Energie von Italiens ArbeiterInnen, Arbeitslosen, RentnerInnen und jungen Leuten in eine Herausforderung der Berlusconi-Regierung und des Systems des Kapitalismus führt, das sie verteidigt. Wenn die Regierung nicht nachgibt, wird es weitere, längere Streikaktionen geben müssen. Aber selbst wenn sie Zugeständnisse macht, wird die italienische Arbeiterklasse eine Rückkehr der Offensive von Seiten von Berlusconi und seinen Ministern sehen.
Wenn er oder seine Regierung ersetzt werden und eine Mitte-links-Regierung an die Macht kommt, werden riesige Hoffnungen und Illusionen in sie gesetzt werden, trotz der arbeiterfeindlichen Politik des letzten „Olivenbaum“-Bündnisses. Eine neue Version würde eine von der Bewegung wiederbelebte und nach links gestoßene DS (Linksdemokraten) umfassen. Es wird weithin erwartet, dass sie unter der Führung von Sergio Cofferati wäre, dessen Amtszeit als Chef der CGIL sich dem Ende nähert. Solch eine Regierung würde zweifellos versuchen, wirkliche Reformen einzuführen, die den Leuten helfen, die gegenwärtig am Kampf gegen Berlusconi und seine Günstlinge teilnehmen. Riesige Hoffnungen würden in sie gesetzt werden, aber sie würde sich wie vorher nicht auf ein Programm zur Beendigung des Kapitalismus stützen. Sie müsste sich früher oder später den Diktaten des kapitalistischen Systems beugen und Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben, Privatisierung etc. einführen, so wie es Blair und Jospin schon in Britannien und Frankreich gemacht haben.

Sozialistische Alternative

Am großen Streiktag des 16. April nahmen Mitglieder des Committee for a Workers’ International (CWI, Komitee für eine Arbeiterinternationale) aus sieben verschiedenen Ländern an Demonstrationen in sechs Städten in ganz Italien teil. Sie hatten den Vorzug, aus erster Hand die Macht der Massenbewegung zu erleben, die gegenwärtig auf der ganzen Welt ArbeiterInnen begeistert kapitalistische Regierungen ängstigt.
In Florenz, Mailand, Genua, Rom, Neapel und Bologna wurden Tausende Exemplare eines Flugblatts verteilt, das von GenossInnen von Lotta per il Socialismo (Kampf für den Sozialismus) gemacht wurde. Es griff die Forderungen der Bewegung auf, den Artikel 18 auszudehnen und wies die Idee zurück, dass vorgeschlagene Arbeitslosengeldregelungen irgendwie ein Ausgleich für Pfuschen am Arbeitsgesetz sein könne. Es forderte auch die Führer der Bewegung auf, den Kampf durch die Organisierung weiterer Streiks zu steigern, notfalls einen zweitägigen Streik. Es scheint jetzt, dass die drei Haupt-Gewerkschaftsdachverbandsführer vielleicht für ein Programm reihum gehender Streiks im Mai eintreten könnten. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Taktik den vollen Schwung der Bewegung aufrecht erhalten könnte, selbst wenn sie in den Großbetrieben im Herz der italienischen Wirtschaft angewandt würde. Es würde auch die 13 Millionen nicht weiter am Kampf teilnehmen lassen, die am achtstündigen Streik so zuverlässig teilgenommen haben.
Die GenossInnen des CWI/Lotta per il Socialismo traten dafür ein, den Kampf auf die politische Ebene zu tragen — für ein Ende des Berlusconi-Regimes, aber auch der Herrschaft der Großkonzerne und Banken in der Wirtschaft zu kämpfen. Eine sozialistische Alternative — öffentliches Eigentum und demokratische Planung — wären der einzige Weg, die mit dem Kapitalismus verbundenen beständigen Probleme zu beseitigen, die er dauernd, arbeitenden Menschen, RentnerInnen, jungen Menschen, Kranken, ImmigrantInnen und Arbeitslosen bereitet.
Die historischen Ereignisse der jüngsten Periode in Italien haben die Notwendigkeit des Aufbaus einer Massenpartei scharf gestellt, die für eine Regierung der ArbeiterInnen, jungen Menschen und Armen und für die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus kämpft. Die italienische Arbeiterklasse gibt allen ein Beispiel. Möge sie die Aufgabe des Sieges über die verhasste Berlusconi-Regierung vollenden und den Weg zum Sieg über alle Feinde der Arbeiterklasse eröffnen — in Italien und international.